ZEHN 

 

 

Es stellte sich heraus, dass Zoës Versteck sich hinter dem eingestürzten Gebäude befand, mit einem Eingang über einen weiteren Hinterhof – sehr ordentlich und gepflegt und voll von Kräutern und Gemüsebeeten. Quent trat ein und es fiel ihm gleich auf, wie unglaublich viel Licht durch die vier großen Fenster hereinfiel, die Zoë gerade von schweren Abdeckplanen und primitiven Fensterläden befreite. Und weil dieses kleine Haus hier samt seinem ordentlichen Garten von allen Seiten von anderen Häusern umschlossen wurde, würde niemand vermuten, dass hier irgendjemand lebte. 

Innen drin war der asymmetrische Raum sauber und roch nach Zimt – natürlich – und dann noch nach anderen Gewürzen. Leuchtende Stoffe hingen wie Baldachine von der unebenen Decke und an den schiefen Wänden – Orange und Tiefrot und Siena, auch Indigo und Lila. Große runde Kissen überraschten ihn, denn sie lagen auf einem bunten Haufen in der Ecke und waren so feminin und ordentlich, dass er kaum imstande war diesen luxuriösen, heimeligen Ort mit seiner kratzbürstigen Zoë in Verbindung zu bringen. Eine Ansammlung gewebter Teppiche bedeckte den Boden. Und etwas, was nur ein Bett sein konnte, war bedeckt von Fellen und Pelzen, darunter auch eins von einem weißen Tiger, von dem er sich sicher war, dass es nicht ein Imitat war. In der Ecke bei den Kissen stand ein kleiner, viereckiger Tisch und einige Regale mit sorgfältig aneinander gereihten Büchern. 

Perlen und Muscheln, unregelmäßig und wild verstreut, hingen in langen Ketten vor dem Eingang zu einem anderen, einem weiteren, dunklen Raum dahinter. Ein Badezimmer? Eine Küche? 

„Das ist meine Schmiede“, sagte sie, als sie sah, wie er dorthin blickte. Stolz schwang in ihrer Stimme leise mit. „Wo ich meine Pfeile mache. Ich koche dort auch. Man braucht ja nicht mehr als eine Feuerstelle.“ 

Sie ging hinüber und schaltete ein kleines Licht an. Strom auch noch? 

„Lebst du hier alleine?“, fragte Marley, die sich mit weit aufgerissenen Augen umsah. Sie war das zerlumpteste, unordentlichste Element in dem Zimmer – eine Ausnahmesituation für eine Frau, die früher einmal nur Designerlabel trug und jede Woche Wellness-Termine gehabt hatte. 

„Fang und ich.“ Zoë zeigte zu einer Ecke mit einem flachen Kissen und zwei Schüsseln. An den Wänden dahinter befanden sich noch mehr Bücher. „Er kommt und geht, aber das ist sein Platz.“ 

„Es ist wunderschön. Ich habe so etwas Warmes und Einladendes seit ... oh Gott ... seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen.“ Marley versagte die Stimme und ohne auf eine Einladung zu warten, sank sie auf einen niedrigen, rechteckigen Ottomanen-ähnlichen Sessel nieder. 

„Meine Großmutter war ein Maschinenbauingenieur“, sagte Zoë, der Stolz war immer noch zu hören. „Sie und ihr Mann haben den Wechsel überlebt und haben sich ein eigenes Haus gebaut, wo sie lebten, Gemüse anbauten und Tiere hielten, bis er zwei Jahre später starb. Sie hat mir alles beigebracht.“ 

Dann schien sie sich wieder zu versteifen, sie merkte, sie war gerade weich geworden, und ihre Gesten wurden etwas abgehackter. „Ich besorge etwas zu essen. Bleibt hier.“ 

Zoë rauschte ab, aber Fang blieb sitzen, als ob er ein wachsames Auge auf sie beide behalten wollte. Quent war mehr als nur ein bisschen von Neugier und auch Lust angestachelt und ging zu den Buchregalen hin. Was würde eine so bärbeißige Frau wie Zoë lesen, wenn sie von ihren Jagdausflügen zurückkam? Bevor er hier eingetroffen war, hätte er getippt, ihre Leidenschaft wäre ... nun, Bücher gewiss nicht. Und falls doch, dann wären es Bücher über Kriege und Waffen und die Jagd. Wie hieß die Zeitschrift doch gleich noch? Field & River? 

Aber jetzt, wo er ihr gemütliches Heim gesehen hatte, dachte Quent, dass sie vielleicht eher lüsternen Groschenromanen zugetan wäre. Im Harem mit Scheichen. 

Er lag falsch. Zoës Bibliothek bestand größtenteils aus Krimis. Viele der Bücher waren die gebundene Ausgabe, wo die Schutzumschläge entweder fehlten oder mit Plastikfolie geschützt, was sie als Bibliotheksbücher auswies. Einige davon kannte er, andere nicht: Christie, Anne Perry, Kellerman, Cornwell, J.D. Robb, selbst Hammett. 

Aha. Mit Sam Spade als Nachtlektüre konnte er sie sich gut vorstellen. 

Quent fielen auch die vielen doppelt oder dreifach vorhandenen Bücher auf und sah, dass diese – wie zu erwarten war – in unterschiedlich gutem Zustand waren. Mit Wasserflecken, angeschimmelt, zerfetzt, mit fehlenden oder unleserlichen Seiten. Verbrannt oder etwas verkohlt. 

„Ein paar davon gehörten meiner Nanaa“, sagte Zoë, als sie mit ein paar leeren Tellern in der Hand hinter den leise klickernden Perlen wieder in Erscheinung trat. Eine Duftwolke von etwas, das köstlich roch, kam mit ihr ins Zimmer und Quent wurde dadurch daran erinnert, wie hungrig er eigentlich war. „Andere habe ich im Laufe der Jahre gefunden. Ich war scheißsauer, als ich einmal am Ende von einem anlangte und die letzten paar Kapitel dann komplett unlesbar waren. Ich habe drei Scheißmonate gebraucht, um eine weitere Ausgabe davon zu finden, also fange ich ein Buch jetzt erst an, wenn ich es mehr als nur einmal habe.“ 

Sie stellte die Teller auf den niedrigen Tisch und Quent war geistesgegenwärtig genug zu fragen, „soll ich dir bei irgendetwas helfen?“ 

Zoë schaute ihn an, so als ob sie versuchte sein Talent in der Küche – was, um ehrlich zu sein, Schrott war – einzuschätzen, und schüttelte den Kopf. „Ich brauche niemanden, der mir im Weg steht.“ Und verschwand mit einem Rascheln der Perlen wieder nach hinten. 

Surreal. Das Ganze war mehr als surreal. 

