SECHS

 

 

Was zum Teufel habe ich mir dabei nur gedacht? 

Seit sie und Quent Envy verlassen hatten, stellte sich Zoë diese Frage immer wieder – auf unterschiedliche Art und Weise und stets mit einer wechselnden Auswahl von Flüchen unterlegt. 

Kaum begann das Licht der aufgehenden Sonne den Himmel zu erleuchten – denn sie waren gerade in Quents Zimmer zurückgekehrt, als die Abenddämmerung sich über die Stadt legte, und der Rest der Nacht war mit verschiedenen, lustvollen Beschäftigungen vergangen –, als sie sich vorsichtig aus dem Bett schälte. Er schnarchte den Schlaf eines restlos befriedigten Mannes. Sein geschmeidiger, goldener Körper unter den zerwühlten Laken ausgebreitet. 

Der Anblick allein war schon Versuchung genug, um sich wieder neben ihm ins Bett gleiten zu lassen, aber Zoë war klug genug es nicht zu tun. Dann wäre es bereits Mittag, bis sie aufbrachen und sie hatte noch Arbeit vor sich. 

Arbeit, die sie in den letzten paar Tagen ganz sträflich aus den Augen verloren hatte. Bei dem Gedanken kitzelte es sie geradezu innerlich – eine andere Art von Kitzeln als das, das Quent ihr immer so gut bescherte – und es wurde ihr sogar ein wenig übel. Zoë wusste: jede Nacht, die sie mit etwas anderem als mit der Jagd auf Zombies verbrachte, war eine, in der diese Kreaturen jemanden angriffen und in Stücke rissen. Auf Befehl von Raul Marck. 

Die Großmutter von jemandem. Oder Vater, Schwester, Freund, Geliebte ... solange er am Leben war, zerstörte er Menschen und Familien mit seinen faulig-fleischigen Monstern. 

Schon der Gedanke machte sie fast kaputt, machte, dass sie innerlich zerbrach; und ihre Welt leer. Es gab keinen anderen Zweck, keinen anderen Grund, warum sie noch am Leben war außer Rache, außer die Welt von Raul Marck zu befreien. Und von so vielen Ganga, wie sie nur töten konnte, einen nach dem anderen. 

Zoë hatte keine Zeit für die Art von Ablenkung, die Quent ihr bescherte, so befriedigend die auch sein mochte. Es wäre sogar noch schlimmer, wenn er immer um sie war. Was zum Teufel ist nur mit mir los? Ich arbeite alleine. Ich lebe alleine. Ich bin alleine. 

Also kroch sie im Zimmer umher, wie sie es schon mehrere Male zuvor getan hatte, sammelte ihre Dinge ein, wagte dabei kaum zu atmen. Er würde stinksauer sein, aber sie schuldete ihm nichts. 

Sie hatte ihm bereits das Leben gerettet. Was erwartete er denn noch? Er sollte derjenige sein, der ihr einen Gefallen tat – und sie Scheißhölle nochmal in Ruhe lassen. 

Zoë gestattete sich keinen letzten Blick zurück auf das Bett, obwohl ihr das Herz dabei schwer wurde. Lautlos drückte sie die Türklinke runter und schlüpfte hinaus in den Flur. Der Puls raste ihr, die Handflächen feucht, als sie die Tür langsam wieder schloss und losging, wobei sie sich den Köcher um die Schulter schlang. 

Sie kam unten an, nachdem sie ohne Verzögerung die Treppen hinunter – sein Zimmer musste ja unbedingt im sechsundzwanzigsten Stock liegen, was arschunbequem war aus einer ganzen Reihe von Gründen – gerannt war, bevor sie ihr Tempo etwas verlangsamte. 

Für Schuldgefühle hatte sie an diesem Morgen keine Zeit, also verdrängte sie das Bild von Quent, der aufwachte und dann sehen würde, dass sie fort war. Er hatte sie zu der Abmachung gezwungen und er hatte keine Rechtfertigung dafür gehabt, das zu tun. Die einzige Schuld, die sie auf sich nahm, war, dass sie nichts getan hatte, um ihre Familie zu retten, und dass sie seit drei Tagen keinen einzigen Ganga getötet hatte. Das war der längste Zeitraum, den sie hatte verstreichen lassen, ohne Ganga-Hirnbrei zu produzieren, seit sie angefangen hatte sie zu jagen. 

