Die Zukunft – anno 2049
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DIE ZUKUNFT – ANNO 2049 |
„Es geht immer weiter, immer weiter …“ – Oliver Kahn
Weiter geht die Entwicklung des Fußballs, und mehr und mehr verändern sich die Machtverhältnisse in diesem Sport. Wir befinden uns im Jahr 2049 kurz vor den großen Feierlichkeiten zum 10. Weltpokalsieg in Cupstadt.
Africup (so wurde der Kontinent nach dem allerersten und denkwürdigsten Erfolg 2039 auf einen neuen Namen getauft) hat nun schon zum zehnten Mal in Folge die fußballerische Weltherrschaft untermauert. Aber dieses Mal war es keine Demonstration der Übermacht, wie in den Jahren zuvor, sondern ein äußerst knappes 6:4 gegen eine Touropa-Auswahl, die erstmals seit 26 Jahren wieder im Finale stand.
6:4 steht übrigens nicht für die Anzahl der gefallenen Tore, 6:4 bedeutet, dass Africup sechs Zehntel Abschnitte für sich entscheiden konnte. Jeder Abschnitt dauert fünf intensive Minuten, danach gibt es eine halbe Stunde Pause. Nach fünf Abschnitten ist eine Rekonvaleszenzzeit von zwei Stunden eingeplant, sodass sich ein Spiel über den ganzen Tag hinzieht. Die fünf Minuten sind absolute Nettospielzeit. Deshalb setzen sich beide Teams schon ein bis zwei Minuten vor dem jeweiligen Anpfiff in Spielbewegung, um gleich von der ersten Sekunde an auf Betriebstemperatur zu laufen. Darin liegt eine der Stärken des Teams Africup.
Touropa hingegen arbeitet nach einem anderen Erfolgsmodell. Hier versucht man, den Ball nicht flach zu halten, sondern sucht einzig und allein Mitspieler, die deutlich über zwei Meter groß sind, um vor allen Dingen Vorteile im Luftkampf zu generieren. Drei Spieler dieser Mannschaft stammen vom FC Bayern Germania, wo schon in der frühen Jugend die Aktiven mit speziellen Nahrungsergänzungsmitteln auf Höhenwachstum gezüchtet werden.
Im Schnitt fallen sechs Treffer pro Spielsequenz. Um mehr Erfolgserlebnisse feiern zu können, und damit den Getränkeumsatz drastisch in die Höhe zu treiben, hatte man die Tore zwischenzeitlich in der Breite nahezu verdreifacht, auf 21 m, und in der Höhe fast verdoppelt, auf 4,5 m. Doch die Inflation von Treffern führte schnell zu Langeweile, sodass die Tore heute nur noch 2 Meter breit und 3,5 Meter hoch sind.
Außerdem hatte man eine Zeit lang auch das Abseits gänzlich abgeschafft, was wiederum dazu führte, dass einige Spieler einfach vor dem gegnerischen Tor stehen blieben und auf verwertbare Bälle warteten. Diese Akteure konnten sich kaum bewegen, so groß waren sie. Da sie ihre Bemühungen auf den Versuch beschränkten, Kopfballtreffer zu erzielen, wurde das ganze Spiel doch mehr zu einer statischen, eintönigen Angelegenheit mit langen Bällen und kaum zu verhindernden Toren. Und die Mannschaft mit dem größten Mittelstürmer stand in der Regel als Sieger fest.
Heutzutage gibt es deshalb längst wieder die Abseitsposition, allerdings nur innerhalb eines 16-m-Korridors parallel zur Grundlinie vor dem Tor. Und die Tore sind wegen der hohen Qualität des Spiels und der Akteure sowie deren Flexibilität und Beweglichkeit nur noch 2 m breit und 3,5 m hoch. Nicht wenige meinen, noch immer viel zu hoch, zumal der Ball aus mittelhartem Vollgummi besteht und nur noch 15 cm Durchmesser hat.