Hier, inmitten dieser Oase aus Wärme und Behaglichkeit, zusammen mit dieser spröden Frau mit dem dreckigen Mundwerk. Die jetzt doch tatsächlich im Hinterzimmer Abendessen kochte, als wäre es eine Dinnerparty. Und Marley Huvane, die mit einem Kristall in ihrer Schulter hier saß. 

Diese Erinnerung ließ Quent mit voller Wucht wieder an all seine Wut und seine Enttäuschung denken und er drehte sich zu Marley. 

„Die Frau ist ein echtes Teufelsweib“, sagte diese mit einem bewundernden Atemzug. „All das hier ganz alleine zusammengetragen und eingerichtet zu haben. Ich selber habe ja nicht einmal zwei Wochen in dieser Wildnis durchgehalten.“ 

Ob sie das nun als eine Überleitung zu dem Thema gemeint hatte, das Quent plagte, seit er sie wiedererkannt hatte, oder nicht – er beschloss es als solche aufzufassen. „Du bist schon seit zwei Wochen auf der Flucht vor den Fremden?“ Er versuchte den abfälligen Ton zu mildern, aber war sich nicht sicher, ob ihm das gelungen war. 

So unvorstellbar es schon gewesen war sich vorzustellen, dass sein Vater – dieser verhasste, narzisstische Mann – ein Mitglied des Kult von Atlantis war, es überstieg seine Vorstellungskraft, dass Marley auch eine von ihnen sein sollte. 

Aber sie streckte die Hand nach ihm aus, ihre Finger schlossen sich um seinen Arm, „Quent, ich weiß nicht, wie es kommt, dass du jetzt hier bist, und auch nicht, was du dabei alles hast durchmachen müssen, aber du musst verstehen. Ich wollte das nicht. Mein Vater hat mir nicht erzählt, was passieren würde. Er hat mir nur gesagt, dass wir uns in Sicherheit begeben, weil es einen Atomkrieg gab.“ Ihre Stimme wurde schwach und dünner und sie schaute zu ihm hoch, ihre Augen brannten vor Wut. „Als ich dann herausfand, was passiert war ... das war, als– warum ich weggerannt bin.“ 

Er stieß ein kurzes, hartes Lachen aus und löste sich aus ihrem Griff. „Fünfzig Jahre später hast du Position bezogen und bist weggerannt? Du hast ein scheißhalbes Jahrhundert gebraucht, um herauszufinden, dass dein Kult die gesamte Menschheit zerstört hat, damit sie ewig leben könnten? Fünfzig Jahre? Um festzustellen, es war ein Fehler?“ 

„Es ist nicht mein Kult!“, schrie sie. „Verdammt, Quent.“ Sie senkte die Stimme zwar, aber die Stimme zitterte ihr immer noch vor Wut. „Was denkst Du dir denn, wie ich mich gefühlt habe, als ich es schließlich herausfand? Ja, ich habe eine ziemliche Weile dafür gebraucht – fast dreißig Jahre, bevor ich herausfand, alles war eine Lüge. Alles war eine einzige Lüge. Und es hat dann noch viele Jahre gebraucht, bis ich meinen Verdacht auch nachweisen konnte und bis ich einen Fluchtweg ausgetüftelt hatte.“ 

„Fluchtweg?“, sagte Quent, der sich zwingen musste seine Stimme skeptisch klingen zu lassen. Aber es fiel ihm zunehmend schwerer, das zu tun. Er glaubte ihr. Er kannte Marley und trotz seines Bedürfnisses, jemandem wehzutun, glaubte er ihr. 

„Ja! Hast du denn geglaubt, die lassen mich einfach gehen, damit ich jedem erzählen kann, was ich weiß? Nicht dass ich so viel wüsste.“ Sie lachte bitter. „Und selbst als ich dann von dort entflohen war, bin ich ja nicht sehr weit gekommen.“ Ihre Stimme wurde ernst und sie sah an ihrem dreckigen Hemd herab. 

„Und das Schlimmste ist...“, ihre Stimme war nur noch ein gequältes Flüstern. „Oh Gott. Quent ... ich habe diesen verdammten Kristall. Diesen furchtbaren, furchtbaren Kristall in mir drin. Ich kann ihn nicht herausnehmen. Sonst sterbe ich. Und wenn ich es nicht tue ... werde ich ewig leben.“ Tränen stiegen ihr in weit aufgerissene Augen. Augen voller Pein. „Ich habe nicht darum gebeten. Ich wollte das nicht. Ich bin eines Tages einfach damit in meinem Körper aufgewacht.“ 

„So haben sie das also gemacht?“, fragte er nach, wobei ihn das Grausen packte. Grausen und erneuter Ekel. 

Sie nickte und fasste sich wieder etwas, als sie sich eine Haarsträhne hinter das Ohr steckte. „Ich hatte keine Ahnung, was los war. Sie – mein Vater, und...“ Sie hielt inne und schaute zu ihm hoch, als ihre Stimme verstummte. 

„Meiner.“ 

Marley nickte. „Parris war einer der Speerspitzen, Quent. Er und eine kleine Gruppe von anderen waren diejenigen, die es alles organisiert haben. Mein Vater, tja, der – der hat davon profitiert, genau wie der ganze Rest von denen. Aber er gehörte nicht zum Inneren Kreis.“ 

„Sie brauchten nur sein Geld. Und ja, ich weiß über Fielding Bescheid“, sagte Quent. „Und das ist auch der Grund, warum ich dich brauche.“ Er warf ihr einen deutlichen Blick zu. „Ob du nun willst oder nicht, du wirst mir helfen.“ 

„Was hast du vor?“ 

„Was denkst du dir denn, was ich vorhabe? Den heimkehrenden, verlorenen Sohn spielen und um meinen eigenen Kristall bitten? Ich werde den Schweinehund Scheiße nochmal umlegen.“ 

„Das ist unmöglich“, sagte Marley und schüttelte den Kopf. Sie kreuzte die Beine und schaffte es noch irgendwie, in dieser Stellung elegant zu wirken, trotz ihres dreckigen, tränenbesudelten Gesichts und der zerknitterten Hose. 

In dem Moment kam Zoë herein, in den Händen hielt sie eine flache Schüssel mit einem Deckel drauf und ein flaches Bündel Stoff. Unglaublich köstliche Düfte kamen mit ihr an den niedrigen Tisch heran. 

„Mein Gott, kochen kann sie auch noch?“, murmelte Marley, als Zoë wieder in dem anderen Raum verschwand. 

