ZWÖLF

 

 

Zoë ist in der Lage, auf sich selbst aufzupassen

Im Laufe der Nacht musste Quent sich immer wieder daran erinnern. Er und Marley waren, wie Zoë angeordnet hatte, durch den geheimen Ausgang aus der Schmiede entkommen und waren so leise wie möglich in dem dunklen Humvee davongefahren. 

Sie tut das schon seit Jahren. 

Trotzdem, dort wegzufahren, sie zurückzulassen, um Marley – und seine Chance, Fielding zu finden – zu retten, war das Schwerste, was er je getan hatte. Er hätte es auch niemals getan, wenn Fang da am Ausgang nicht Wache gestanden hätte. 

Der Wolfshund hatte nicht die Absicht Quent vorbeizulassen. Er versuchte es mit dem „ruhig“ Kommando, aber sobald er einen Schritt vorwärts machte, wurden die Zähne wieder entblößt und das Tier stellte sich ihm in den Weg. Mit den zotteligen, aufgestellten Nackenhaaren und seinen Ohren spitz nach vorne, machte Fang sehr deutlich, dass er hier keinen Rückzieher machen würde. 

Verdammter Bockmist. Sie hatte wirklich dafür gesorgt, dass er ihr nicht folgte. 

Jetzt ging die Sonne im Osten auf. Er war ohne Licht gefahren, langsam und vorsichtig, hatte sich wo immer nur möglich hinter Gebäuden versteckt, war schneller gefahren, wo es nichts zu geben schien außer Bäumen und ein paar kleinen Erdhügeln auf dem Weg. Einmal waren sie einer Gruppe von Ganga begegnet, die „üüü-vaiine“ und „truuu-uuuth“ stöhnten, und Quent hatte die Monster mit dem Truck niedergemäht. Zu wissen, dass Zoë seine Plattmacherfahrt durch die grauhäutigen Monster mit den verrotteten Gesichtern gutheißen würde, wenn auch widerwillig, hob seine gedrückte Stimmung wieder etwas. 

Jetzt, da es schon Morgen war und die Gefahr der orange-äugigen Zombies vorüber war, wollte Quent umdrehen und zurückfahren, um zu schauen, ob Zoë zu ihrem kleinen Zuhause zurückgekehrt war. Aber das würde nichts dazu beitragen, Marley in Sicherheit und sie nach Envy zu bringen. Wenn die anderen dort hinten auf sie warteten, weil sie irgendwie erfahren hatte, dass ihre Beute weg war, dann wären er und Marley im Arsch. 

Zoë weiß, was sie tut. Sie wird in Sicherheit sein. 

Und wenn er nicht nach Envy fuhr, wäre sie nie in der Lage ihn zu finden. Er hatte ihr gesagt, wo sie ihn treffen sollte. Sie würde kommen. Und wenn es nur war, um zu lernen, wie man eine Flaschenbombe baut. 

Also fuhr er weiter. Nicht gerne, aber überzeugt, das wäre die beste Entscheidung. Sie waren ohne Essen oder Wasser aufgebrochen, außer dem bisschen, was noch in seiner Tasche war. Angesichts ihres derzeitigen Tempos nahm er an, es würde noch ein guter Teil des Tages vergehen, bevor sie bei der befestigten Stadt ankamen. Außer sie mussten noch Halt machen, um nach Nahrung zu suchen. Aber Marley wollte, dass er einfach weiterfuhr. 

„Ich fühle mich wie auf dem Präsentierteller“, sagte sie, während sie sich umschaute und dann runter auf ihr sehr enganliegendes Trägerhemd blickte. „Besonders wenn ich so aussehe.“ 

Er hob die Augenbrauen und warf anerkennend lüsterne Blicke in ihre Richtung. „Ich beklage mich nicht.“ 

„Noch so eine pflichtschuldige Reaktion“, sagte Marley, während sie sich in ihrem Sitz zurücklehnte. „Du bist ganz schön scharf auf sie, nicht wahr?“ 

Er nickte kurz, seine Aufmerksamkeit war auf das Terrain vor ihnen gerichtet. Marley öffnete den Mund, um wieder etwas zu sagen, wahrscheinlich um das Thema breitzutreten, und er riss das Lenkrad etwas heftiger herum als nötig, um einem großen Metallklumpen auszuweichen, der einmal vielleicht ein Zugwaggon gewesen war. Sie quietschte überrascht auf und warf ihm einen finsteren Blick zu, aber schien zu akzeptieren, dass das Thema damit abgeschlossen war. 

