ZWEI
„Du hast es schon wieder getan.“
Quent öffnete die Augen. Er hatte keinen Schimmer, wie lange es her war ... hatte er ein paar Stunden oder nur ein paar Minuten geschlafen ... aber es war ihm egal. Zoës Stimme, nicht ganz beherrscht, weil sie ohnehin selten redete, und auch – so hoffte er – vor Erregung und Lust, hörte er immer gern.
Weil das bedeutete, sie hatte sich nicht mitten in der Nacht auf die Socken gemacht.
Das Zimmer war dunkel bis auf den Schein einer kleinen Lampe, die er immer brennen ließ, wenn er ausging. Die Vorhänge waren so fest zugezogen, dass er nicht erkennen konnte, ob da am Rand der Vorhänge ein kleiner Streifen Tageslicht schimmerte oder nicht.
Sie lag neben ihm auf einen Ellbogen gestützt, ihre Brüste fielen leicht zur Matratze hin runter, die vorwitzigen Nippel und die zarten, weiblichen Kurven eine offene Einladung für ihn. Zoë und Quent berührten sich nicht, aber er konnte die Wärme ihres Körpers und eine ganz kleine Einbuchtung in der Matratze in Richtung ihres Gewichts spüren, so federleicht sie auch war.
„Korrekt“, sagte er und setzte sich halb auf, fuhr sich mit der Hand durch sein immer noch feuchtes Haar. Es hatte die Tendenz sich zu ringeln, wenn es nass wurde und dann von selbst trocknete, was ihn dann wie einen unordentlichen Teenager aussehen ließ, der dringend zum Frisör musste.
Es war nicht das erste Mal, dass Zoë die Tatsache erwähnt hatte, dass er sich immer aus ihr herauszog bevor er – oder, verflucht, in diesem Fall gerade als er – kam. Verdammter Mist. Quent war sich nicht sicher, wie man einer Frau erklärte, die in einer Zeit lebte, in der die menschliche Rasse fast ausgerottet worden war und in der es daher fast als kriminell galt, sich nicht so oft wie möglich fortzupflanzen – dass er aus einer Zeit stammte, in der ein verantwortungsvoller Mann keinen ungeschützten Sex mit einer Frau hatte, mit der er nicht verheiratet war ... und selbst da lag die Sache nicht ganz klar auf der Hand.
Und ganz ehrlich, es war etwas, über das er jetzt nicht reden wollte.
„Wirst du das weiter so machen?“, hakte sie nach.
Quent fühlte ein seltsames Unwohlsein durch sich hindurch rieseln, das die letzten Reste von Lust und Sättigung aus ihm saugte. „Wahrscheinlich.“ Er wollte hier verdammt noch mal null drüber reden.
Aber dann erinnerte er sich wieder an ihre letzte Unterhaltung zu eben dem Thema, wie er versuchte sie nicht zu schwängern, und alles kam mit Wucht zurück. Sie hatte irgendwas gesagt wie, Oh, darüber habe die anderen Male echt nie nachgedacht.
Die anderen Male.
Was für beschissene andere Male? Bevor sie mit diesen nächtlichen Besuchen angefangen hatte ... oder seitdem?
Und er war wieder total sauer und fügte hinzu, „zumindest weißt du, falls du schwanger wirst, dass es nicht von mir ist.“ Zumindest wahrscheinlich nicht.
„Jep“, sagte sie kurz darauf, als hätte sie drüber nachdenken müssen.
Quents Magen zog sich zusammen. Zeit das Thema zu wechseln. Zurück zu was anderem, womit er umgehen konnte.
Aber bevor er das tun konnte, war sie schon dabei. „Du hast mir nie dafür gedankt, dass ich dir geholfen habe deinen entführten Freund zu finden. Die Corrigan Frau.“ Sie sah ihn von der Seite an, ihre Augen verengten sich jetzt vielsagend.
Quent musst kurz auflachen, wobei ihm ein schneller Luftstoß entwich. „Alles klar, was zum Teufel denkst du denn, was das gerade war?“, sagte er und machte eine ausladende Geste zu den verdrehten Laken und den Kleidern, die überall verstreut auf dem Boden lagen.
Sie lächelte ihn auch an, wobei sich ihm ein Stich neuer Lust runter an seinem Nabel vorbeischlängelte. „Ich dachte, du wärst nur geil-froh, mich zu sehen.“
Das auch. Aber Scheiße nochmal, wenn ihm das über die Lippen kam.
Oh, darüber habe ich die anderen Male echt nie nachgedacht.
Die anderen Male.
Genau. Er war eine nette kleine Nummer, wenn sie in Envy war, und das passte ihm ausgezeichnet in den Kram. Ein bisschen Peng und Schuss, was sein bestes Stück geölt hielt, und das war ganz wunderbar für ihn. Einfach und unkompliziert weitermachen. Und wenn sie ihn verließ und ging, wohin sie auch immer ging, weiß der Teufel, dann war ihm scheißegal, was sie so trieb.
„Asche über mein Haupt, weil ich mich nicht richtig bei dir bedankt habe“, sagte er zu ihr mit einem hintergründigen Lächeln, „dafür, dass du uns geholfen hast Sage zu finden.“
Wenn Zoë vor einer Woche nicht gesehen hätte, wie ein Kopfgeldjäger Sage aus Envy entführte, der für die Fremden arbeitete, hätten sie Sage vielleicht nicht so schnell und so leicht gefunden. Das war dann auch, wie Quent in den Besitz von Zoës letztem Pfeil gekommen war. Der jetzt hier auf dem Boden lag, hoffentlich völlig vergessen.
Er streckte die Hand aus und strich mit der Fingerspitze seines Daumens über ihre Brustwarze. Sie wurde hart und die dunkelrosa Haut drum rum schrumpelte bei seiner Berührung fast augenblicklich zusammen, was ihn dann lockte, sie noch einmal zu schmecken. Sie bog sich leicht zu ihm hin durch und er beugte sich vor, um sie seitlich am Hals zu küssen. Wie schaffte sie es, die ganze Zeit über nach Zimt zu riechen? Würzig und süß und auch ein wenig salzig...
Sie seufzte leise und er fühlte unter seinen Lippen, wie ihr Puls schneller wurde. Ja, so muss es sein. Dann zog er sich widerstrebend von ihr weg. Zumindest den Mund: seine Hand blieb, wo sie war, ein kleines, sanftes Körbchen um eine ihrer Brüste. Sie hatten noch andere Dinge zu bereden.