„Was auch immer es ist, es riecht unglaublich.“ Quent wurde bewusst, wie hungrig er war. Das letzte Mal hatte er gestern Nachmittag gegessen, als sie ihr Nachtlager für die Jagd aufgeschlagen hatten. „Und ich werde einen Weg finden und du wirst mir dabei helfen.“ 

„Selbst wenn du an ihn rankommst, wie willst du es überhaupt anstellen? Er wird dich nicht einfach den Kristall aus seinem Fleisch schneiden lassen. Und das ist der einzige Weg. Glaub mir, ich weiß das.“ Sie schaute weg. „Ich habe schon selbst darüber nachgedacht.“ 

„Es muss einen Weg geben. Ich werde es schaffen oder ich sterbe eben beim Versuch.“ 

Genau da kam Zoë wieder herein, diesmal brachte sie eine Teekanne und ein paar Tassen mit und auch wenn sie seine letzte Bemerkung gehört haben musste, verriet sie das mit keiner Miene. „Esst, bevor der Fraß kalt wird“, sagte sie – mit der ihr eigenen Anmut. 

Die Mahlzeit bestand aus dünnem, braunem Brot, das Naan hieß, und dann aus frischen Tomaten, Karotten und Avocados, mit Koriander und Salz bestreut. Sie hatte auch eine Art Geflügel in der Pfanne geschmort und es mit Zitrone und Kümmel gewürzt. In der Kanne war ein fast dunkelbrauner Tee, der immer noch warm war. 

„Das ist Tee, der aus Canela gemacht wird“, erklärte sie ihm, als er danach fragte. „Meine Großmutter hatte einen Zimtbaum aus ... Mexiko?“ Quent nickte zur Bestätigung und sie fuhr fort, „der vor dem Wechsel in ihrem Garten wuchs. Sie hat ihn gerettet und schaffte es an jedem Ort, an dem sie lebte, einen Baum anzupflanzen. Canela ist nur die Rinde.“ 

Dann – als wollte sie jede weitere Art von Gespräch mit Quent unterbinden – schaute Zoë zu Marley, „wenn wir hier fertig sind, kann er dich zum Fluss bringen. Er liegt da.“ Sie zeigte mit dem Finger vage in eine Richtung. „Ich habe zu tun.“ 

Marley schaute zu Quent und dann wieder zu Zoë. „Ich könnte ein Bad ganz gut vertragen. Ich ... ähm ... ich habe keine anderen Kleider.“ 

Zoë schaute betont deutlich auf Marleys üppigen Vorbau. „Ich habe nicht viel, was dir passen würde.“ Dann schienen ihr ihre Pflichten als Gastgeberin wieder einzufallen, so widerwillig sie das auch akzeptierte. „Aber ich schaue mal.“ 

Quent brachte es fertig die unbekannten Gegenstände und Tassen zu benutzen, ohne zuzulassen, dass die Erinnerungen der Objekte ihm den Kopf füllten. Obwohl sie an den Rändern seines Bewusstseins kratzten wie ein niedriges Summen, eine Rauschstörung, gelang es ihm, sie dort festzunageln. Fortschritt. Definitiv Fortschritt. 

„Erzähl mir von dem Gelände, wo Fielding lebt“, sagte er zu Marley. Je eher er planen konnte, desto besser. 

„Es liegt im Meer“, sagte sie. „Eine Insel, eine schwimmende Anlage, etwa fünf Kilometer vor der Küste. Sie haben es Scheiße nochmal Mekka genannt – von allen grauenerregenden Dingen, die ihnen hätten einfallen können: ein Symbol der Zerstörung nach einem heiligen Ort zu benennen.“ Sie schüttelte den Kopf, Bitterkeit sprach deutlich aus ihrer Geste. „Es gibt da eine lange Brücke, die dort hinführt, und der einzige Zugang zur Brücke ist ein Tor, das von kristallierten Sterblichen bewacht wird. Von KS.“ 

„Du meinst von der Elite?“ 

Sie schüttelte den Kopf. „Wenn wir Elite sagen, meinen wir – sie – nur die Leute, die vor der Evolution schon gelebt haben. Vor dem Wechsel.“ 

„Mitglieder des Kult von Atlantis.“ Marley nickte. „Ja, oder Leute wie ich, die Familienmitglieder waren, die man mitnahm und denen man die unsterblichen Kristalle verpasste.“ 

„Wie viele gibt es denn?“ 

„Vielleicht dreihundert Elite.“ 

„Nur so wenige?“ Shit. Dreihundert Leute hatten die Massenvernichtung der Menschheit der Welt verursacht und die Veränderungen auf dem gesamten Planeten bewirkt. Die Jahreszeiten geändert und laut Lou und Theo hatte sich ja selbst die Erdachse verschoben. 

„Wir haben uns nicht vermehrt. Nun, die Frauen können das nicht mehr. Die Männer schon, aber sie müssen normale Sterbliche schwängern. Das war auch, wie ich anfing aufzudecken, dass das, was passiert war, nicht so war, wie man es mir erzählt hatte. All diese jungen, gebärfähigen Mädchen fingen an aufzutauchen. Es war wie in Die Geschichte der Dienerin.“ 

Übelkeit stieg in ihm hoch. „Und die KS? Was genau sind die?“ 

„Die sind auch unsterblich, aber sie waren ursprünglich nicht Mitglieder im Kult. Das sind Leute, denen man einen Kristall und die Unsterblichkeit gegeben hat, aber erst in den letzten fünfzig Jahren. Manche der Frauen haben sich ihre Lustknaben kristallieren lassen. Oder sogar ihre verdammten Haustiere.“ Sie schaute ihn unter gesenkten Wimpern hervor an. „Ich habe das nicht getan. Aber nur, weil David Beckham bei der Elite nicht mit von der Partie sein durfte.“ 

„Haben die denn das echte Atlantis gefunden?“, fragte Quent. „Geht es hier nur darum?“ 

Marleys Lippen schürzten sich, als sie kurz nachdachte. „Sie haben etwas gefunden, vermute ich mal. Aber ganz sicher weiß ich es nicht, Quent. Sie haben alles ziemlich gut unter Verschluss gehalten und als ich dann anfing Fragen zu stellen, noch viel mehr. Aber ... schau, diese unsterblichen Kristalle müssen ja irgendwo herkommen. Vielleicht vom Meeresgrund, vielleicht aus Atlantis, vielleicht keines von beidem. Ich weiß, dass der Innere Kreis der Elite – der IKE oder ganz kurz IK – das Gelände in regelmäßigen Abständen verlässt. Niemand weiß, wo sie dann hingehen, aber sie könnten entweder nach mehr von den Kristallen schürfen oder irgendwo anders hingehen. Nach Atlantis.“ 

„Ein paar Freunde von uns, ein Zwillingspärchen aus der Zeit vor dem Wechsel, hat sich etwa ein Jahr nach all den Ereignissen in Satelliten gehackt. Sie haben eine neue Landmasse im Pazifischen Ozean gesehen, der jetzt übrigens ganz Kalifornien bis Las Vegas bedeckt. Ist das das Gelände, von dem du sprichst?“ 