Eine Stunde später zeigte er auf die etwas heruntergekommene Skyline von Envy. „Da ist es. Alles, was von Vegas übrig ist.“ 

Er versteckte den Humvee wieder in der alten Garage und nahm Marley durch einen geheimen Tunnel mit, dessen Eingang man an einem alten Wendy’s Schild erkannte. Während sie durch einen alten Güterwaggon und durch verrostete Autos und anderen Schrott krochen, führte er die Expedition an, eine Hand sicher verpackt in einem Handschuh und die andere nackt und frei, um alles anfassen zu können. Ein weiteres Experiment von ihm, bei dem er die Grenzen seiner Kontrolle und die Stärke der Erinnerungen testen wollte. 

Quent musste unversehens die Zähne zusammenbeißen, als ein dunkles Bild ihn wie eine Flutwelle zu plätten drohte, aber indem er sich konzentrierte und seinen Verstand unter Kontrolle hielt, konnte er dem ausweichen. Ja. Vielleicht war es ihm ja tatsächlich möglich, seinem Fluch ein Schnippchen zu schlagen. 

Das Erste, was er tat, als sie in Envy ankamen, war Marley auf sein Zimmer mitzunehmen. Das Zweite war Lou ausfindig zu machen und ihn hier rauf zu bringen, um sie zu treffen. 

„Die erste Fremde, die ich treffe“, sagte Lou. Er rückte seine Brille zurecht, als er sie betrachtete. Seine Augen blieben vielleicht ein bisschen länger als absolut erforderlich an ihrem engen Trägerhemd hängen. 

„Sie verwenden üblicherweise den Ausdruck Elite“, sagte Marley. „Nur so als Anmerkung.“ 

„Du kommst mir bekannt vor“, erwiderte Lou und zerrte seinen Blick nach oben, um sie anzuschauen. „Entschuldige.“ Er lächelte etwas verschämt. „Es ist eine Weile her, dass ich– uhm–“ 

„Ich denke, zuallererst muss ich mir neue Klamotten besorgen, die mir passen“, sagte Marley zu ihm. 

„Oh, ich habe auf deinen Kristall gestarrt, nicht auf deine sehr– ehm–“ 

Sie lachte und ließ sich auf das Bett sinken. „Du sagst, ich komme dir bekannt vor? Ich bin die Tochter von Brandon Huvane. Wenn du je die Klatschspalten oder die Society News gelesen hast, dann hast du wahrscheinlich mindestens einen Schnappschuss gesehen.“ 

„Da gab es das eine Mal, wo sie dich oben ohne in Costa Rica erwischt haben“, warf Quent ein. „Jeder hat das Bild gesehen. Gleich nachdem du dir die Tätowierung auf der linken–“ 

„Okay“, unterbrach ihn Marley. „Wie wäre es, wenn wir über etwas anderes als meine Brüste reden, hmm? Ich weiß, dass sie für ihre achtzig Jahre hübsch und knackig aussehen. Aber dennoch.“ 

„Entschuldige“, sagte Lou noch einmal. „Du wirst Quent also helfen nach Mekka reinzukommen und seinen Vater zu finden?“ 

Sie schürzte die Lippen, zog sie nach innen. „Wenn er wirklich sein Leben riskieren will, werde ich ihm alles erzählen, was ich weiß. Aber ich halte das für keine gute Idee. Du kannst Fielding nicht töten.“ Letzteres richtete sich an Quent. „Es ist fast unmöglich, einen Elite zu töten. Schon allein nahe genug heranzukommen, um es zu versuchen. Gibt es keinen anderen Weg, dich an ihm zu rächen?“ 

„Es ist nicht unmöglich, einen Elite zu töten. Simon hat einen getötet und auch Elliotts Freundin Jade. Du musst mich da nur einschleusen, mich nahe genug ran bekommen – und ich werde mich um Fielding kümmern. Ich werde auch das Überraschungsmoment auf meiner Seite haben.“ 

„Sie haben zwei Elite getötet?“ Marley schien hinreichend schockiert. „Wie?“ 

„Sie haben ihnen die Kristalle rausgehackt. Es gibt wahrscheinlich einen hübscheren Weg, um das gleiche Ergebnis zu erzielen, aber den habe ich noch nicht entdeckt.“ Es war Quent nicht entgangen, dass ihre Finger sich hierbei um ihren eigenen Kristall geschlossen hatten. „Auch eine gute Idee –  Klamotten zu finden, die das da verbergen.“ 

„Was ist passiert, als der Kristall rausgeschnitten worden war?“, fragte sie mit einer leisen Stimme. 