Und sie war richtig angepisst deswegen. Und es lag alles an Quent. 

Sie bog um die Ecke und wollte geradewegs zur Ausgangstür und ... heiliger Scheißarsch Dreckskarren nochmal, da war er. Er stand dort: groß, achtunggebietend und kochte vor Wut. 

Für einen Moment verschlug es ihr die Sprache und dann setzte sie verzweifelt zum Gegenangriff an. 

„Wie bist du Scheißhölle nochmal hierher gelangt?“, platzte es aus ihr heraus, Hände automatisch in die Hüften gestemmt, als sie versuchte sich verärgert zu geben. Es war natürlich Bullshit, denn ihre Knie sackten ihr fast weg und ihr Magen war längst irgendwo woanders hinuntergesackt, als sie ihn sah. Scheiße. Scheiße. Scheiße! 

„Ich bin schneller als du“, sagte er knapp. Seine Augen – oh je, seine Augen waren nicht mehr heiß und sanft und glitten über sie wie ein Versprechen. Jetzt brannten sie vor Wut und starrten sie an, ausdrucklos und hart wie braune Glasscherben. „Und anscheinend auch schlauer. Weil ich so was wie das hier vorausgesehen habe.“ 

Zoë verlagerte das Gewicht. „Nun, da du schon mal da bist, lass uns Teufel nochmal aufbrechen.“ Was blieb ihr denn sonst übrig? Verflucht. 

Sie schritt rasch an ihm vorbei, aber seine Hand schnellte hervor und packte sie am Arm, zerrte sie so schnell zurück, dass sie stolperte. Zoë fand das Gleichgewicht wieder und fuhr herum, ihre eigene Wut schnitt ihr tief ins Fleisch. 

„Nimm deine Scheißhand da weg.“ 

„Ich wiederhole“, sagte er genauso eisig, aber auch ganz ruhig, „das war nicht das, was du gestern Nacht gesagt hast.“ 

„Letzte Nacht ist vorbei. Ich meine es ernst.“ 

„Ja“, sagte er sehr leise. So leise, dass sich die Härchen an ihrem Nacken aufstellten, als hätte etwas Kaltes sie da gestreift. Ihr Magen war ein einziger harter Klumpen. „Und wir hatten eine gottverdammte Abmachung.“ 

„Also gut dann. Lass uns aufbrechen.“ Sie zerrte und er ließ ihren Arm los. Sie konnte immer noch die Kuhlen von seinen Fingern spüren und ein Blick dorthin verriet ihr, dass sie sich dort weiß auf ihrer dunklen Haut abzeichneten. „Fass mich nicht nochmal an.“ 

Seine Antwort darauf war ein spöttisches Lachen, halb Schnauben. Dann bedeutete er ihr mit einer herrischen Geste voranzugehen. 

Also tat sie es. Sie passierten die Tore von Envy gerade in dem Moment, als die Sonne am Horizont erschien. Und dann machte er sie echt scheißwütend. 

„Okay. Was ist denn nun der Plan?“, fragte er, als er kurz neben einem heruntergekommenen Gebäude Halt machte, das wohl mal ein Haus gewesen war. Das große Quadrat geborstenen Betons war verziert mit unordentlichen Reihen von Gräsern und einer bunten Mischung aus Wildblumen. So weit ausgedehnt, dass es sich vielleicht sogar um Häuser gehandelt haben mochte. 

Sie waren bereits außer Sichtweite der Wachtposten und die Landschaft erstreckte sich vor ihnen: hügelig, grün, hie und da ein Haus noch von vor dem Wechsel und auch ein paar Schilder aus der Zeit. Im Osten lag Ackerland, die hohen Ähren von Mais wiegten sich sanft in der Morgenbrise. Und dahinter erstreckten sich hohe Berge in fast jeder Richtung, als würden sie Envy und seine Umgebung umarmen. 