„Was?“, sagte Marley. Ihre Augen waren jetzt riesig und er sah, wie alle Farbe aus ihrem Gesicht entwichen war. „Ich hatte keine Ahnung.“ Sie schüttelte den Kopf und sah aus, als wäre ihr genauso übel wie ihm. „In Mekka bist du vom Rest der Welt – was auch immer übrig ist – komplett abgeschnitten. Bevor es mir gelang, von dem Gelände zu fliehen, hatte ich keine Vorstellung, wie der Rest der Erde aussah. Ich habe dann auch wirklich eine Wüste erwartet. Wie in dem ... ähm, dem alten Mel Gibson Film ... Mad Max? Ich meine, was ist denn mit all den Atomkraftwerken? Was ist mit denen passiert und dem Atommüll? Da drum herum muss doch jetzt meilenweit Super-Gau-City sein.“ 

„Oder zumindest war es so. Selbst Tschernobyl wird – wurde zehn Jahre nach dem Unfall wieder grün.“ Er kam wieder zum Thema zurück. „Wenn das Gelände also nur acht Kilometer vom Festland liegt, dann kann es nicht diese abgetrennte Landmasse sein, die sie gesehen haben.“ 

„Gott, vielleicht haben sie Atlantis wirklich gefunden“, flüsterte Marley. 

„Aber wie? Ist es einfach vom Meeresgrund hochgestiegen? Unmöglich. Und ich habe mich mit der Legende befasst. Atlantis war entweder eine Insel im Mittelmeer, vermutlich vor Griechenland irgendwo. Oder im Atlantik. Niemand hat es je im Pazifik vermutet.“ 

„Da hat sich jemand geirrt. Oder es ist nicht Atlantis. Es ist etwas anderes.“ 

„Nun, fürs Erste will ich an Fielding rankommen. Wo liegt Mekka?“ 

Marley schaute ihn etwas hilflos an. „Quent, du musst verstehen, ich bin um mein Leben gerannt. In einer Umgebung, die mir gänzlich unbekannt war. Und dann haben die Marcks mich erwischt. Ich bin nicht sicher, ob ich dir helfen kann es zu finden.“ 

„Kannst du nicht oder willst du nicht?“ 

Sie holte einmal tief Luft und ließ die wieder entweichen. Und schaute weg. „Es ist zu gefährlich.“ 

„Das hast du verdammt nochmal nicht zu entscheiden, Marley.“ 

Bevor Marley etwas erwidern konnte, stand Zoë abrupt auf und fing an die Teller einzusammeln. Quent machte Anstalten ihr zu helfen, aber sie warf ihm einen Blick zu und sagte, „nimm sie mit zum Fluss. Ich habe hier scheißviel zu erledigen und möchte nicht gestört werden.“ Und sie drehte sich um und ging wieder hinten durch den Perlenvorhang hinaus. 

„Denke, du hörst mal besser auf sie“, sagte Marley mit einem Funken von ihrem alten Humor wieder in den Augen. 

Und das war der Moment, als Quent aufging, was Zoë da tat. Sie trennte das Band zwischen ihnen durch. Jagte ihn fort – in jeder Hinsicht. 

Er schaute Marley an, die trotz dieses kurzen ironischen Moments um die Augen immer noch sehr müde aussah. Und auch ihre Haut war recht bleich. Aber sie war ihm vertraut. Und sie verstand ihn und seine Silberlöffel-im-Mund-Welt auf eine Art und Weise, die Wyatt und Elliott nie begriffen hatten. 

„Also dann“, sagte er. 

Genau da schritt Zoë wieder ins Zimmer, wobei sie die Perlenschnüre etwas brüsker zur Seite schob als nötig und ging zu einer Truhe, die auf der anderen Zimmerseite an der Wand stand. Sie wühlte eine Weile darin herum und zerrte ein paar Kleidungsstücke hervor, verwarf einige davon und wickelte die restlichen zu einem Bündel zusammen und schob den Haufen aus Stoff dann Richtung Marley. 

„Das Wasser ist schön zum Schwimmen. Hier ist Seife, falls du dich waschen willst. Die Sonne geht in etwa zwei Stunden unter, also hast du genug Zeit dich zu amüsieren.“ 

Geht nur schön spielen, Kinderchen. Quent konnte es fast hören, wie sie es sagte. Viel Spaß. 

Kein Problem. Er streckte die Schultern nach hinten und erwiderte, „wir kommen dann wieder.“ 

Das Letzte, was er noch hörte, als er Marley aus dem Zimmer folgte, war das Scheppern der Teller und das leise, bedrohliche Knurren von Fang. 

Als ob er sagen wollte, endlich sind wir die Kerle los. 

Ein dreckiges Mundwerk hatte der Hund. Genau wie seine Herrin. Wenn er nicht so niedergeschlagen wäre, hätte Quent bei dem Gedanken vielleicht sogar lächeln können. 

 

.   .   .

 

Zoë wurde nicht ruhiger, bevor sie nicht gehört hatte, wie Fang zu seinem Bett lief und sich niederließ. Das ganze Essen über war er auf seinem Wachtposten verblieben und hatte ihre Gäste böse angefunkelt, wie Zoë es selber auch gerne getan hätte. 

Nun, zumindest was Marley Huvane betraf. Die sich nicht die Mühe gemacht hatte ihr Hemd wieder zuzuknöpfen. Und hatte die ganze Zeit ihr beachtliches Dekolleté vor einem Paar blauer Augen zur Schau gestellt, seitdem sie hier eingetroffen waren. 

Sie wusch das Geschirr so schnell wie möglich ab und stellte es dann zum Abtropfen auf. Nachdem sie Fang mit den Resten gefüttert hatte, was er wirklich gut fand, holte Zoë tief Luft. 

Was jetzt? 

Sie fühlte sich merkwürdig. Irgendwie aus dem Gleichgewicht, was nie vorkam. Vielleicht hatte sie etwas gegessen, was ihr nicht bekommen war. 

Die Sonne würde bald untergehen. Sie sollte auf die Jagd gehen, aber das würde sie von ihrem Heim wegführen und Quent und Marley hier zurücklassen. Sie könnte tagelang unterwegs sein auf der Jagd nach Ganga, wenn sie zu weit wanderte, um es vor Einbruch der Dunkelheit wieder hierher zu schaffen. Was bedeuten würde, die beiden wären allein hier. In ihrem Haus. 

Auf gar keinen verdammten Fall würde sie das zulassen. 

Sie könnte mehr Pfeile machen. Sie sollte mehr Pfeile machen. Gestern Nacht wären sie ihr fast ausgegangen und wenn das passiert wäre und sie da allein gewesen wäre ... keine scheißguten Nachrichten. 

Ihr stand aber auch nicht der Sinn danach, das zu tun. 

Wenn sie sich eine Nacht Pause von der Jagd gönnen wollte, wie sie es gelegentlich tat, rollte sie sich normalerweise mit einem Buch im Bett zusammen und las. Mit Fang in der Nähe und einer Tasse Tee. 