Quent begriff da, was er gerade erzählte, und milderte den Schlag etwas ab. „Sie haben eine Art Dorian Gray Nummer abgezogen – sind einfach verschrumpelt.“ 

„Und dann gestorben.“ 

Er nickte. Fügte dann hinzu, „du bist hier bei uns sicher, Marley. Elliott geht nirgendwo hin und Lou ebenso wenig.“ 

„Ich freue mich auch auf die Gelegenheit mit dir zu reden, Marley“, unterbrach Lou. „Ich bin sicher, du hast Informationen, die uns bei unseren Bemühungen helfen werden.“ 

Genau da klopfte es an der Tür. Quent öffnete, um Fence, Elliott und Theo hereinzulassen. Sie waren verständlicherweise fasziniert von der Anwesenheit einer ungefährlichen Fremden, die befragt werden konnte – ganz zu schweigen von der ansprechenden Verpackung, in der diese hier geliefert wurde. Das enthusiastische Grinsen von Fence verriet alles. 

Quent rieb sich die Hände und hatte schließlich die Gelegenheit Marley an Fence zu übergeben, wo Elliott dann die Rolle der Anstandsdame übernahm und auch versprach, sie zu Jade zu bringen, wo man ihr angemessene Kleidung beschaffen würde. Er wollte sie alle zur Hölle nochmal aus seinem Zimmer fort haben, für den Fall, dass Zoë auftauchte. 

Und wenn sie das nicht tat, dann würde er morgen beim ersten Tageslicht aufbrechen, um zurückzufahren und nach ihr zu sehen. 

In der Nacht schlief er schlecht. Trotz der Tatsache, dass er seit dem gestrigen Morgen in der Kirche mit Zoë nicht mehr geschlafen hatte. Träume schlängelten sich durch seinen Kopf, Träume von Kristallen und Flammen, von Fielding und der Reitgerte, von Zoë und der brennenden Esse. 

Und als er aufwachte und es schon Morgen war, fand er sich alleine im Bett wieder, unruhig zwischen Laken und seinen nächtlichen Gedanken. 

Kurz darauf ließen er und Jade die Stadtmauern von Envy hinter sich. Die Sonne stand immer noch tief über dem Horizont, es war gerade mal die Hälfte der Kugel zu sehen. 

„Danke für deine Hilfe“, sagte er zu Jade, als sie nach einem der wilden Mustangs pfiff. Sie konnte gut mit Pferden und Quent war zu ihr gegangen, um Hilfe zu haben, sich ein Reitpferd zu besorgen, und um zu fragen, ob sie sich um seine Freundin kümmern würde, solange er weg war. „Marley geht es gut?“ 

„Sie hat neue Klamotten und hat bei Flo gestern in einem bequemen Bett geschlafen. Wir haben das Wasser im Badezimmer ein bisschen laufen lassen, so dass sie ihre Kraft auch weiter aufbauen konnte“, antwortete Jade. Sie lächelte, als ein falber Mustang mit schwarzer Mähne und Schweif herantrabte. „Kommst du ohne Sattel klar?“ 

„Das werde ich wohl müssen“, sagte Quent. Als er in England aufwuchs, hatte er Polo gespielt – eine weitere gute Entschuldigung für Schrammen und blaue Flecken, also war er darin von seinem Vater unterstützt worden – und war auf seinen anderen Reisen auch durch den Dschungel und steile Berge hoch geritten, aber das war immer mit Sattel und Zaumzeug gewesen. „Ich werde so schneller sein als mit dem Truck.“ 

Sie nickte. „Das stimmt. Und wo gehst du nochmal hin? Elliott wird mich fragen.“ 

Dred war zur Krankenstation gerufen worden. Also war er nicht da gewesen, als Quent an ihrer Tür geklopft und Jade aufgeweckt hatte. „Ich gehe dahin zurück, wo Marley und ich gestern waren.“ 

„Mit Zoë?“ 

Er presste die Lippen zusammen. Marley. Die blöde Petze konnte ihr verdammtes Mundwerk nicht halten. „Ich will sicher gehen, dass bei ihr alles okay ist.“ 