„Wir haben Sage gefunden“, erzählte er ihr und fragte sich, ob sie hier jetzt doch tatsächlich ein verdammtes Gespräch führen würden. „In Redlow.“
„Jep, ich hab’ gesehen, sie ist wieder da. Der scharfe Typ mit dem Pferdeschwanz besorgt es ihr jetzt, nicht wahr?“
Der scharfe Typ war natürlich Simon. Selbst Quent musste zugeben, dass Simon wie ein Hollywood Schauspieler aussah mit seinen kantigen Gesichtszügen und dem langen Haar, das manche Frauen scheinbar attraktiv fanden. „Ich könnte meine Haare lang wachsen lassen“, bot er ihr an und zwickte Zoës Nippel sanft. „Einen Pferdeschwanz tragen.“
Sie schnaubte und zu seiner Überraschung streckte sie ihre Hand aus, um ihm über das wirre Haar zu streichen. Völlig perplex ging ihm da auf, dass er sich nicht erinnern konnte, je von ihr berührt worden zu sein – außer mit ganz klar sexuellen Absichten, wenn sie mal wieder rummachten.
Außer bei jenem allerersten Mal, als sie seine Wange gestreichelt hatte.
„Du wärst verdammt und zugenäht nochmal sicherer, wenn du dir diesen Mist abschneiden würdest. Oder es zumindest kürzer machst.“
„Sicherer? Du meinst damit, dass du dann nicht daran ziehen kannst, wenn wir gerade vögeln?“ Er widerstand der Versuchung die Augen zu schließen; ihre Finger, sanft an seiner Kopfhaut, fühlten sich so gut an.
Sie schaute ihn entnervt an. „Du bist blond, Einstein. Die Ganga sind hinter Blonden her. Habe ich dir nicht Scheiße nochmal gesagt, du sollst ein Kopftuch tragen, damit ich dir nicht wieder den Arsch retten muss?“ Quent lachte und ihre Augen wurden zu Schlitzen, als sie merkte, dass er sich gerade über sie lustig machte. „Blond und blöde“, sagte sie noch. Und zog ein bisschen heftig an einer Locke.
Dann wurde er ernst. „Als wir Sage gefunden haben, haben wir auch Remington Truth gefunden. In gewisser Weise.“
Lou und Theo Waxnicki und ihre Widerstandsbewegung hatten erst kürzlich herausgefunden, dass Remington Truth, der ehemalige Leiter der Nationalen Sicherheitsbehörde der US-Regierung, auch NSA, ebenfalls ein Mitglied des Kult von Atlantis gewesen war. Unterschiedliche Hinweise hatten ihnen dabei geholfen, die Puzzleteilchen zusammenzufügen: dass die Ganga nämlich, die immer nur nachts hervorkamen und immerzu Ruuuth...ru-uthhh... riefen, in Wirklichkeit nach Remington Truth riefen, ihn im Auftrag der Fremden suchten. Der etwas über fünfzig Jahre alte Remington Truth hatte blondes oder silbergraues Haar, was erklärte, warum die Ganga jeden mit hellem Haar entführten.
Was Brünette oder Rotschopfe anbetraf ... die wurden einfach misshandelt und in Stücke gerissen, wenn ein Ganga sie in die Finger bekam.
Quent mit seinem honigblondem Haar war anscheinend blond genug, dass diese simpel gestrickten Monster ihn für einen Remington-Truth-Kandidaten hielten ... und das war auch, wie es dazu gekommen war, dass Zoë ihn rettete.
Eine Tatsache, an die sie ihn immer gerne erinnerte.
Zoë lehnte sich wieder leicht zurück und setzte sich auf, alle Spuren von Flirt und Neckerei verschwunden. Ihre samtweichen Augen wurden ernst. „Heiliger verfluchter Bimbam. Und du beschließt mir das Scheiße nochmal erst jetzt zu erzählen?“ Dann verschränkte sie die Arme unter diesen leckeren Brüsten. „Ihr habt ihn in gewisser Weise gefunden? Was zum Teufel soll dass denn nun heißen?“
„Okay. Nun, anscheinend ist der Remington Truth, nach dem die Fremden – und die Ganga – schon seit dem Wechsel suchen, tot.“
„Die haben also fünfzig beschissene Jahre lang nach einem Toten gesucht?“ Von Zoë kam da ein eingerostetes Lachen. Er sah, wie schwarzer Humor in ihren Augen aufblitzte. „Spastische Wichser.“
Er selbst hätte es nicht besser formulieren können. Die Ganga waren nicht nur hirnamputiert, sondern bewegungstechnisch auch noch so behindert, dass sie allerhöchstens ganz niedrige Stufen hochsteigen konnten.
„Man hat uns gesagt, dass Truth tot sei, obwohl wir nicht wissen, wie lang her das ist. Das ist passiert, laut Aussage seiner Enkelin ... deren Name interessanterweise auch Remington Truth lautet. Die gleichen, echt blauen Augen, aber sie hat ganz langes, dunkles Haar – kein Wunder, dass die Ganga verwirrt waren.“
Dieses Stück Information war für Zoë genauso interessant, wie es das für Quent und seine Freunde gewesen war, wenn man von der Art und Weise ausging, wie sie sich jetzt kerzengerade aufrichtete ... obwohl er nicht so genau wusste, warum eigentlich. Kapierte sie, wie verzweifelt die Fremden nach Truth suchten? Wusste sie, dass die Fremden aus irgendeinem Grund Angst vor dem Mann hatten? Das war auch, warum die Widerstandsbewegung so erpicht darauf war, ihn zu finden – was immer die Fremden fürchteten, konnte dem Widerstand nur nützen. Wenn sie es zuerst fanden.
„Seine Enkelin“, sagte sie mit nachdenklich zusammengezogenen Brauen. Oder misstrauischen.