Aber Quent und Marley würden zurückkommen. Nass und glitschig und– 

Mensch, Scheiße nochmal. Das war nun nichts, woran sie denken wollte. 

Warum zum Teufel nagte es dann so an ihr? Sie hatte keinerlei Ansprüche, was ihn betraf. 

Zoë setzte die Tasse mit einem lauten Rums ab, die glücklicherweise aus Zinn gemacht war, und goss sich mehr Canela ein. Er konnte tun und lassen was er wollte, zur Hölle nochmal. 

Genau wie Zoë auch. Sie nickte Fang zu und nahm einen Riesenschluck Tee. Sie verbrannte sich die Scheißzunge und alles. Und sie blinzelte, um Tränen und Schmerz zu unterdrücken, wobei sie leise fluchte. Verdammt. 

Was zum Teufel machte sie da, verschwendete nur ihre Zeit? Sie hatte zu viel zu tun und jetzt wo Marley da war, musste sie sich keine Sorgen um den blonden Intelligenzbolzen machen. Marley könnte sich um ihn kümmern. 

Den war sie los. 

Ja, Marley mit den großen Titten und den saftigen Kurven und den Augen auf Quent. Sie hatten eine gemeinsame Vergangenheit. Oh ja, Zoë hatte das sofort geschnallt. Fickfreunde, vielleicht auch echte Geliebte. Der Schmerz und der Verrat in seinen Augen, der Schock und die Freude – und dann dieses Verletzt-Sein – in ihren. 

Was auch immer zwischen den beiden vorgefallen war, sie würden es schon klären. Da unten am Fluss. 

Nur zu. 

Und dann könnten sie sich aus dem Scheißstaub machen und aus ihrem Haus verschwinden und sie hätte ihr altes Leben dann wieder. 

 

.   .   .

 

Quent hörte das Platschen hinter ihm und erst dann drehte er sich um, um zu Marley zu sehen – im Fluss. Sie ragte aus der sanften Strömung heraus, ihr Haar war glatt nach hinten gestrichen. Selbst mit der untergehenden Sonne hinter ihr, die ihn blendete, konnte er ihre Freude spüren. 

„Du brauchst das Wasser?“, sagte er, als er sich auf einen riesigen, umgefallenen Baumstamm nahe beim Ufer setzte. Es gab keinen nennenswerten Strand, nur einen breit ausgetretenen Pfad durch das Gras und das Unterholz, der von den Überresten der alten Straße in der Stadt da oben bis hierher führte. 

Ihm fielen auch weitere Anzeichen für Zoës Eigenheim-Arbeiten auf – an der Seite von einem Gebäude in östlicher Richtung waren drei Solarzellenplatten festgemacht und ein primitives Wasserrad versteckte sich unter einer Brücke. Kleine Anzeichen, die man leicht übersehen konnte – es sei denn man suchte ganz bewusst danach. 

So wie er. 

„Ja. Ohne kann ich nicht leben. Und das Wasser hier ist wunderbar“, sagte Marley, als sie in der Flussmitte strampelte. „Du siehst elend aus. Komm auch rein. Und ich erzähle dir mehr davon.“ 

Zum ersten Mal seit Zoë sie gefunden hatte, sah sie wie die Marley aus, die er gekannt hatte. Ihr Gesicht war sauber, ihr Haar glatt und ihre Augen funkelten. Und auf der rechten Seite ihrer Brust, genau unter ihrem Schlüsselbein, sah er den kleinen Kristall. Es war immer noch zu hell dafür, das Leuchten davon zu bemerken, also sah er jetzt einfach nur aus wie eine halbe, hellblaue Murmel, die ihr an der Haut klebte. 

Er schaute zu dem wirren Haufen von Kleidern, die über einem Busch hingen, bemerkte ihr weißes Hemd, die graubraunen Hosen und den blauen BH mit dem passenden Höschen, die sie eilig ausgezogen hatte. Er konnte sich denken, was passieren würde, wenn er sich zu ihr gesellte – es passierte immer. Mit ihm und Marley zusammen. 

Sie kannten sich schon, seit sie Teenager waren, seit er mit dem Schwein zusammen wohnte, der sein Vater war. Brandon Huvane, der Gründer einer erfolgreichen Biochemie-Firma, und Fielding waren enge Geschäftspartner gewesen und die beiden Familien hatten oft gemeinsame Ferien verbracht. 

Und sein ganzes restliches Leben hindurch hatten die Huvanes und die Fieldings sich immer in den gleichen Kreisen bewegt. Und sehr oft, wenn Marley und Quent bei denselben Anlässen zugegen waren – Benefizveranstaltungen, Premieren, Partys –, fanden sie die Gelegenheit ihre jeweiligen Begleiter loszuwerden und sich für eine Weile aus dem Staub zu machen. Manchmal knutschten sie oder bumsten, manchmal tratschten sie einfach nur über die anderen Gäste. 

Quent zog sein Hemd aus und fing an sich die Hose aufzuknöpfen. Der Fluss sah wirklich einladend aus. Dunkelblau mit Rot und Orange, als die Sonne am Horizont unterging. Noch eine Stunde Tageslicht und dann würden sie wieder reingehen müssen oder riskieren den Ganga zu begegnen. 

Seine Gedanken huschten zu Zoë, als er seine Unterhosen abstreifte und auf das Wasser zuging. Ein unbehagliches Gefühl, das man fast als Schuldgefühl hätte definieren können, nistete sich in seinem Hinterkopf ein, aber er ignorierte es. Sie hatte ihn weggeschickt. Mit Marley. 

Es war klar, was sie wollte. 

Und abgesehen davon hatte sie schon mehrmals versucht ihn loszuwerden. 

Und sie hatte wahrscheinlich Recht: er und Marley passten viel besser zueinander. Sie hatten so viel gemein. Sie verstanden sich. Sie kamen aus der gleichen Welt. 

Sie waren beide von ihren Vätern betrogen worden. 

Er lief ins Wasser hinein, schnell ging es ihm bis zu den Hüften. Die Kühle fühlte sich verdammt gut an und er tauchte kopfüber ein, um dann ein Stück von Marley entfernt wieder aufzutauchen. 

Es fiel ihm da auf, dass er sich wenige Stunden zuvor in der gleichen Situation mit einer anderen Frau befunden hatte, und zu der Zeit hatte er erwartet, dass es komplett anders ausgehen würde. Die inneren Bilder von warmen, schlanken Gliedmaßen, die ineinander glitten; harte, hungrige Münder, die aufeinander krachten, hatten ihn heute Nachmittag heiß gemacht, als er Zoë nachschwamm. Er hatte jenen Augenblick der Jagd genossen, diesen Nervenkitzel der Vorfreude. 