„Ich glaube nicht, dass du alleine losziehen solltest, Quent. Mit deiner ... Fähigkeit. Was passiert, wenn du etwas anfasst und dich verlierst?“ Jades dunkelrotes Haar leuchtete in der frühen Morgensonne noch mehr als sonst. „Wir würden dich nie finden.“ 

Warum dachte jedes dumme Weibsbild, er wäre völlig unfähig? Zuerst Zoë, dann Marley und jetzt Jade? Das wäre damals niemals passiert, als man ihn noch als Quentin Brummel Fielding III kannte – diese Besserwisserei, dieses Bemuttern. Damals wollten sie alle von ihm natürlich nur teure Geschenke und das Prestige. 

Er biss die Zähne zusammen. „Ich habe die hier.“ Er zog die Handschuhe aus seiner Hosentasche. „Ich werde sie nicht abnehmen.“ Er zog sie etwas hastiger an als notwendig. 

„Wyatt würde mit dir mitgehen. Oder Fence.“ 

„Ich werde okay sein. Ich bin morgen Abend zurück, allerspätestens. Und bis dahin hat Marley hoffentlich mit Lou und Theo zusammen erarbeiten können, wo Mekka ist.“ Er hatte die ganze Zeit das Pferd gestreichelt und nachdem er ihm einen Apfel und ein paar Karotten angeboten hatte, griff er sich einen Büschel von der Mähne. „Danke für deine Hilfe, Jade.“ 

„Sei vorsichtig, Quent.“ Sie schaute mit besorgten, grünen Augen zu ihm hoch. „Elliott wird nicht sehr glücklich darüber sein, dass ich dich alleine losziehen lasse.“ 

Er lächelte zu ihr hinunter. „Ich bin sicher, dir fällt etwas ein, wie du es ihm versüßen kannst.“ Und er trieb das Pferd zu einem leichten Trab an. Kleine Klumpen Gras flogen auf, als er losritt. 

Dreißig Stunden später glitt Quent von dem gleichen Mustang an der gleichen Stelle runter, wo er zuvor aufgesessen war. Erschöpft, Kummer im Herzen und mit viel aufgestauter Wut, die mit der Angst um die Vorherrschaft in ihm kämpfte. 

Er gab dem Pferd das letzte bisschen Karotten – in Zoës kleinem Garten geerntet – und schlug ihm leicht mit der flachen Hand auf die Kruppe. Während der Mustang zu seiner Herde zurücktrabte, drehte Quent sich um und lief zurück nach Envy. 

Er betrat die Stadt wieder durch die Stadttore und ging sofort auf sein Zimmer. Das Herz hämmerte ihm mit dem letzten bisschen Hoffnung, als er die Tür öffnete und hineinging. Hielt den Atem an. 

Und fühlte nichts als Einsamkeit. 

Das Zimmer war leer. 

Er warf seinen Sack von den Schultern ab und schaltete die Lampe ein, dann streifte er sich die Handschuhe ab. 

Und dann sah er es. Auf dem Bett.

Die Haut kribbelte ihm, als er dorthin lief. Es war kein Pfeil, wie er zuerst vermutet hatte. Es war länger und dicker. Von etwa drei Meter Länge war die Metallstange etwas dicker als der Gehstock eines alten Mannes, vielleicht etwas dicker. Aber die Spitze war anders. 

Neugierig – und voller Hoffnung – hob er es hoch. Und sofort spürte er Zoë. 

Diese Emotion packte ihn, schüttelte ihn, die Vertrautheit raubte ihm den Verstand und er fühlte, wie er auf das Bett sank. Aber er ließ sich nicht ganz gehen. So sehr er sich da auch hineinfallen lassen wollte, er zwang sich an etwas anderes zu denken. 

Wenn er sich hier beherrschen konnte, wo er wirklich loslassen wollte ... dann, so glaubte er, würde er es egal wo schaffen. Er kämpfte einen Augenblick lang. Das Verlangen saß so tief. Zoë schwirrte an den Rändern seines Bewusstseins herum, ihre Hände, ihre starken Arme. Ihr Mund, angespannt vor lauter Konzentration. Hitze. Und als er zuversichtlich war, dass er es schaffen konnte, hob Quent die Hand von der Waffe weg. Sein Verstand wurde wieder klar. Dann nahm er die Waffe erneut in die Hand und schaute sie sich genau an. 