„Zumindest hat sie das behauptet, bevor sie eine Pistole zog und verschwand. Ich bin nicht sicher, wie viel Glauben wir ihren Angaben wirklich schenken sollten.“ Quent spürte, wie ein trockenes, wenig belustigtes Lachen an seinen Mundwinkeln zog. „Es interessiert dich vielleicht auch zu wissen, dass sie, nachdem sie uns entschlüpfte, deinen Freund Ian Marck mit vorgehaltener Pistole zwang mit ihr davonzufahren.“
Er beobachtete ihre Reaktion genau. Abgesehen davon, ein Kopfgeldjäger zu sein, der für die Fremden arbeitete, könnte Ian Marck auch durchaus eines „der anderen Male“ von Zoë sein. Der große, slawisch aussehende Blonde und Raul, sein Vater, hatten im Auftrag von einem der Fremden Jade entführt, um ein Kopfgeld zu kassieren, daher befand er sich bereits auf der Arschlochliste der Widerstandsbewegung – und als Quent erfuhr, dass Zoë Ian kannte, hatte ihn das auf der Liste noch ein paar Plätze höher geschubst.
„Mein Freund, hä?“, wiederholte sie. Ihr Gesichtsausdruck verriet ihm natürlich nichts. Sie hatte genauso viel Übung darin, ihre Gefühle zu verbergen, wie er. Auf diese Weise hatte er es wahrscheinlich geschafft, achtzehn Jahre mit Parris Fielding zu leben, ohne getötet zu werden.
Also legte er nochmal nach. „War das nicht der Typ, mit dem du beim Festival letzte Woche gesprochen hast?“ Nachdem sie Quent quer durchs Zimmer schöne Augen gemacht hatte. Sehr schöne, verheißungsvolle Augen, eigentlich eine glasklare Einladung.
„Du meinst, während du deine Hände überall am Arsch dieser Blondine hattest?“, entgegnete Zoë kühl. „Du hast ziemlich beschäftigt ausgesehen, auf der Tanzfläche hätte kein Blatt zwischen euch gepasst. Frage mich, wie sie sich dabei gefühlt hat, als du über ihre Schulter jemand anderen mit den Augen gefickt hast, Einstein.“
„Ich habe nach dir gesucht“, sagte Quent, bevor er richtig nachgedacht hatte. Scheiße. Vollidiot. Dann, in dem Versuch den Augenblick zu retten, warf er ihr ein brennendes Lächeln zu. „Ich hatte angenommen, du wärst heiß darauf, deinen Pfeil wiederzubekommen.“
Zoë schaute ihn nur an und für einen Moment konnte er ihren Gesichtsausdruck gar nicht verstehen. Dann lächelte sie auf eine Art, die ihm das Blut in Wallung geraten und hochkochen ließ, und streckte seine Hand zwischen ihnen beiden runter ... dorthin, wo ihm schon etwas spannte und in Reaktion hochzusteigen begann. „Scheiße, ja.“
Und als Nächstes wurde das schwache Licht komplett dunkel, als sie sich auf ihn zubewegte, ihn rückwärts auf das Bett schob, ihre schlanken, schwieligen Hände äußerst geschäftig.
Als er aufwachte, war sie nicht mehr da.
Und der Pfeil ebenso wenig.
. . .
„Ich will zurück nach Redlow“, sagte Quent, als er seine Gefährten betrachtete: Wyatt, Elliott, Jade, Fence, Lou, Simon und Sage – die üblichen Verdächtigen. Der Einzige aus ihrem Kartell, der fehlte, war Theo Waxnicki, der dankend abgelehnt hatte sich zu ihnen zu gesellen, weil er gerade mitten in einem Computerprojekt steckte ... und sehr wahrscheinlich auch weil er nicht sonderlich interessiert daran war, Simon und Sage zusammen zu sehen. „Remington Truth ist vielleicht verschwunden, aber sie ist überstürzt aufgebrochen. Unter den Sachen, die sie zurückgelassen hat, können wir vielleicht etwas Hilfreiches finden.“
Halbvolle Kaffee- und Teetassen standen wild verstreut auf dem Tisch neben leeren Frühstückstellern. Die Gruppe saß in Lous Lieblingsecke von einem der Gemeinschaftsrestaurants von Envy – das viel eher eine Cafeteria war, mit ein oder zwei Vorspeisen bei jeder Mahlzeit. Solche Örtlichkeiten versorgten den Großteil der Bevölkerung mit Essen. Da die meisten der Wohnräume oder Heime, welche die Envyer übernommen hatten, einfache Hotelzimmer waren, hatte niemand von ihnen Zugang zu einer voll ausgestatteten Küche. Durch Gemeindedienste und koordinierte Arbeitspläne wurden Mahlzeiten also in den Restaurants gekocht, für jeden Einwohner der Stadt, der regelmäßig etwas zur Gemeinde beitrug.
Ungeachtet der Tatsache, dass Quents Körper sich von einer sehr geschäftigen Nacht locker, entspannt und befriedigt anfühlte, saß ihm etwas Hässliches und Schweres wie ein Klumpen tief im Magen zusammen mit dem Omelette, das er gerade verspeist hatte. Er wusste nicht, was es war, und er hatte auch nicht die Absicht Zeit darauf zu verschwenden, es herauszufinden. Es gab andere Dinge, um die man sich kümmern musste.
Zum Beispiel Remington Truth zu finden und – noch wichtiger – Fielding.
Vielleicht würde Quent sich wieder normal fühlen, wenn er erst einmal den Kristall aus dem Körper seines Vaters gehackt hätte. Obwohl es für ihn ein beschissenes Geheimnis blieb, was in seinem Fall nun eigentlich normal sein sollte.
Er war sagenhaft reich aufgewachsen, mit allen nur erdenklichen Vorteilen und Möglichkeiten. Angefangen von seinem Namen bis hin zu seiner Milliardenerbschaft. Jetzt war er schlicht Quent. Keine Fertigkeiten, keine Mittel, nichts, was er zu bieten hätte, in dieser öden, primitiven Welt, wo Geld und Glamourfaktor rein gar nichts bedeuteten.
Wyatt nickte bei Quents Schlussfolgerungen zustimmend. Er setzte seine Kaffeetasse mit einem leisen Klirren ab. „Ich komme mit. Ich muss was anderes tun als nur hier herumsitzen. Wir können Dantés dorthin mitnehmen. Vielleicht führt er uns zu ihr.“
Dantés war Remingtons grimmig aussehender Hund, der sich jetzt Wyatt als Herrchen ausgesucht hatte, nachdem der den Befehl erraten hatte, mit dem man ihn aus der Angriffshaltung herausholte, in der Remington Truth ihn zurückgelassen hatte.