„Also“, sagte er, als er sich wieder zu seiner gegenwärtigen Begleiterin zurückbrachte. Er trat mit den Füßen im Wasser, damit ihn die Strömung nicht davontrieb, und fragte sie, „du brauchst das Wasser zum Heilungsprozess?“ 

„Als Energiequelle“, erklärte sie ihm. Sie waren weit genug voneinander entfernt, dass ihre tretenden Beine nicht aneinander schlagen würden, aber nahe genug, dass sie sich in normaler Lautstärke unterhalten konnten. „Ich war zu lange von fließendem Wasser entfernt. Deshalb konnten die Marcks mich gefangen nehmen. Andernfalls“, fügte sie grimmig hinzu, „stelle ich mir gerne vor, dass es mir gelungen wäre, den Vorsprung beizubehalten. Ich habe zumindest genug Grips zu verstehen, was für Verstecke es in einem Gebäude vielleicht geben kann – Hintertreppen, Feuerleitern, du weißt schon. Und was für Gegenstände ich darin finden kann. Es ist mir gelungen, in einen Heimwerkermarkt zu gelangen, und ich habe im Gang für Werkzeug eine Säge gefunden, die eine sehr wirkungsvolle Waffe war.“ 

„Ich habe gesehen, wie du mit Raul Marck gekämpft hast. Du hast die Säge da verflucht gut zum Einsatz gebracht. Du hast ihn fast getötet.“ 

„Ein gutes Werk.“ 

„Erzähl mir von den Kristallen.“ 

Sie nickte, tauchte ab und tauchte dann wieder mit ihrem Haar am Kopf angeklebt wieder auf. „Die Kristalle sind lebende Wesen. Sie können ohne die Energie von fließendem Wasser nicht überleben. Solange wir in der Nähe davon sind, geht es uns gut. Und ich könnte auch eine Weile davon weg sein, aber nicht allzu lange. Wie ich jetzt gelernt habe.“ 

„Du hast den Kristall wirklich nicht gewollt?“, fragte er, seine Augen blieben daran hängen. 

Marley schaute ihn einen Moment lang an – eine ganze Reihe von Emotionen huschten über ihr Gesicht. „Ich kann nicht im Ernst glauben, dass du das fragst. Unsterblichkeit ist die eine Sache, nehme ich mal an, und jep, es gibt Zeiten, da möchte ich nicht sterben. Letzte Nacht zum Beispiel, da war ich mir ziemlich sicher, jetzt ist alles vorbei, bis ich Raul Marck noch ein letztes Mal mit der Säge erwischen konnte und mich dann fortstahl. Aber es erzwungenermaßen eingepflanzt zu bekommen? Und um den Preis? Gott, Quent. Ich dachte, du würdest mich besser kennen.“ 

Sie tauchte wieder in das Wasser ein, wobei sie ihm – sicherlich mit voller Absicht – einen Blick auf ihren glatten Arsch werfen ließ. Als sie wieder an die Oberfläche kam, war sie etwas weiter weg. „Und jetzt erzähl mir von Zoë. Sie ist ja ein echtes Sahneschnittchen. Die Martha Stewart der Postapokalypse. Und das meine ich überwiegend positiv.“ 

„Sie ist außerdem auch noch eine verflucht gute Zombie-Jägerin.“ 

„Diese Anziehung zwischen euch beiden überrascht mich“, sagte Marley mit einem wissenden Lächeln. „Im Allgemeinen suchst du doch eher den etwas raffinierteren Typ.“ 

„Es sind derzeit nicht mehr so viele Filmstars oder High Society Girls im Umlauf“, sagte er. „Das erschwert es ein bisschen, jemanden zu finden, der den Unterschied zwischen Beluga und Osietra-Kaviar kennt.“ Er lachte, aber selbst in seinen Ohren klang es etwas hohl. 

„Weißt du“, sagte Marley, als sie näher zu ihm paddelte. Ihr Fuß streifte sein Bein und er konnte die drei kleinen Schönheitsflecken auf ihrem rechten Wangenknochen sehen. Ebenso die Oberseite ihrer Brüste, die im Wasser schwebten. Und jetzt, da die Sonne hinter ein paar Bäumen versunken war, konnte er ein schwaches Leuchten des Kristalls erkennen. „Ich hatte mir immer vorgestellt, wenn du damit fertig bist, weitere Kerben in deinen Bettpfosten zu ritzen und damit, allem aus dem Weg zu gehen, was irgendwie eine echte Intimität wäre – und ich dann auch irgendwann herausgefunden hätte, was ich werden will, wenn ich groß bin –, dass wir dann endlich zusammen kämen.“ 

Sie legte den Kopf fragend zur Seite und schaute ihn mit einem leisen Lächeln an. Und für einen kurzen Augenblick stolperte er auch wieder in jene Zeit zurück, erinnerte sich an die unkomplizierte Kameradschaft zwischen ihnen. Seine Augen wanderten zu ihrem Mund, zu den breiten, vollen Lippen, die sie hasste, weil sie sagte, sie sähen wie ein Pferdemaul aus. Er sagte, sie würden ihn an Julia Roberts erinnern. Sie sagte ihm, an einem guten Tag sähe er aus wie Robert Redford. 

Dann überraschte Marley ihn und machte eine Wendung nach hinten, wie eine scheue Meerjungfrau. Ihre Brüste leuchteten kurz hell auf und blieben dann aber züchtig unter dem stetig dunkleren Wasser verborgen. 

Bevor er nachdenken konnte, was er – denn er selber hatte sich oft das Gleiche gedacht, ganz tief drinnen, wenn er mit sich selber ehrlich war – sagen sollte, fluchte Marley. „Verdammt. Ich habe die Seife dort drüben gelassen.“ 

Sie schwamm wieder ans Ufer und anscheinend völlig unbekümmert, was ihr Nacktsein betraf, nahm sie den kleinen Topf Seife. Sie fischte sich etwas davon heraus und watete wieder bis zu ihren Hüften hinein und fing an sich einzuseifen. 

Quent schwamm zurück und stieg aus dem Wasser, mit dem Rücken zu ihr, so dass sie ein bisschen Freiraum bekam, und zog sich seine Shorts wieder an. Dachte nach. 

Er kannte sie. Er würde sich bei Marley keine Sorgen machen müssen, dass sie sich fortstahl, nach unglaublichem Sex einfach in die Dunkelheit entschwand. Tagelang verschwand. 

Sie war witzig und klug und sexy. Sie war ein armes, kleines, reiches Mädchen für seinen armen, kleinen, reichen Jungen. Und beide waren sie in diese neue Welt verpflanzt worden, wo sie nichts mehr besaßen. 

„Nun“, sagte sie, „verrätst du mir nun, was vorgefallen ist, und wie du jetzt hier bist?“ 

„Ich wünschte, ich wüsste das“, sagte er zu ihr und erklärte ihr das mit der Höhle. 