Jedem Spieler ist jeweils maximal eine Ballberührung erlaubt, bevor ein anderer an das Spielgerät gelangt. Danach dürfen höchstens noch zwei weitere Mitspieler eingreifen. Daraus ergibt sich ein unglaublich schnelles, ausschließlich direktes Spiel. Ist der Spielfluss einmal unterbrochen, wird sofort abgepfiffen, die Zeit angehalten und der gegnerischen Mannschaft der Ball zugesprochen. Nur bei den absoluten Weltklasseteams, von denen es keine fünf gibt, kommt auf diese Weise eine richtig ansehnliche Partie zustande – mit unglaublichen akrobatischen Einlagen und allerhöchstem Tempo. Alle anderen Mannschaften dürfen sich je nach Spielklasse mehr Ballkontakte und weniger direktes Spiel erlauben. Das geht hinunter bis in die U 60, das steht für sechzigste Unterklasse, wo der Fußball doch mehr der anachronistischen Spielweise der Jahrtausendwende ähnelt.
Nach fünf gespielten Minuten sind die Protagonisten zwar längst nicht aus der Puste, trotzdem sind die 30 Minuten Pause vom Wirtschaftsministerium, das für den Sport zuständig ist, bindend vorgeschrieben. In dieser Zeit nimmt der Staat Geld ein, denn er hat das Bier- und Wurstmonopol. Die Vereine dagegen betreiben die Toilettenhäuschen und verdienen sich so ein wenig nebenher.
Haupteinnahmequelle ist die Energieerzeugung durch die Spieler während der Partie. Jede Bewegung schafft Energie und die wird über den hauchdünnen Ganzkörperanzug – ausgestattet mit tausenden winzig kleinen Akku-Chips – gespeichert und später verkauft.
Fernsehrechte sind längst abgeschafft. Stattdessen kann sich jeder, der daheim geblieben ist, selbst das Bild von einer der insgesamt 80 installierten Dauerkameras in seinen virtuellen Visionsraum holen, muss aber pro Partie mindestens eine Pause lang aktiv mitkonsumieren, bevor er sich einem anderen Programmangebot zuwenden oder völlig abschalten kann. Letzteres wiederum ist auch nur dann erlaubt, wenn die Mannschaft seines Kontinents oder – bei subkontinentalen Wettbewerben – seines Landesverbandes nicht in Führung liegt. Das sind Grundgesetze, die nicht aus nationalistischen Erwägungen heraus konzipiert wurden, sondern allein aus wirtschaftlichen, denn so kann das bessere Team sein Bruttokontinentprodukt allein mit einem einzigen Weltpokalsieg deutlich gegenüber den Nicht-Fußballzonen steigern.
Africup schöpft die sich aus dem Fußball ergebenden ökonomischen Möglichkeiten mittlerweile perfekt aus. Nach jedem großen Erfolg sind alle, die nicht zur Arbeit müssen, für zwei Tage zum Konsum gezwungen. Daraus resultierte ein exponentieller Vorteil für Africup, den allein Touropa fast egalisiert hat, möglich gemacht durch Übernahme der Fußballgesetze und deren schrittweise Ausdehnung auf die U-Klassen. Ziel ist es, dass in weniger als zehn Jahren alle Bürger mindestens zwei Tage pro Woche Fußball spielen und zwei Tage Fußball konsumieren.
Wenn das gelingt, ist der Garten Eden nicht mehr weit … oder???
NACHWORT
Es wird Zeit, „Danke“ zu sagen – an
diejenigen, die das Spiel erfunden haben und ohne die dieses Buch
niemals geschrieben worden wäre.
Danke an England, das als das Mutterland des Fußballs gilt? Wohl
kaum, hat doch anno 1350 König Eduard III. eine frühe Form des
Spiels verboten, weil es angeblich vom Bogenschießen und anderen
Kriegskünsten ablenke. Vielleicht muss man eher den Chinesen
danken, die bereits im 2. Jahrtausend v. Chr. ein ähnliches Spiel
namens Ts’uh-küh kannten? Aber wer wollte bezweifeln, dass nicht
schon der Homo Sapiens den einen oder anderen Stein mit dem Fuß in
die Höhle des Nachbarn geschossen hat?
Also danke ich meinen Eltern, dass sie mir einen Ball in die Wiege
legten (wie Bilder beweisen). Ich danke meiner Frau, dass sie immer
zum Doppelpass bereit ist, meinen Kindern, dass sie meistens den
Ball flach halten, den Jokern Roger Willemsen, Ulf Harten und Rudi
Kargus, dass sie sofort mitgespielt haben, und den einsatzfreudigen
Sportkameraden von Langenscheidt für ihren Offensivgeist und dass
sie auch dahin gegangen sind, wo es wehtut.
Und ich danke Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, dass Sie sich auf dieses Spiel eingelassen haben. In der Hoffnung auf viele weitere Begegnungen
Ihr Gerhard Delling