Lou nickte auch zustimmend. „Ausgezeichnete Idee. Du kannst die Dinge durchsuchen, die sie zurückgelassen hat – und sehen, ob darunter irgendwas ist, was uns vielleicht weiterhilft.“
„Und Quent wird uns sagen können, ob irgendwas davon Truth gehört hat – das alte A-punkt-L-punkt, nicht die scharfe Braut, die dir eine Pistole auf die Brust gesetzt hat“, sagte Fence. Er musste dabei natürlich ein Kichern unterdrücken, die unglaublich geraden und weißen Zähne und die dunklen Augen in seinem Gesicht funkelten um die Wette. „Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen, um zu sehen, wie ihr allesamt in das riesige Fettnäpfchen da reinwandert“, fügte er hinzu, sein unterdrücktes Lachen quietschte ein bisschen.
„Jep, das war ‘ne richtige Party. Das verrückte Weibsbild hat doch tatsächlich auf mich geschossen“, sagte Wyatt ausdrucklos.
„Willst du sagen, sie schießt ein bisschen zu schnell?“, erwiderte Fence kumpelhaft. „Besser sie als du oder was, Bruder?“
Wyatt schnaubte und hätte wahrscheinlich noch geantwortet, wenn man sie nicht unterbrochen hätte.
„Guten Morgen“, sagte der lange, hochaufgeschossene Mann, der sich dem Tisch genähert hatte.
Quent schätzte ihn auf Ende dreißig, mit einem gutaussehenden, etwas zerstrubbelten Gesicht, das aussah wie das eines Cowboys. Aber anstatt ein Wildlederhemd und einen riesigen Hut mit Krempe auf seinen unordentlichen, sonnengebleichten Haaren zu tragen, trug er ein Outfit in etwa wie Quents persönlicher Assistent: ein blassblaues Hemd mit Knopfleiste und abgewetzte Khakihosen. Der Kerl hatte einen Haarschnitt dringend nötig und auch eine Rasur wäre nicht unangebracht, aber seine Augen waren intelligent und beobachteten scharf und sein Verhalten verriet den Profi.
„Hey, Vaughn“, sagte Jade lächelnd. „Will du dich zu uns setzen?“
Quent blickte kurz zu Elliott rüber, aber sein Freund war schon aufgestanden, um seinen Stuhl Vaughn Rogan anzubieten, dem Bürgermeister von Envy, und streckte die Hand zur Begrüßung aus. „Setz dich“, bot er an. „Wir sind eigentlich gerade fertig, aber könnten dir noch ein bisschen Gesellschaft leisten, damit du nicht alleine essen musst.“
„Ein Appetithappen wie unser Marlboro Mann hier isst nie allein“, murmelte Fence Quent ins Ohr.
Obwohl Rogan früher mal ein Auge (oder zwei) auf Jade geworfen hatte, was auch immer da mal gewesen war, hatte sich jetzt anscheinend in eine entspannte Freundschaft und echten Respekt verwandelt und nichts weiter. Vor ein paar Wochen hatte Elliott dem Bürgermeister das Leben gerettet und dabei sein eigenes riskiert und seitdem Elliott und Jade ein Paar geworden waren, hatten die beiden Männer den Graben der männlichen Wettkämpfe jetzt hinter sich gelassen und waren etwas mehr als bloße Bekannte geworden.
„Herzlichen Dank“, sagte Rogan und griff sich schnell einen Stuhl vom Nebentisch und schleppte den ans Ende von ihrem. „Es ist gut, dass ich euch alle hier antreffe, denn es gibt ein paar Dinge, über die ich mit euch sprechen wollte.“
Er warf einen raschen Blick hinter sich, wie um sicherzugehen, dass niemand ihr Gespräch hören könnte. Eine Frau lungerte in der Nähe herum und er winkte sie herbei, um ihr kurz eine Antwort zu einer kaputten Windturbine zu geben – „schick Jackson dort raus“ – und drehte sich dann wieder zu ihnen. „Kaffee wäre gut“, sagte er und klang etwas erschöpft.
Aber Jade hatte bereits eine Tasse eingeschenkt und vor ihm abgestellt. „Was ist denn los?“
Rogan nahm schlürfend einen Schluck und schloss die Augen, wie um den Kaffeegeschmack zu genießen. Dann setzte er die Tasse ab.
„Nichts ist los, nichts Ernstes“, sagte er. „Ich musste mich nur um einen Haufen Sachen kümmern, die alle dringend waren. Weswegen ich auch gerne mit euch reden wollte.“
„Bist du nicht besorgt um deine Chancen wiedergewählt zu werden, wenn man dich hier mit dem spinnerten Lou Waxnicki abhängen sieht?“, fragte der alte Mann mit einem trockenen Lächeln. „Dir ist doch klar, dass die meisten Leute in der Stadt denken, ich hätte seit dem Wechsel nicht mehr alle Murmeln auf der Schleuder.“
Rogan nickte, seine Lippen zu einem recht grimmigen Lächeln verzogen. „Denen entgeht was, selber schuld“, sagte er. Dann kräuselten sich seine Augenwinkel mit echt gemeintem Humor. „Obwohl ich glaube, dass du das deine zu diesem Trugschluss beiträgst, indem du immerzu von deiner nicht-existenten Enkeltochter schwafelst.“
Lou lachte, seine Augen leuchteten hinter den Brillengläsern. „Man kann nicht vorsichtig genug sein.“ Dann wurde er wieder ernst. „Wenn die Fremden davon Wind bekommen, dass wir hinter ihnen her sind, wären wir am Arsch, bevor wir auch nur die Chance bekommen etwas zu tun. Und da die meisten Leute die schrecklichen Dinge nicht aus erster Hand kennen, die Jade gesehen und durchgemacht hat, als sie in ihrer Gewalt war, können sie sich das einfach nicht vorstellen und wollen nicht wahrhaben, dass die Fremden einzig und allein daran interessiert sind, uns zu unterdrücken. Unter anderem.“
Es brachte Quent immer noch ein klein wenig aus der Fassung, wenn ein über Siebzigjähriger Worte wie „am Arsch“ in den Mund nahm, auch wenn er wusste, dass er selber eigentlich noch vor Lou und Theo Waxnicki geboren war. Er nahm an, er würde, wenn er wie siebzig aussah, auch noch „Arsch“ sagen.