Als er am Ende angelangt war, was ungefähr mit dem Zeitpunkt zusammenfiel, als sie platschend ans Ufer kam, sagte Marley, „du weißt wirklich nicht, ob du unsterblich bist wie ich oder ob du nur eine Zeitreise gemacht hast oder ob etwas anderes passiert ist.“ 

„Ich habe den Ausdruck kyrotechnisch eingefroren verwendet, aber ich nehme mal an, eine Zeitreise hätte es auch sein können. Ich kann es mir nur damit erklären, dass Sedona dafür bekannt ist, ein Zentrum starker Energieströme zu sein, wie Ley-Linien. Und wenn es zu einem starken Beben kommt, dann macht das, dass sie zu stark aufgeladen werden oder sich irgendwie vernetzen. Eine ungeheure Energiezunahme dadurch wäre dann eine Erklärung.“ 

„Du warst schon immer fasziniert von derlei Dingen – Erklärungen dafür, wie man die Pyramiden gebaut hat und auf eine ganz bestimmte Weise in einer Linie angeordnet hat, mit ... was war es noch gleich? Den Osterinseln? Oder Machu Picchu? Auf der anderen Seite der Erde.“ 

„Die Osterinseln. Und mit ein paar Erhebungen auf dem Meeresboden.“ Er kicherte leise. „Also hast du mir all die Male doch zugehört, während ich endlos darüber palaverte.“ 

„Und über die verlorenen Schätze, die du bergen wolltest, und Atlantis.“ 

Bei der Erwähnung von Atlantis hielt er inne. „Du musst wissen, dass sie – unsere Väter und die anderen – alle Mitglieder in dem Kult von Atlantis waren, bevor das hier passiert ist“, sagte er. 

„Ja ... aber, guter Gott, Quent, wie hast du das denn herausgefunden? Ich habe Jahre gebraucht und ich habe mit ihnen zusammengelebt.“ 

Er zuckte mit den Schultern und entschied sich, ihr vorerst noch nichts von der Widerstandsbewegung zu erzählen. „Ich habe ein Teilchen vom Puzzle ans andere gelegt.“ 

Er konnte hören, wie sie sich hinter ihm anzog und brachte das Gespräch wieder zurück zu seinen Erfahrungen. „Wie ich gerade sagte: Einer von den Männern, die mit uns in der Höhle waren, ist gestorben, nachdem wir da herausgekommen waren. Also ist es ziemlich offensichtlich, dass wir nicht unsterblich sind. Und obwohl ich mich in den letzten sechs Monaten lediglich einmal rasieren musste, haben ein paar der anderen bemerkt, dass ihnen die Barthaare und die Fingernägel wieder wachsen.“ Er zuckte die Achseln. „Was auch immer es war, vielleicht hat es uns nur für eine Weile vom Altern oder anderen Veränderungen abgehalten und unsere Körper müssen sich jetzt erst wieder auf normal umstellen.“ 

„Ich bin soweit“, sagte Marley und lief um ihn herum, so dass er sie sehen konnte. „Und es wird schon dunkel. Mein kleiner Freund hier leuchtet.“ Obwohl sie da ein kurzes Lachen ausstieß, hörte er die Bitterkeit in ihrer Stimme. 

Sie trug eins von Zoës Trägerhemden, das viel zu sehr über ihren Brüsten spannte und freie Sicht auf den Kristall gab. Er konnte auch sehen, dass sie die Cargohose nicht hatte zuknöpfen können. Immerhin war der Reißverschluss ganz geschlossen. 

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin dich gefunden zu haben, Quent. Ich habe dich vermisst.“ Sie schaute zu ihm hoch und er konnte Trauer und Hoffnung in ihren Augen erkennen. „Es war wie einen Freund wiederzufinden, nachdem man fünfzig Jahre lang einsam war. Fünfzig Jahre, in denen man in den Spiegel schaute und immer exakt die gleiche Person gesehen hat, jeden Tag. Weißt du“, sagte sie, ihre Stimme ganz angespannt, „dass ich seit fünfzig Jahren einen abgebrochenen Nagel habe, der nie wieder nachgewachsen ist? Und dass ich mir nie die Beine enthaaren oder die Augenbrauen zupfen oder die Haare schneiden lassen musste – Gottseidank sahen meine Haare ganz gut aus an dem Tag, an dem sie mir den verfluchten Kristall eingepflanzt haben. Ich habe mich keinen Deut verändert. Seit fünfzig Jahren.“ Tränen funkelten ihr in den Augen und drohten gleich überzulaufen. 

„Ich kann mir das nicht vorstellen“ erwiderte er. „Du musst sie hassen.“ Ein neuer Anflug von Wut erinnerte ihn daran, wie sehr er seinen Vater hasste. Und dass Arbeit vor ihm lag, dass er selbst sich auch rächen musste. 

„Das tue ich“, sagte Marley und die Stimme brach ihr vor Wut und Verzweiflung. „Und ich bin so lange einsam gewesen. Ohne einen Freund, niemand, mit dem ich reden konnte.“ Und da war sie auch schon in seinen Armen und er hielt sie ganz fest umschlungen, fühlte, wie ihre Schultern zitterten und wie feuchte Tränen seinen Hals nass machten. „Verdammt“, schnüffelte sie. „Ich habe geschworen nicht zu heulen. Aber ich bin so wütend – und so froh dich gefunden zu haben, Quent.“ 

Leise gab er beruhigende Laute von sich, streichelte ihr mit seinen großen Händen den Rücken lang und spürte, wie das Wasser von ihren Haarspitzen über sie tropfte. Und als Mann war er sich der zwei vollen, runden Brüste, die sich da an ihn drängten, nur zu bewusst. Und als Mann rührte sich dann auch ein kleines Etwas da unten, in den unteren Gegenden seines Körpers – aber das war purer Instinkt. 

„Sie werden mich weiter verfolgen“, sagte sie, ihre Stimme etwas gedämpft bei all den Tränen und an seiner Haut. „Hilfst du mir einen Ort zu finden, wo ich mich verstecken kann?“ 

„Natürlich. Auch ich habe deine Hilfe nötig. Ich muss alles wissen, was du mir über sie erzählen kannst.“ 

„Du wirst nie an ihn rankommen, Quent“, sagte sie und tat einen Schritt zurück, um ihn anzusehen. „Er lebt auf einem abgesicherten Gelände zusammen mit anderen Elite, darunter auch mein Vater, und es gibt keine Chance da unbemerkt hineinzugelangen oder herauszukommen. Ganz zu schweigen davon, an ihn ranzukommen.“ 

„Ich werde einen Weg finden. Und du wirst mir dabei helfen.“ 

„Hörst du denn überhaupt zu? Es gibt keinen Weg, Quent. Ich sage es dir nochmal. Ich habe dort gelebt. Man wird dich töten, bevor du auch nur so weit kommst, um dort etwas ausrichten zu können. Und töten kannst du ihn ohnehin nicht.“ 

„Doch, Wenn es mir gelingt, dem Arschloch seinen Kristall aus der gottverdammten Haut zu schneiden.“ 