„Ich gehe dahin, wo Ganga sind“, sagte sie zu ihm. Und tagsüber war sie selten unterwegs und wäre es auch jetzt nicht, wenn er sie dort im Zimmer nicht so scheißschnell überredet hätte – mit seinem weichen Bett und seinen geschäftigen Händen und dem Mund. Erneut schoss ein Feuerball von Wut und Ärger durch Zoë, sie presste ihre Lippen zusammen. Warum Scheiße nochmal habe ich zu dem hier ja gesagt? 

„Zu Fuß? Mit Pferden?“ 

„Schau, Quent, wenn du nicht mit mir Schritt halten kannst–“ 

„Also gut, dann reisen wir auf meine Art.“ Seine Lippen waren ebenso schmal wie ihre. „Es ist verdammt holprig, aber wir können viel Strecke schaffen und notfalls auch nachts reisen.“ 

Sie starrte wütend zu ihm hoch, bereit es ihm mit gleicher Wut heimzuzahlen, aber sein Gesichtsausdruck ließ sie augenblicklich verstummen. Sie war deswegen nicht weniger wütend, aber sie entschied sich, jetzt lieber mal etwas vorsichtiger zu sein. Seine Augen waren so wütend, so kalt. 

Er ging zu der riesigen Metalltüre an der einen Seite von dem alten Haus und während Zoë zuschaute, hob er diese hoch, vom Boden weg; benutzte seinen Fuß als Hebel und dann seinen Arm, um sie den restlichen Weg nach oben aufzustemmen. Zu ihrer Überraschung schob sich die Türe nach oben hinten glatt ins Haus hinein weg. Aber als sie sah, was da drin wartete und was Quent vorhatte, wich sie zurück. 

„Scheiße nochmal, nie im Leben.“ 

Innen drin stand eines dieser großen, schwarzen Vehikel, die Raul Marck und die Fremden benutzten, um sich fortzubewegen. Es glänzte bösartig, während sie zusah, wie Quent darauf zuging. Er zögerte für einen Moment, dann öffnete er eine der Türen, während sie im Geiste zurücksprang – zu jener Nacht, als sie zum ersten Mal eins dieser Ungetüme gesehen hatte. Lichter, die das Dunkel zerschnitten, das unheimliche, leise Grollen vom Motor, das Knirschen der Räder auf der Erde, als es wegfuhr, weg von der Zerstörung, die seine Insassen verursacht hatten. 

Das gleiche Knurren eines Motors heulte jetzt auf ... bei Tage. Und sie hörte, wie der Lärm sich veränderte, als sich das Vehikel aus dem Haus hinaus in Bewegung setzte – die große Kraft und dann das Quietschen, als es mit einem kleinen Ruckeln zum Stillstand kam. 

Quent öffnete die Tür und stieg aus und schloss diese rollende Tür am Haus wieder. „Los geht’s, Zoë“, sagte er. „Steig ein.“ 

Zoë stellte fest, dass ihre Hände eiskalt waren. Ihr Puls jagte nur so durch ihren Körper. Wie konnte sie auch nur in so etwas Großem und Schwarzem sitzen? Etwas, das rumpelte und grollte und schrie? Sie wäre gefangen. Drinnen. 

Er kam auf sie zu und sie erstarrte, wobei sie ihr Gesicht ausdruckslos hielt. 

„Was ist los?“ Seine Stimme war ein klitzekleines bisschen sanfter, in seinen Augen stand ganz leise angedeutet eine Frage. Aber seine Körperhaltung war immer noch steif und sie wusste, seine Wut war nur kurz beiseite geschoben, aber noch lange nicht weg. 