Ohne sich zu gestatten da hineinzufallen – er würde sich das für den Moment aufheben, wenn er mit seiner Untersuchung hier fertig war, herausgefunden hatte, wie die Waffe funktionierte –, untersuchte er das Objekt aus Metall. An einem Ende befanden sich krallenähnliche Blütenblätter und dann waren da zwei kleinere Stangen, kleiner als der kleine Finger einer Frau, die sich an dem großen entlang streckten. Quent betrachtete es, drehte und wendete es, wobei er sich die ganze Zeit über dieses leisen Kitzels da bewusst war – und dann hatte er es kapiert. 

Er hatte so einen Gegenstand schon mal gesehen, vor vielen, vielen Jahren. Als er noch jung war und auf dem Brummell Landsitz lebte. Einer der Gärtner hatte ein Werkzeug wie das hier gehabt. Er hatte es in den Boden gestoßen, an einem Hebel gezogen und die Krallen schlossen sich um ein Unkraut und seine Wurzeln. Was es möglich machte, das dann leicht und endgültig aus der Erde zu ziehen. Löwenzahn. Fingerhirse oder Wegwarte. 

Oder einen Kristall. 

Quent balancierte die Waffe in seiner Hand. Fest, aber nicht zu schwer. Er hielt sie wie einen Speer und stieß sie zur Probe in ein Kissen hinein. Die Kraft in seinem Wurf brachte die Krallen dazu, sich mit einem metallenen Klick zu schließen, und er zog wieder daran. Ein unregelmäßiger Kreis aus dem Kissen kam mit. Exakt und wirkungsvoll. 

Oh, Zoë. 

Er legte sich wieder auf das Bett, während er die Waffe hielt und lächelte. Wusste, dass sie in Sicherheit war. Wusste, dass sie an ihn gedacht hatte. Und er gestattete sich in den Platz hinein zu sinken, wo er sein wollte ... in ihre kräftigen Hände, in die orangene Hitze der Schmiede, in das Wissen, dass – auch wenn sie es abstritt – sie etwas für ihn empfand. 

Denn es strömte aus dem kalten Metall zu ihm, vermengt mit der explosiven Hitze der Esse, und dem Zwicken der Zange: Zuneigung, Begehren, Liebe. Einsamkeit und Angst. 

Mit der Eisenstange in den Armen schlief er ein. Lächelnd. 

 

.   .   .

 

Ian hob seine Hand mit einer Geste, die der Barmann sehr schnell erkannte. Wenige Augenblicke später tauchte ein weiteres, kleines Glas Whisky vor ihm auf dem zerschrammten Tresen auf und das leere entschwand. Ian legte einen Zehn-Dollar-Chip mit dem dicken Zeichen eines verschnörkelten B auf den Tresen. 

Er stand nicht besonders auf die verwahrloste, schmierige Bar, Madonna genannt, aber wenn ein Kerl einen Muntermacher brauchte – oder einen Absacker oder sich einfach alles aus dem Kopf blasen lassen wollte –, dann war etwas Praktisches gefragt. Da es außerhalb von Envy – und das war ein Ort, wohin er keinen Fuß setzen würde – nicht viele Optionen gab, musste Ian sich eben hiermit begnügen. Außerdem – so dachte er bei sich – würde der Alkohol alle Keime abtöten, die hier rumlungerten. Und hungrig war er auf keinen Fall. 

Die Kundschaft der Bar bestand aus Durchreisenden wie er selbst: Kopfgeldjäger, fahrende Plünderer und ab und an einen Farmer oder Rancher, der mutig genug war diesen dunklen, trüben Ort zu betreten. Es lag mitten im Nirgendwo und dieser ehemalige Güterwaggon, der immer noch auf rostigen Schienen stand, war recht bekannt unter all denen, die sich aus den sicheren Mauern um die kleinen, verstreuten Siedlungen herauszukommen trauten. Es war auch ein Ort, der von der Elite für Treffen mit ihren Kopfgeldjägern benutzt wurde. Und Ian hatte den Verdacht, das war auch der Grund, warum es den Laden überhaupt noch gab. 

Zumindest mussten sie sich keine Sorgen um tödliche Keime in ihren Drinks machen, dachte er angesäuert. Etwas so Simples würde die Schweine nicht umbringen. 