„Quent, bitte ... können wir nicht auf eine andere Art Rache nehmen?“ 

„Es ist alles, was ich noch tun kann, Marley. Ich habe sonst nichts. Ich habe kein Geld, keinen Einfluss, keine Fertigkeiten. Himmel Herrgott, ich war ein Möchtegern-Indiana-Jones, der in Abenteuer zog, die nichts bedeutet haben, der Geld ausgab; und ich habe versucht, mich umbringen zu lassen, damit ich für Bonia Telluscride oder Lissa Mackley ein paar gute Geschichten auf Lager hatte, um sie rumzukriegen. Und jetzt ist all das futsch und ich habe rein gar nichts mehr, außer dem Drang und das Ziel meinen Vater zu töten. Wenn ich bei dem Unternehmen dann sterbe – oder auch nur beim Versuch –, dann habe ich alles gegeben, was ich konnte. Es gibt für mich hier keinen Platz mehr.“ 

Marley schüttelte den Kopf. „Da redest du dich jetzt schlecht, Quent. Du hast vergessen, dass ich dich schon seit ... nun, seit sehr langer Zeit kenne. Seit über sechzig Jahren, obwohl eine Frau niemals zugeben sollte jemanden schon so lange zu kennen. Und jawohl, du bist all das. Aber nach der Reise nach Haiti hast du dich so sehr verändert. Das war, als du endlich anfingst erwachsen zu werden.“ 

Er schnaubte. „Ja, ja. Die Reise, zu der ich mich nur gemeldet habe, um meinem Vater eins auszuwischen. Kaum war ich aus dem verdammten Flugzeug ausgestiegen, wollte ich kehrtmachen und so schnell wie möglich zu meiner Luxuswohnung in Neapel zurück. Es war die verdammte Hölle dort.“ 

„Aber du hast nicht kehrtgemacht. Du bist geblieben und hast dir die Hände wund geschuftet bei den Arbeiten an dem Krankenhaus. Und du bist Wyatt und Elliott begegnet. Und als du zurückgekehrt bist, warst du anders. Du wolltest es nicht zeigen, aber so war es. Und denk ja nicht, dass ich nichts von deinen Spenden weiß – die Hunderttausende, die du später gestiftet hast. Und diese andere humanitäre Sache, wo du dann nach Malawi gegangen bist.“ 

„Das war nur, um Madonna auf einer ihrer Adoptionsreisen zu treffen und mit ihr ins Bett zu gehen“, wandte er locker ein. 

„Quent.“ Ihre Stimme war jetzt wie Stahl und in ihm begann etwas sich aufzudröseln, sich zu lösen. 

„Es stimmt alles. Aber mir stehen all die Mittel nicht mehr zur Verfügung, Marley. Ich tauge hier für niemanden zu Scheiße gar nichts, außer um nahe genug an Parris Fielding heranzukommen und ihn zu töten. Oh, der wird mich schon sehen wollen. Er ist Egomane genug, so dass ich nahe genug an ihn herankomme. Und dann ... nun, wir werden sehen, was dann passiert.“ 

„Du hast vielleicht das Geld nicht mehr, Quent, aber du bist immer noch dieselbe Person. Innen drin. Und ... ich will nur nicht, dass dir etwas passiert, jetzt wo ich dich wiedergefunden habe“, sagte sie und glitt wieder in seine Arme. Sie zog sein Gesicht zu ihr herab für einen Kuss. 

Marley, Marley ... war alles, was er dachte. 

Er küsste sie auch, ihre Lippen waren kühl von dem Wasser, ihre beiden Körper warm, die Münder vertraut im Umgang miteinander. Glatt und tief und alles, was sich gut anfühlte. 

Beide zogen sich im selben Moment zurück und er sah, dass sie ihn schief anlächelte. „Nun“, sagte Marley, während sie ihm freundschaftlich die Wange tätschelte, „wenn das nicht der unkonzentrierteste, pflichtschuldigste Kuss war, den ich je bekommen habe.“ 

Quent blinzelte und öffnete den Mund, um es abzustreiten, aber sie schüttelte schon den Kopf. „Wenn du soweit bist, dass du Zoë hinter dir lassen willst, und ich weiß, das wirst du wollen, so lange werde ich auf dich warten. Aber ich werde nicht mehr dein Trostpreis sein.“ Sie rümpfte die Nase. „Ich bin in den letzten fünfzig Jahren erwachsen geworden“, fügte sie mit einem kleinen Lachen hinzu. „Und auch wenn ich immer auf dich warten werde, Quent, werde ich nicht mehr die Spielchen spielen, die wir immer gespielt haben.“ 

„Das ist nur fair“, sagte er, während er sich immer noch fragte, was mit seinem Kuss nicht in Ordnung gewesen war. Und da sie schon beim Thema waren und er – trotz allem – immer noch ein Mann war, fragt er dann, „ja, dann. OK. Uhm ... was nimmst du denn derzeit zur Empfängnisverhütung?“ 

Marley brach in schallendes Gelächter aus und stupste ihn leicht in die Seite, als sie sich wegdrehte. „Jetzt erzähl mir nicht, dass du enthaltsam lebst und dass das der Grund ist, warum die Luft zwischen euch beiden so knistert.“ 

„Nicht ganz“, sagte er und dachte an die zwei ... oder drei Male, wo er sich nicht rechtzeitig hatte rausziehen können. 

Verdammt nochmal. Zoë könnte von ihm schwanger sein. Jetzt schon. Es überlief ihn heiß und gleich darauf fühlte er sich restlos leer. Was würde sie tun, wenn sie herausfand, dass sie schwanger war? 

„Da kann ich dir nicht weiterhelfen“, sagte Marley und er hörte den dumpfen, toten Klang in ihrer Stimme. „Ich habe schon fünfzig Jahre lang meine Tage nicht mehr gehabt. Ich brauche zur Empfängnisverhütung nichts mehr zu nehmen. In den ersten Jahren habe ich dann auch wirklich jeden Kerl gevögelt, der mir unterkam, nur um zu vergessen, was passiert war.“ Sie sah ihn an und aus ihrem Gesicht war jeglicher Humor verschwunden. „Du weißt schon, der Scheißatomkrieg, der die ganze Welt zerstört hat. Inklusive dir.“ 

„Kapiert“, sagte er. Was hätte er sonst sagen können. Seine Gedanken waren schon wieder zurück zu dieser heimeligen Zufluchtsstätte zurückgekrochen, wo Zoë gerade mit Fang abhing. 

Oder ... das Herz blieb ihm stehen. Sie war vielleicht nicht mehr da. Weg. Jagen. Brachte sich wieder in Gefahr. 

Oder weg ... nur weg. Nur ... weg. 

„Lass uns zurückgehen“, sagte er, noch als er versuchte seine Lungen wieder normal arbeiten lassen.