Rogan hatte abermals einen geräuschvollen Schluck Kaffee zu sich genommen und nickte jetzt, als er die Tasse absetzte. „Das musst du mir nicht erklären. Und das ist auch teilweise der Grund, warum ich mit euch sprechen wollte.“ Er ließ seinen Blick um den Tisch schweifen. „Es geht um Folgendes“, sagte er, wobei er sich nach vorne beugte, seine Stimme tief und rau. „Ich weiß nicht wirklich, wo ihr Kerle nun her seid oder was euch alle so ... anders macht ... aber ich weiß, dass Envy euch braucht.
Ich bin seit vier Jahren hier Bürgermeister. Aber die Leute von Envy haben die letzten fünfzig damit zugebracht, zu überleben und eine Zivilisation aufzubauen, die der von vor dem Wechsel so ähnlich ist, wie es eben möglich ist. Aber es gibt Bereiche, die wir vernachlässigt haben. Lou, Theo und ich haben lange und ausgiebig darüber gesprochen, was getan werden kann, um uns alle hier zu schützen, jetzt, da wir das wiederhergestellt haben – wie nennst du es doch gleich noch?“ Er schaute zu Lou.
„Infrastruktur.“ Lou nahm die Brille ab und putzte eines der Brillengläser. „Wir sind schon ganz gut dabei hier – Strom, Essen, Kleidung, Dach überm Kopf – indem wir Dinge verwenden, die wir finden und ausschlachten oder die wir anbauen oder herstellen. Aber jenseits der Stadtmauern gilt mehr oder weniger Faustrecht und jeder für sich alleine. Manchmal ist es wie der beschissene Wilde Westen. Und wir haben eine Menge medizinisches und pharmazeutisches Wissen verloren und natürlich gibt es keine nennenswerten Kommunikationssysteme. Ich habe Vaughn erzählt, dass ihr wahrscheinlich bereit wärt auszuhelfen, in Anbetracht eurer Kenntnis der Welt von 2010 und noch davor.“
Quent warf dem alten Mann einen verstohlenen Blick zu. Hatte er Rogan wirklich alles über sie erzählt? Offensichtlich waren dem Bürgermeister die Wunderheilkräfte von Elliott bekannt, denn er selbst war ja sein Patient gewesen.
Lou gab ihm mit einem langsamen, ganz deutlichen Nicken zu verstehen, dass man dem Bürgermeister die Wahrheit über sie anvertrauen konnte.
Rogan setzte seine Kaffeetasse ab. „Es läuft auf folgendes hinaus: Elliott, wir brauchen deine medizinischen Kenntnisse und Fähigkeiten und Jade hier erzählt mir, du hast vor Hausbesuche zu machen, wenn sie auf ihre Missionen zu den anderen Siedlungen geht. Das ist gut, aber ich bin hier, um dich zu fragen, ob du Envy zu deiner Basisstation machen und mit uns zusammenarbeiten würdest, um unsere Krankenstation zu verbessern und auszubauen.“
„Ist schon in der Planung“, unterbrach ihn Elliott. „Ich wollte nur niemandem auf die Zehen treten.“
„Keine Sorge. Dein Fachwissen ist uns sehr willkommen.“
Elliott nickte. „Ich habe mit Flo Gradinski gesprochen und sie möchte auch helfen. Krankenschwesternarbeit und derlei.“
„Wenn sie nicht gerade an Haartönungen und Kosmetik arbeitet“, fügte Jade mit einem Lächeln hinzu.
„Flo? Das ist gut“, nickte Rogan. „Sie wird ein echter Gewinn sein. Und es gibt noch andere, die gerne lernen möchten, was du ihnen beibringen kannst.“ Dann sah er Simon an. „Ich habe gehört, dass du ein bisschen Erfahrung im Sicherheitsbereich hast, und was Polizeiarbeit betrifft.“
Quent unterdrückte ein Lächeln bei Simons Gesichtsausdruck – das waren gerade sämtliche Rouleaus runtergefahren. Soweit er über den Kerl informiert war, stammte seine Erfahrung nicht von der Polizeiseite der Chose ... sondern eher von der anderen Seite des Gesetzes. Was seine Zurückhaltung erklären würde.
„Bin nicht sicher, wer dich da informiert hat“, antwortete Simon. Aber dann bewegte sich Sage unter dem Tisch und Simon zuckte leicht zusammen, ein schmerzerfüllter Ausdruck jetzt auf seinem Gesicht. „Aber ... ähm ... warum fragst du?“
„Wir brauchen hier besser ausgebaute und trainierte ... Sicherheitskräfte, dachte ich mir. Ich habe von einem Zwischenfall mit Sage gehört. Vor kurzem. Sie wurde angegriffen und du – ähm – hast dich um den Angreifer gekümmert.“
„Der wird uns keine Probleme mehr bereiten“, versicherte Simon ihm.
Rogan lächelte trocken. „Das war auch mein Eindruck.“
„Er hat ihn nicht umgebracht oder so was“, unterbrach Sage ernsthaft.
„Ich weiß“, sagte Rogan. „Aber das beweist nur, wie dringend wir ein besseres Instrument schaffen müssen, um mit so etwas umgehen zu können. In Envy kommen Verbrechen im Großen und Ganzen kaum vor. Aber außerhalb der Stadt, und manchmal sogar innerhalb, gibt es Probleme.“
„Und in dem Maße wie die Gesellschaft hier sich weiterentwickelt, werden die immer häufiger vorkommen“, fügte Lou hinzu. „Wir haben keine offiziellen Gefängnisse, ja nicht einmal ein funktionierendes Rechtssystem. Es ist ganz einfach: wenn jemand etwas Falsches tut, wird er per Entscheidung einer Art Jury aus der Stadt verbannt.“
Rogan nickte abermals. „Also wollte ich, dass Simon unsere kümmerlichen Sicherheitskräfte und das Team unserer improvisierten Polizeitruppe berät. Ich denke, du hättest ein paar Verbesserungsvorschläge.“
„Uhm. Klar“, antwortete Simon, aber erst nach einem Fußtritt von Sage, die ein strahlendes Lächeln von sich gab, das ihr wunderschönes Gesicht erhellte.