Die einzige Frau hier war immer hinter dem Tresen. Ursprünglich hatte Ian angenommen, der Laden war nach ihr benannt worden. Obwohl ... mit diesen stacheligen Kampflesbenhaaren an ihrem Kinn und dem verblichenen, roten Turban, sah sie einer Madonna etwa so ähnlich wie eine Bulldogge. Heute trug sie ein trägerloses Lederoberteil, seitlich und hinten rum geschnürt, und Jeans. Wer auch immer das Schnüren übernommen hatte, hatte Schwerstarbeit geleistet, denn massige Fleischwülste schoben sich bleich durch die diamant-förmigen Öffnungen. 

Wie sich dann herausstellte, war die Bar nicht nach der Besitzerin getauft worden, sondern nach der Sängerin. Er hatte erst nach ein paar Besuchen bemerkt, dass alle diese Bilder da an der Wand von derselben Person waren und dass all die Musik, die gespielt wurde, von derselben Künstlerin stammte. 

Der Whisky schmeckte beim zweiten Mal genauso gut und Ian schloss die Augen, genoss die Wärme, wie sie ihm runter in den Magen lief. Er war gerade dabei, sich zu entspannen, als die Tür sich öffnete und sein Tag beschissen aus dem Ruder lief. 

Es hatte keinen Sinn zu versuchen in die Schatten hinein zu verschwinden, obwohl Ian sich schon dachte, wenn er unbemerkt bleiben wollte, saß er hier – am dunkelsten Ende der Bar – am richtigen Platz. Aber nein. 

Ihre Augen erspähten ihn sofort und sie spazierte gemächlich zu ihm rüber, ließ sich Zeit, so dass jeder Mann hier ihre lange, schlanke Figur bewundern konnte, insbesondere bei diesen hohen Absätzen. Die Jeans war so tief geschnitten, dass sie den Blick auf ihre Hüftknochen und die kleine Rundung ihres Bauches freigab, ein bisschen ausgebeult hinten, wo ihre Waffe drinsteckte, der Lauf der Pistole mit Absicht genau in ihrer Arschspalte. Zumindest sah das trägerlose, hochgeschnürte Top an Lacey so aus, als würde es da hingehören. Es ließ auch ganz klar den kleinen, leuchtenden Kristall sehen, der in ihrer Haut vergraben war. Laceys weißblondes Haar war auf ihrem Kopf zu einer ganzen Reihe Knoten geschnürt. Mit stacheligen Strähnen, die bei jedem davon abstanden. 

„Ian“, sagte sie, als sie sich auf den Stuhl neben ihm setzte und eine kleine Wolke von Moschusduft zu ihm rüberwehte. „Wo zum Teufel hast du gesteckt?“ 

Er nahm noch einen Schluck von seinem Whisky, genoss den Geschmack, bevor er ihn herunterschluckte. Er antwortete, indem er verächtlich die Lippen verzog. 

„Wo zum Teufel ist Marley Huvane?“, fragte Lacey laut. „Raul hat eine SMS geschrieben, dass ihr sie hättet, und dann höre ich nichts mehr von euch. Fielding wird diesen Bastard Seattle nach ihr ausschicken, sobald der wieder zurück ist – er jagt gerade den verdammten Ganga-Jäger, den mit den merkwürdigen Pfeilen. Wenn du Marley also bis dahin nicht zu fassen kriegst, sind wir aus dem Rennen. Und das ist ein Kopfgeld, bei dem der letzte Schwanz zu trällern anfangt.“ 

„Ich habe sie nicht.“ 

„Und Raul?“ Lacey lehnte sich näher zu ihm hin, stieß mit ihrem Bein gegen seins. Absichtlich. „Hat er sie noch? Ihr Wert liegt bei–“ 

„Raul ist tot.“ Er dehnte diese Worte. 

Lacey zuckte etwas überrascht zusammen, aber Schwäche zu zeigen war nicht ihre Art, also wurde es schnell überspielt. „Tot? Wie das denn?“ Er konnte geradezu hören, wie ihr Hirn abwog, arbeitete, Intrigen spann. 

Ian zuckte mit den Schultern, machte Zeichen für einen weiteren Whisky. „Ich habe ihn getötet.“ Und jetzt ver-scheiß-piss dich. 