„Ich mag die Dinger nicht. Ich würde lieber zu Fuß gehen.“ 

„Wir werden Raul Marck schneller finden. Es ist die geschickteste Methode für uns – und das ist auch, warum die Elite sie immer noch benutzen, selbst wenn die Straßen komplett am Arsch sind.“ 

Zoë schaute das böse, schwarze Ding an, holte tief Luft und lief auf die andere Seite davon zu. Sie brauchte etwas länger als eigentlich nötig, um herauszufinden, wie man die Tür aufkriegte, und dann begriff sie, dass es so hoch war, dass sie auf eine Stufe klettern musste, um hinein zu gelangen ... aber sie hielt die Luft an und zwang sich es zu tun. 

Ihr Magen war ein einziges Gewurstel und ihr war übel, als sie sich auf dem zerschlissenen Ledersitz niederließ und ihren Köcher und das Bündel auf den Boden gleiten ließ. Das Innere roch wie ... etwas. Sie wusste nicht was. Aber es war ihr nicht vertraut. Dann begriff sie, dass sie sich strecken musste, um die Tür wieder zu schließen. Die ganze Zeit über sagte Quent kein Wort. Er schien sie nicht einmal zu beobachten. 

Er musste total scheißangepisst sein. 

Nun, das war sie verdammt nochmal auch. 

Zoë schluckte heftig, als er mit dem Arm an ihr vorbei langte, um sich etwas zu greifen. „Anschnallen“, befahl er, dann schickte er sich an, das Metallende an dem Gurt in eine Halterung mit einem scharfen Klick reinzuschieben. Ohne sie auch nur zu streifen. 

Zoë merkte da, dass sie sich hoch über dem Boden befand und dass sie viel weiter sehen konnte als zu Fuß. Sie krallte sich am Rand des Sitzes fest, als das Gefährt mit einem unfreundlichen Satz losfuhr und dann auch weiterhin heftig ruckelte und hüpfte. 

Ein Anflug von Panik überkam sie und sie holte tief Luft. Quent mochte rasend vor Wut sein und sprachlos vor Zorn. Vielleicht fasste er sie nie wieder an – was absolut in Ordnung war – und er ließ sie vielleicht irgendwo stehen. Aber sie fürchtete sich nicht vor ihm. 

Er mochte aussehen, als wolle er ihr gleich den Hals umdrehen, aber das würde er nicht. Das wusste sie genau. 

Also lehnte Zoë sich auf ihrem Sitz zurück und gab ihm Anweisungen, wie sie zu dem Ort kommen würden, wo sie Remy gefunden hatte. Da das der letzte Ort gewesen war, wo sie Raul Marck gesehen hatte, würden sie dort beginnen. 

Und sie würden, das musste sie widerstrebend zugeben, in diesem schwarzen Ungeheuer wesentlich früher dort eintreffen, als wenn sie sich zu Fuß aufgemacht hätten. 

Oh Gott, das gab ihr dann noch den Rest, dass – zu allem anderen an ihm noch – er obendrein auch hier noch Recht behielt. 

 

.   .   .

 

Den Rest des Tages über gestattete Quent es sich kaum Zoë anzuschauen, obwohl er sich jeder ihrer Bewegungen sehr wohl bewusst war und ebenso jeden verdammten Atemzug merkte, den sie tat. 

Selbst ein gebranntes Kind, hatte es ihm die Augen geöffnet und er trat den Rückzug an. 

Sie waren zu etwas gefahren, was einmal ein kleines Gebiet Downtown, irgendeine typische US-Hauptstraße, gewesen war – wenn man diese holprige, ruckelnde Fortbewegungsart fahren nennen konnte. Hier hatte Zoë Raul Marck gesehen und die Frau gerettet, die sich als Remington Truth entpuppt hatte. Da sie dort gerade um die Mittagzeit herum ankamen, hatten sie jede Menge Tageslicht, um nach Reifenspuren zu suchen und diese zu finden, denen sie dann in östlicher Richtung folgten, bis sich die Spur des niedergedrückten Grases und der abgebrochenen Zweige verlor. Es war sehr mühselig gewesen: alle paar Meter hatten sie angehalten, um die Spur wieder zu finden und in welche Richtung sie sich nun fortsetzte. Aber das war Zoës Arbeit und sie war verdammt gut im Spurenlesen. 