Quent hörte zu, als Rogan fortfuhr einige Projekte zu diskutieren, die er im Kopf hatte, und Wyatt um Rat fragte, wegen seiner Erfahrung als Feuerwehrmann, Sanitäter und als Mitglied der National Guard. Und Fence, der sich freiwillig meldete, um den Leuten beizubringen, wie man in der Wildnis überlebt und sich orientiert. Fence war in den Höhlen bei Sedona ihr Führer gewesen und selbst er schien in dieser neuen Umgebung etwas zu bieten zu haben.
Vielleicht war es niemandem so klar, wie es für Quent war, dass der Bürgermeister keine spezielle Bitte an ihn hatte. Das bewies wieder einmal knallhart, dass er wenig hatte, womit er sich hier verdient machen könnte – außer der Tatsache, dass er Fielding finden und die Welt von einem weiteren Fremden befreien würde.
Und wenn er das überlebte, würde er vielleicht einfach so weitermachen und Jagd auf die Fremden machen. Für den Rest seines Lebens.
Denn niemand würde einen Mann nützlich finden, der wusste, wie man einen ausgezeichneten Cabernet Wein auswählte.
Oder der wusste, wie man einen italienischen Schnitt trug oder in Immobilien investierte.
Oder wie man als Poster Boy einer Wohltätigkeitsgala auftrat.
Ganz besonders einen Kerl, der in ein Koma schwarzer Träume fiel, wann immer er etwas berührte.
. . .
Ruuuth … ruuuth…
Zoë wachte zum Geräusch der leisen Ganga-Seufzer auf. Weit entfernt, aber sie kamen näher. Der Mond schien durch das Loch im Dach über ihr herein, ihr genau ins Gesicht. Scheiße. Sie hatte verschlafen.
War aber ihre eigene verdammte Schuld. Dafür, dass sie gestern die ganze Nacht in Envy verplempert hatte. Und dann auch noch viel zu lange in der Stadt herumgelungert hatte, auf Beobachtungsposten hoch oben auf den Dächern, anstatt sich auszuruhen.
Normalerweise schlief sie tagsüber, wenn es sicher war – relativ sicher –, und jagte, wenn der Mond und die Ganga zu sehen waren. Und als sie sich jetzt aus ihren Alpträumen schälte, war es schon helllichter Tag gewesen.
Und keinesfalls dunkel.
Aber letzte Nacht hatte sie auf ihre niederen Instinkte gehört, war ihrer Neugier gefolgt – und diesem seltsamen Drang – und war hinein nach Envy geschlüpft.
Und sie hatte auf Quent gewartet ... und auf ihn gewartet ... und gewartet. Sie wollte schon fast aufgeben, als er schließlich in sein Zimmer kam, klatschnass.
Warum zum Teufel trieb er sich bei Regen draußen herum?
Der kleine Schauer tief in ihrem Bauch verriet ihr die Antwort und sie mochte die ganz und Shit gar nicht. Zoë warf das leichte Bettlaken zur Seite und starrte wütend auf die drei dreckigen Fenster. Der Mond versuchte tapfer da durchzuscheinen, aber es war verlorene Liebesmüh bei all dem verkrusteten Dreck der Jahre dort.
Es machte sie regelrecht platt, dass sie ständig an den Kerl dachte. Das erste Mal, als sie ihn gesehen hatte, so richtig aus der Nähe, nachdem sie einem Ganga einen ihrer Pfeile ins Hirn gehämmert hatte, das Monster wollte ihn gerade wegschleppen ... fühlte sie sich ... Teufel nochmal ... zu ihm hingezogen.
Aber nicht auf eine amouröse Art. Eher wie ein Nachtfalter zu einer Kerze oder zu einem Licht. Aus Neugier. Auf der Suche nach Wärme. Vielleicht sogar Kameradschaft?
Seine Wange war warm und glatt gewesen. Und seine Reaktion auf ihre Berührung, als sie ihre Hand an seine Wange gelegt hatte, die verwirrte sie. Er hatte still gehalten, gefesselt, als ob etwas ihn auf eine ganz tiefe Art und Weise berührt hätte, nicht nur Fingerspitzen an Haut. Es war arschmistkomisch, diese Verbindung, die sie spürte.
Und obwohl es schon drei Wochen her war seit jenem ersten Mal, erinnerte sie sich immer noch an das Gefühl von seiner Wange unter ihren Fingern. Das erste Mal seit wer weiß wann, dass sie wahrhaftige, warme, menschliche Haut gespürt hatte ... und verdammt, wenn dieses Gefühl nicht immer noch in ihr widerhallte, selbst wenn sie beide mittlerweile schon mit deutlich mehr zugange gewesen waren als dem da.
Und jetzt stand sie hier und heute da und verpennte, weil sie so verrückt gewesen war ihm hinterherzustellen.
Dieser Kerl. Dieser Quent, der redete wie der Typ da in den alten DVD Filmen über den Spion. Er hatte etwas Ungewöhnliches an sich.
Sie war neugierig. Das war alles.
Sie durfte neugierig sein.
Aber echt. Sie war zu verdammt beschäftigt, um ihre Zeit damit zu verschwenden, in Envy abzuhängen. Für ein bisschen Gebumse mit dem Mann mit dem honigfarbenen Haar. Er bedeckte es tagsüber nicht mit einem Kopftuch, sondern trug das Tuch um die Stirn gewickelt. Wenn die Sonne auf ihn niederbrannte, leuchtete seine Haut satt und golden neben seinem leuchtend weißen Hemd. Er schien so warm wie der Tag selbst zu sein, genau wie sich auch seine Wange bei jenem ersten Mal angefühlt hatte.
Jep, nun. Scheiß drauf. Sie hatte ihn beobachtet – und seine Freunde, aber hauptsächlich ihn – tagsüber, nachdem sie sich aus seinem Zimmer geschlichen hatte. Sie hatte sich aus den Fingern befreien müssen, die selbst im Schlaf noch ihr Handgelenk fest umklammert hielten.
Jetzt ... vertrieb das dumpf kreischende Ganga-Gestöhne die letzten Reste von Schlaf aus ihren Augen und aus ihrem Kopf. Als sie sich aufsetzte, verschwand etwas raschelnd in der Ecke – wahrscheinlich die Mausfamilie, die sie vorher aufgescheucht hatte. Sie hatten sich ihren Weg hineingefressen in etwas, was wohl mal ein gepolstertes Sofa gewesen war, und es in etwas verwandelt, was wenig mehr als ein Haufen schmutziger Füllung war, zernagter Brokat und ein angenagter Holzrahmen.