„Das gibst du so offen zu?“, sagte Lacey, wobei sie ihre Stimme zum ersten Mal senkte. „Was zum Schwanz ist mit dir los? Fielding wartet nur auf eine Gelegenheit–“ 

„Fielding wird es egal sein, weil ich etwas entdeckt habe, was für ihn wesentlich wertvoller ist.“ Der Whisky kam und er kippte den zweiten mit einem letzten Schluck hinunter, wobei er feststellte, dass der bis dato noch nichts dazu beigetragen hatte, ihm die Sinne etwas abzustumpfen. Ganz besonders nicht seit dem Eintreffen von Lacey. Jetzt wo sie ihre Hand auf seinem Oberschenkel abgelegt hatte, als würde er ihr gehören. 

Dummerweise war das im Grunde der Fall. Dank Raul. 

„Was?“ 

„Seinen Sohn.“ 

Totaler Schock breitete sich auf Laceys Gesicht aus. Dann kam bei ihr ein gieriges Lächeln zum Vorschein, was wenig dazu beitrug, die Fuchs-artigen, spitzen Gesichtszüge der Frau zu mildern. „Nun, du verdammter Hurensohn, Ian. Du bist clever und hübsch. Ich liebe es, dass du immer wieder eine neue Überraschung aus dem Ärmel schüttelst.“ Sie drückte ihn. Durch den Jeansstoff hindurch. „Ich hätte es nie für möglich gehalten. Du bist sicher, dass er es ist?“ 

Er konzentrierte sich auf den Whisky und auf das winzige Bächlein aus Wärme, als er an dem dritten nuckelte. Das war der schlechte Teil am Tod von Raul. Es gab keinen Puffer mehr zwischen ihm und Lacey. „Ich habe sein verdammtes Foto oft genug gesehen“, erwiderte Ian. „Genau auf Fieldings Schreibtisch.“ 

„Wo ist er?“ Sie stupste weiter. 

„Ich verfolge seine Spur. Es dauert nicht mehr lang. Und da niemand anders von ihm weiß, rechne ich auch mit keinen Problemen.“ 

Lacey lächelte, ihre Lippen breit und rot. Männer fanden sie attraktiv, bis sie herausfanden, was unter der Oberfläche – in ihr drinnen – versteckt lag. Außer den Tentakeln des Kristalls. Ian hatte diesen Fehler begangen. Einmal. 

„Ich werde die Nachricht weitergeben. Fielding hätte nicht glücklicher sein können, wenn du gesagt hättest, du hast Remington Truth gefunden. Das ist so ziemlich die einzige Sache, die dir den Arsch retten wird. Vor seinem Zorn, weil du Raul getötet hast.“ 

„Ich bin mir sicher, dass er es so aufnehmen wird.“ Ian bleckte die Zähne – ein humorloses Lächeln – und nahm noch einen Schluck von dem Drink. Fielding hatte noch keine Ahnung, was er als Bezahlung verlangen würde. 

„Was auch immer du tust, lass dich nicht von Seattle einholen“, befahl sie ihm. „Hol dir Fielding, bevor dieser schwanzlutschende Schleimbeutel überhaupt herausfindet, dass er am Leben ist.“ 

Was, wie Ian wusste, im Klartext hieß: sie wollte nicht, dass der Kopfgeldjäger mächtig genug wurde, um Fielding davon zu überzeugen, ihn zu kristallieren. Das würde bedeuten, sie und Seattle wären auf der gleichen Stufe. Und das würde sie scheißdurchdrehen lassen. 

Genau da öffnete sich die Tür. 

Zuerst erkannte er sie nicht wieder. Aber die bloße Tatsache, dass da eine Frau im Eingang stand, erregte seine Aufmerksamkeit – und die von allen anderen. Und als er sie sich näher anschaute, fühlte er, wie seine Welt gerade kippte. Er war sich ziemlich verflucht sicher, dass es nicht am Whisky lag. 

Unmöglich. 

Ian schaute nochmal hin, als sie da in dem sonnigen Eingang stand. Groß, mit Kurven. Ja, langes, dunkles Haar. Nach hinten und oben frisiert. Aber ja. Unglaublich blaue Augen. Mmmmmm. Das unnahbare Gesicht einer Prinzessin – der Typ Frau, den Männer in ihren Träumen einfingen. Jep. 

„Wer zum Teufel ist das da?“, sagte Lacey, ihre Stimme hoch und angespannt. 

„Das“, sagte Ian, als er aufstand und sich gekonnt ihren Klauen entzog, „ist mein neuer Partner.“