Und immer wenn sie sich bückte, um die Spur zu untersuchen, kam Quent dann in den zusätzlichen Genuss ihren perfekten Hintern zu betrachten, in dieser tief auf den Hüften liegenden Hose, die sie so gerne trug. 

Als sie die Spur verloren hatten, war ihr einziger Plan, dann weiter in Kreiseln zu fahren von dort aus, wo die Spur endete, und so zu versuchen sie irgendwo wieder aufzunehmen oder, als die Nacht hereinbrach, zu sehen, ob sie irgendwo die Vorderlampen eines Fahrzeuges entdeckten, das den Marcks gehören – oder das sie zu ihnen führen – könnte. Jetzt war es schon fast Abenddämmerung und sie hatten sich in einer Mittelschichtswohngegend niedergelassen, um auf die Nacht zu warten und dann zu jagen. 

Er schaute kurz dort hinüber, wo Zoë in einem Topf eine Art Suppe umrührte, die aus zwei Wildvögeln gemacht war und die ihn an Rebhuhn, Erbsen und Karotten erinnerte. Er war beeindruckt gewesen, als sie aus ihrem Bündel ein kleines Beutelchen gezogen hatte und dem Gericht getrocknete Kräuter, Salz und sogar Chilischoten hinzufügte. Es roch verdammt lecker und er war hungrig und vielleicht erklärte das auch, warum sie immer ein bisschen nach Zimt roch. 

„Meine Naanaa sagte immer, wenn du schon kochst, dann tu es am besten richtig“, hatte sie ihm erklärt, als er eine Bemerkung zu dem Gewürzbeutelchen machte. „Selbst unter ganz primitiven Bedingungen.“ 

Sie hatte ein kleines Feuer gemacht, in etwas, was mal eine Badewanne gewesen war, und dann darauf gekocht. Dabei verwendete sie einen Topf, der ganz offensichtlich schon seit dem Wechsel in Gebrauch war. Sie schien sich in der Tat in diesem alten Gebäude so gut auszukennen, dass ihm aufging, sie müsse schon einmal hier gewesen sein. 

„Legst du hier öfter einen Zwischenstopp ein?“, fragte er, während er sich gegen die Wand im Flur außerhalb des Badezimmers zurücklehnte. Das war, nachdem er die Möglichkeit in Augenschein genommen hatte, auf einem alten Lehnstuhl Platz zu nehmen, und die Idee verworfen hatte, als er feststellte, was jetzt da drin lebte. Er hatte nichts gegen Mäuse, aber er musste auch nicht unbedingt auf Tuchfühlung mit ihnen gehen. 

„Ja“, antwortete sie. Sie hockte sich neben der Badewanne hin und diese tiefsitzende Hose löste sich vom unteren Ende ihres glatten Rückens. Quent schaute weg und ließ seinen Blick dem aufsteigenden Rauch nachwandern, wie der durch einen Sprung in der Fensterscheibe nebendran davonwehte. 

Es bestand kein Grund den aufsteigenden Rauch ihrer Feuerstelle zu verbergen, aber er hatte den Humvee in eine alte Garage hineingefahren und das Tor geschlossen. Ein paar Wochen zuvor hatten Elliott und Jade das Vehikel beschlagnahmt, nachdem sie den Elite-Fahrer fortgejagt hatten. Und seither hatten sie es immer dort in der alten Garage außerhalb von Envy geparkt gelassen, damit jedes Mitglied der Widerstandsbewegung es sich nehmen konnte. 

Zuerst waren sie etwas in Sorge es zu benutzen und keinen Treibstoff mehr zu haben, aber Wyatt und Fence hatten unter die Kühlerhaube gespäht und ein paar echt knifflig aussehende Batterien entdeckt, welche den Motor antrieben und die sich während der Fahrt wieder aufluden. Quent hatte den Humvee heute Nacht versteckt, weil niemand wollte, dass die Elite Wind davon bekam, dass sie einen Truck „erworben“ hatten. Sie könnten misstrauisch werden, was für andere Informationen, Technologien oder Fähigkeiten der Widerstand sonst noch in petto hatte. 