Zoë lauschte, während sie vorsichtig durch das, was die Überreste eines Wohnzimmers von irgendjemandem sein mussten, einen Weg bahnte, hin zu einem schmutzigen Fenster. Hier oben war sie sicher, hier im vierten Stock eines alten Wohnhauses – denn die hirnamputierten Ganga konnten nicht klettern, es sei denn sie hatten einfache Stufen vor sich und die einzige Treppe hier war unter einer halben Mauer und einem Haufen Müll fast vergraben.
Sie rubbelte ein Guckloch in den Fensterdreck und gab Acht nicht zu stark zu rubbeln, sollte das Fenster schon kurz davor sein, zu zerspringen oder nachzugeben. Schimmel und Moder trugen auch noch zur trüben Aussicht bei und wenn man die Spuren davon wegwischte, nahm der dumpfe, erdige Geruch noch zu. Eine Art von Weinranke oder eine andere Kletterpflanze breitete sich von der Fensterecke über das Glas aus. Aber durch das Loch konnte sie hinunter auf die überwucherte Straße mit ihren rostigen Autos schauen.
Dort waren sie – Ganga, dicht gedrängt da unten, die ziellos hierhin und dorthin schwankten und immer nach Ruuuthhhh riefen – was anscheinend eine plattgemachte Version von Remington Truth darstellte. Sie konnte nicht genau sagen, wie viele es waren, wegen der Bäume und scharf aufragenden Mauern, die ihr die Sicht versperrten. Mindestens fünf oder sechs schätzte sie. Zu weit weg und zu viele Bäume, um mit ihrem Bogen gut zielen zu können.
Aber das war nur eine zeitweilige Niederlage. Wenn sie näher rankam, dann würde es gestampftes Gangahirn zuhauf geben. Sie streckte die Hand nach ihrem Jagdhemd aus.
Das Hemd stank, aber Zoë war schon längst an den durchdringenden Gestank gewöhnt. Indem sie ihre Jagdbekleidung in regelmäßigen Abständen durch brackiges, modriges Wasser zog und es zuließ, dass der Schmutz, die Algen und was auch immer in dem Sumpf vor sich hin rottete auf den Kleidern trocknete, hatte sie daraus eine Art Schutzschild gebastelt. Die Ganga konnten ihren menschlichen Geruch nicht wahrnehmen, solange sie es trug.
Wahrscheinlich weil sie genau wie sie roch. Vielleicht sogar noch schlimmer.
Das hatte ihr schon mehr als einmal das Leben gerettet.
Als sie an ihrem Seil herunterkletterte mit Hilfe der Knoten darin, mit einem kleinen Päckchen auf dem Rücken und ihrem Pfeilköcher über der Schulter, verzog Zoë das Gesicht. Sie fragte sich, ob Quent ihr erlaubt hätte ihm so nahe zu kommen, wenn sie in jener Nacht bei ihrer ersten Begegnung dieses Hemd getragen hätte.
Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, wenn sie es getragen hätte. Dann würde sie jetzt nicht so viel Zeit damit vergeuden, ihn zu suchen, auf ihn zu warten, mit ihm zwischen den Laken herumzurollen.
Aber heiß verdammt und wow, es war ein fantastisches Gerolle.
Und warum verdammt spulte sie diese Szenen in ihrem Kopf wieder und wieder ab?
Sie hatte Arbeit zu erledigen. Für Naanaa und die anderen. Sie musste den Mann finden, der dafür verantwortlich war, sie ihr weggenommen zu haben.
Das Seil endete genau da, wo Zoës Füße den Erdboden berührten, und mit einem geübten Drehen ihres Handgelenks löste sie es aus seiner Verankerung. Lautlos glitt es zu Boden, landete mit einem leisen Aufprall zu ihren Füßen. Gerade als sie ihre leise Pirsch in ein Zimmer hinein aufnahm, das mal ein Eingangsbereich von dem Wohnhausblock gewesen war, wurde sie auf ein neues Geräusch aufmerksam.
Ein leises Grummeln, ein mechanisches Schnurren.
Zoës Finger schlossen sich fester um den Griff ihres Bogens.
Ein Fahrzeug. Ein seltenes Geräusch ... eines, das sie in ihrem Leben bislang nur wenige Male gehört hatte. Aber ein Geräusch, das sie niemals vergessen würde. Das bedeutete, dass er kommen würde.
Das Herz hämmerte ihr in der Brust, der Magen verkrampft – so stieg sie über einen Haufen wahllos aufgeschütteter Ziegel und schob sich ganz langsam an der Seite des Zimmers vorwärts, die bedeckt war von alten Briefkästen, die man in die Wand eingelassen hatte. Sie wusste, dass die Nummern darauf schon längst dem Rost anheim gefallen waren, als hartnäckiges Moos die Ritzen gefüllt hatte, aber das Metall fühlte sich immer noch kalt an, als ihre nackten Arme es streiften. Efeuranken fielen träge wie das Haar von Rapunzel herab, schwangen sachte hin und her, als sie an ihnen vorbei ging.
Langsam.
Das grummelnde Geräusch wurde lauter und Zoë fand sich in einer dunklen Ecke des Zimmers wieder, an die Wand gepresst. Auf einmal gelähmt, wieder zurückgeworfen in jene schreckliche Nacht. Hier war sie sicher, in dieser dunklen Ecke. Sie kämpfte innerlich darum, im Hier zu bleiben, in dem brennenden Zorn und der Entschlossenheit, die sie seit zehn Jahren vorwärts trieb ... und nicht in der lähmenden Furcht zu versacken.
Sie konnte das hier verdammt nochmal meistern.
Erinnerungen konnten ihr nicht wehtun. Sie stellten keine Bedrohung dar.
Der grummelnde Laut, der Geruch ihres Hemds, das Gefühl der feuchten, schimmeligen Wand unter ihren Fingern, an ihrer Wange...
Zoë schloss fest die Augen, ganz fest, und fand andere Erinnerungen, an die sie sich klammern konnte. Weiche, goldene Haut ... feste, erfahrene Lippen ... dichte Wellen von honigblondem Haar und die Wärme, das Streicheln, die Nähe von ihm. Das Tröstliche.