Ein Teil der Stärke von der Elite bestand darin, die Menschen in Unkenntnis und unwissend zu halten und ihre eigene Technik zu diesem Zweck einzusetzen. 

Quent schaute auf seine Hände in Handschuhen runter und ihn überkam plötzlich wieder der Widerwille. Er hasste es, sie so oft tragen zu müssen, aber an fremden Orten riskierte er lieber nichts. Dort in Envy in seinem Zimmer und an den anderen Orten, die er oft aufsuchte, war es leichter geworden die Erinnerungen abzuwehren. Es war, als ob sich sein Körper an sie gewöhnte, wenn sie nicht mehr neu oder ihm bereits vertraut waren. 

Er war vorsichtig gewesen, was er berührte, nachdem er erst mal die alte Garage geöffnet und – wo er dann die Handschuhe angezogen hatte – den Humvee herausgefahren hatte. Bis jetzt. Der Trick bestand auch darin – so hatte er mittlerweile gelernt –, wie er etwas berührte und in welcher mentalen Verfassung er sich da befand, wenn er es tat. Solange er seine Fingerkuppen dabei nicht benutzte, „las“ er gar nichts. Und wenn er doch etwas mit den Fingerkuppen berührte und sich konzentrierte und es plante, gelang es ihm langsamer in die Erinnerungen hineinzufallen ... oder sie sogar auf Abstand zu halten. Manchmal.  

Aber er musste darauf vorbereitet sein. Und deswegen war er in dieser Gasse da hingefallen, er hatte nicht damit gerechnet, das alte Auto anzufassen, und das war es gewesen, was ihn in die tiefe, dunkle Grube gezerrt hatte. 

Ein recht angenagtes Buch lag neben ihm auf dem Boden und er streckte die Hand danach aus, nachdem er einen Handschuh abgestreift hatte. Ruhig und gelassen, ganz bei sich und konzentriert, hob er es hoch. Die Erinnerungen und Bilder zupften an ihm, aber er hielt sie von sich weg, stemmte sich gegen das bunte Gewirr am Rande seiner Wahrnehmung. 

Aber eine schlüpfte dennoch durch die Barriere: ein lachendes Mädchen, vielleicht so um die zehn; ihr blondes Haar zu Haarzöpfchen gebunden, ihre Hände strichen glättend über den Bucheinband, schoben es dann in etwas Dunkles, Abgeschlossenes – einen Rucksack – und die Erinnerung drohte ihn mit sich fortzureißen ... aber Quent beherrschte den Impuls und zwang sich die Wand vor ihm mit ihren Rissen anzuschauen. Realität. Die alte Steckdose, verrostet und schimmlig. Ein kaputtes Tischbein. Seine abgewetzten, dreckigen Wanderstiefel. 

Und er atmete tief ein und aus, als er das Buch wieder auf dem Boden ablegte. 

Es wurde einfacher. 

Wenn es nur mit dem Rest auch so wäre. 

Er blickte zu Zoë, die gerade die duftende Mahlzeit in zwei flache Schüsseln schaufelte. 

Ihm brannte immer noch die Wut im Bauch. Wut, Schock, Verrat. Tief in ihm war etwas fast erstickt, als er sie heute Morgen beobachtete hatte, wie sie ihre Habseligkeiten aufsammelte. 

Er hatte erwartet, dass sie es versuchen würde, aber hatte gehofft, sie würde es nicht tun. Er hatte es mit einer solchen Inbrunst gehofft, dass – als er sie tatsächlich die Tür öffnen sah, ohne einen Blick zurück – er sie fast hätte ziehen lassen. 

Aber nein. Sie war die erste echte Chance für ihn seinen Vater wirklich zu finden – sie kannte sich in der Gegend offensichtlich gut aus und sie war auf der Suche nach Raul Marck. Ein Kopfgeldjäger hätte Verbindungen zur Elite und auch Mittel und Wege, um mit ihnen in Kontakt zu treten. Und das war genau das, was Quent brauchte. 

Einen Zugang zur Elite. Einen Weg sie zu finden. Zu erfahren, wo sie lebten – und wo er Fielding aufspüren könnte. 

Aber sonst brauchte er absolut scheiß gar nichts von ihr. 

Nicht mehr. 

Sie hatte ihren Standpunkt unmissverständlich klar gemacht. 

Zoë ging jetzt auf ihn zu und bot ihm eine der Schalen sowie einen Löffel an. Dann lief sie weiter. Hinaus in Richtung eines ehemaligen Schlafzimmers. Quent sammelte seine Handschuhe wieder ein und kam auf die Beine, er war einverstanden mit ihrem Vorschlag in einem etwas größeren Raum zu essen. 

„Das ist sehr gut“, sagte er, nachdem er sich neben einem alten Bett niedergelassen und einen ersten Löffel voll gegessen hatte, immer noch ohne Handschuhe – er testete sich selbst gerade mit dem Löffel zwischen seinen Fingern. Konzentrierte sich auf den Geschmack, den Geruch, seine Umgebung. Das Kitzeln der Erinnerungen knabberte am Rande seines Bewusstseins, aber er konnte sie auf Abstand halten und nach einer kurzen Weile gaben sie auf und ließen ihn in Ruhe essen. 

Ein kleiner Sieg. Aber dennoch, ein bedeutender. 

Mit dreißig hatte Quent in den besten Restaurants der Welt gespeist, die Crème de la crème der Köche hatte ihn bekocht und er hatte sogar selber ein paar Versuche in seiner eigenen Küche gestartet, als er eine recht interessante Woche mit Soulange Putenade als Gespielin verbrachte, die als der nächste Escoffier gefeiert wurde, die aber verdammt viel hübscher war als das Original. Ebenso hatte er an den schrecklichsten Orten gegessen – auf Haiti, in der Wildnis von Nepal, in den Bergen von Peru und in den Dörfern von Kambodscha und Zimbabwe. Alles – von mopane Würmern über Schlangenfleisch bis hin zu momos. Und größtenteils hatte er es auch alles genossen, insbesondere die nepalesischen momos. 

Aber vielleicht nicht ganz so sehr wie dieses köstliche Essen hier. In diesem heruntergekommen Haus. Mit der Frau ihm gegenüber. 

Zoë hatte zum Dank für sein Kompliment genickt, während sie zu seiner Linken im Schneidersitz dasaß, von wo aus sie aus einem schmutzigen Fenster rausschauen konnte. Die Sonne war schon fast untergegangen, aber ein großer Lichtstreif wanderte ihr noch über die glänzenden, schwarzen Haare, die vollen Lippen und die zarte Kurve ihres Bizeps. Quent setzte sich etwas um und schaute weg. 

„Du hättest Raul Marck also getötet, wenn du die Chance bekommen hättest. Ihn einfach so umgelegt?“, fragte er. „Keine weiteren Fragen.“ 

„Scheiße, ja“, antwortete sie. „Ohne zu zögern.“ Ihre Augen schauten ihn jetzt ruhig an, groß und braun, eine Form wie Mandeln. „Willst du damit sagen, du würdest den Mann, der dir alles genommen hat, nicht abknallen?“ 

Oh, du machst dir keinen Begriff davon, zu was ich fähig bin. „Das will ich damit nicht sagen“, erwiderte er. „Ich würde nur wissen wollen, warum er es getan hat. Warum meine Familie, warum mein Dorf. Bist du nicht neugierig?“ 

„Nein. Ich will das Schwein tot sehen.“ Sie setzte ihre leere Schüssel mit lautem Klappern ab. „Die Sonne is’ bald weg. Ganga werden unterwegs sein. Du bleibst hier.“ 

Quent machte sich nicht die Mühe zu antworten. „Ich muss mit Raul Marck reden, bevor du ihn tötest.“ 

Zoë schnaubte. „Die Chance wirst du nicht kriegen. Ich töte ihn, sobald ich ihn sehe.“ 