Sie öffnete wieder die Augen und trotz dem Schweiß, der ihr am Rücken herabtropfte, und dem Übelkeit verursachenden Gefühl in ihrer Magengrube, löste sie sich vorsichtig aus ihrer Zufluchtsecke, als ein Lichtstrahl durch die Dunkelheit schnitt. Dann hörte auch das grollende Geräusch des Motors auf.
Zoë schluckte und zwang sich da hinauszublicken, jenseits der gesprungen Glastüren, die aber seltsamerweise immer ganz blieben. Ganga schwankten hin und her, drängten sich um das große, schachtelförmige Fahrzeug.
Mondlicht glänzte auf dem schwarzen Metall und selbst von ihrer entfernten Position aus konnte sie sehen, dass Dellen und Kratzer und selbst Rostflecken die rumpelnde Box auf Rädern verunstalteten. Das Dach davon war so hoch wie die Ganga und die großen, schwarzen Reifen hoben es hoch über den Boden. Ein Mitfahrer würde hochklettern müssen, um in diese fürchterliche Monstrosität hinein zu gelangen.
Türen zu beiden Seiten öffneten sich und drei Leute kletterten heraus. Zwei Männer und eine Frau. Ihr Herz klopfte wild. Wenn er es war, dann musste sie näher ran für einen anständigen Schuss.
Zuerst konnte Zoë nicht viele Details erkennen, denn die wesentlich größeren Ganga drängelten sich um die Neuankömmlinge wie von einem Magnet angezogen. Dann hob einer der Männer die Hand und hielt eine Art von Laterne hoch, die ein seltsames, grünliches Licht von sich gab.
Die Ganga stolperten rückwärts, ihre Arme stießen unbeholfen aneinander. Ihr Gestöhne wurde lauter und legte sich dann.
Verdammt. So eine Laterne könnte ich gebrauchen.
Dann drehte sich der Mann in ihre Richtung und das grüngelbe Licht beleuchtete ihn ganz deutlich.
Als sie sein Gesicht sah, war ihre erste Reaktion sich mit einem Rückwärtssatz in Sicherheit zu bringen. Der Magen sackte ihr wie ein Stein runter und ihr Herz setzte aus, fing dann wieder an zu schlagen, schneller und heftiger. Aber Zoë widerstand dem Drang sich zu verstecken. Er konnte sie nicht sehen. Und sie war auch nicht mehr fünfzehn und die Angst hielt sie auch nicht mehr so fest umkrallt, dass sie nicht mehr denken konnte.
Nun, sie hatte immer noch große Angst. Panische Angst.
Aber es war er. Endlich. Endlich.
Sie hatte Angst, aber sie war vorbereitet. Der fein gearbeitete Bogen aus Weidenholz fühlte sich fest und tröstlich an in ihrer Hand und das Gewicht ihres Köchers hinten an ihrem Rücken wirkte beruhigend.
Mit der schmutzigen Wand unter ihren Händen beobachtete Zoë, wie er mit den Ganga zu reden schien. Der Mann sah aus wie etwa fünfzig. Das Licht, das an seinem weißblondem Haar klebte, ließ seine hohen Wangenknochen hager und die Wangen hohl aussehen. Sie erinnerte sich an diese Eigenschaft von ihm: dass das Licht aus seinem Gesicht einen Totenschädel machte.
Er sah nicht anders aus als vor zehn Jahren.
Raul Marck. Der Mann, der ihr alles genommen hatte: ihr Zuhause, ihre Familie und ihre Freunde ... Sicherheit, Geborgenheit, Liebe. Der Mann, den sie seit zehn Jahren jagte, und nur einmal seit jener grauenvollen Nacht hatte sie ihn wieder gesehen.
Zoë nahm ihren Bogen in die andere Hand und griff unauffällig über ihre Schulter nach einem Pfeil. Der Puls raste ihr durch den Körper, füllte ihre Ohren mit seinen dumpfen Schlägen. Die Handflächen wurden ihr feucht, aber ihre Finger waren ruhig.
Die Ganga hörten gerade Raul zu, genau wie sie es vorher getan hatten. Sie mussten ihre Befehle ja von irgendjemandem bekommen; weiß der Himmel, sie waren nicht intelligent genug, um selber zu wissen, was sie tun sollten. Das war auch, woher sie wusste, dass – obwohl sie jede Nacht Jagd auf Ganga machte – die ganze beschissene Schuld auf Marck lastete. Er hatte den Befehl erteilt. Er hatte ihre Ansiedlung ausgewählt.
Er hatte ihre Familie getötet.
Sie schaute sich den anderen Mann an, der neben der Frau stand, und war nicht überrascht Ian zu erkennen, Rauls Sohn. Er sah seinem Vater sehr ähnlich, hatte die gleichen slawischen Gesichtszüge mit den hohen Wangenknochen, dem kantigen Kinn und der hohen Stirn. Ians Haar war von einem dunkleren Blond und mit seinen dunklen, scharf geschwungenen Augenbrauen und dem breiten Mund könnte man ihn als gutaussehend bezeichnen – wenn ein Mädchen erst mal über die Tatsache hinwegkam, dass er ein blutrünstiger Kopfgeldjäger war.
Er war ein skrupelloser Scheißmistkerl, aber er war nicht die Zielscheibe ihres Hasses. Sie würde es Ian Marck vielleicht gestatten, noch mal einen Sonnenaufgang zu erleben.
Zoë wandte ihre Aufmerksamkeit der Frau zu, die neben Ian stand. Sie hatte noch nie zuvor eine weibliche Kopfgeldjägerin gesehen. Die Frau stand dicht vor Ian, etwa so hoch wie sein Kinn und vielleicht halb so breit wie er an den Schultern. Sie sah etwa so alt wie Zoë aus und hatte dunkles Haar. Selbst aus dieser Entfernung spürte Zoë die Starre und vielleicht auch Wut oder Verärgerung an ihr.
Als die drei sich dann bewegten und die Ganga sich von ihnen entfernten, begriff sie warum. Ian hielt ihr die Hände hinter dem Rücken fest. Sie war keine Kopfgeldjägerin, sondern eine Gefangene.
Oder – was wahrscheinlicher war – sie würde bald Ganga-Abendessen werden.