Er versuchte sie sich vorzustellen, wie sie den Bogen von einem hoch gelegenen Aussichtspunkt hob, eine Art Steinzeit-Scharfschütze, ein skrupelloser Mörder ... und er wusste, sie war dazu fähig. Aber der Gedanke beunruhigte ihn. „Keine weiteren Fragen? Du würdest den Mann kaltblütig abschießen?“ 

„Er hat meine Familie kaltblütig umgebracht“, entgegnete sie, ihre Stimme eisig. „Was? Soll ich ihn erst kennenlernen, ihm eine verfluchte Chance verschaffen wieder zu entkommen? Ich bin seit fast zehn Jahren auf der Suche nach ihm. Und das eine beschissene Mal, wo ich ihn finde ... bevor ich einen guten Schuss auf ihn abfeuern kann, muss Remy die Heldin spielen und es vermasseln. Und dann muss ich sie auch noch retten.“ 

Quent legte seine Schüssel beiseite. „Hast du jemals einen Mann getötet?“ 

„Noch nicht. Aber das werde ich.“ 

„Ohne zu zögern. Ohne ihm die Möglichkeit zu geben sich zu verteidigen?“ Aus irgendeinem Grund ließ ihn dieser Gedanke nicht los. „Wo ich herkomme...“ Dann unterbrach er sich. Verdammt. 

Wo er herkam, existierte nicht mehr. Die Gesetze, die Gefängnisse, die Richter, die Geschworenen. Recht und Ordnung. 

Wie hatte Lou es doch nochmal ausgedrückt? Es ist in mancher Weise wie der Wilde Westen. Ein Mann nimmt das Gesetz in die eigene Hand, weil es einen anderen Weg nicht mehr gibt. 

Nach fünfzig Jahren nur schwer zu glauben, dass dem nicht so war. Aber dann wiederum, es war gar nicht so schwierig. Die Ansiedlungen waren klein und lagen weit auseinander. Wie das dämliche Unsere kleine Farm ... und in Envy hatte Vaughn Rogan die Dinge gut im Griff. Hielt die Dunge ruhig und jedermann sicher. Und er würde bald Simon als Hilfe haben, um so weiterzumachen. 

Warum störte es Quent also dermaßen? 

Er hatte absolut vor Fielding umzubringen, sobald er ihn in die Finger bekam. 

Aber der Unterschied war, dass Fielding schon vor langer Zeit hätte sterben sollen. Er war kein Mensch mehr. Und er hatte den Wechsel herbeigeführt. 

„Was, wenn es ein Missverständnis gab? Was, wenn Raul nicht wusste, was er da tat? Was, wenn es ihm befohlen wurde?“ 

„Warum zur Scheißhölle versuchst du ihn zu entschuldigen?“, fragte Zoë wütend, ihre Augen sprühten in dem schummrigen Licht. „Er hat meine Familie getötet. Kaltblütig. Räucherte sie aus ihren verdammten Häusern heraus. Hat zugesehen, wie die Ganga sie in Stücke gerissen haben und sich ein Festmahl aus ihrem Fleisch machten!“ Die Stimme versagte ihr jetzt und er sah Tränen in ihren Augen glitzern. „Ich werde nicht hier sitzen und dir zuhören, wie du den Mann verteidigst, der mir alles genommen hat. Alles. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie sich das anfühlt?“ 

Quent schluckte. Ja, das kann ich. Er streckte die Hand nach ihr aus, aber bevor er sie fassen konnte, war sie schon aufgesprungen. Was wahrscheinlich besser so war, redete er sich selbst ein. Sie wischte sich rasch mit dem Handrücken über die Augen und dann stapfte sie schon davon. Im Gehen schnappte sie sich noch Pfeil und Bogen. 

„Ich gehe jagen. Bleib hier, Quent! Das meine ich ernst. Ich bin heute Nacht nicht in der Stimmung irgendjemandem den Arsch zu retten. Ganz besonders nicht deinen.“ 

Er schaute zu, wie sie fortging, nahm sich ein paar Minuten Zeit ihre Schüsseln einzusammeln und sie mit ein wenig Wasser auszuschwenken, um sie zu säubern. Dann ging er zu seinem Sack und wühlte darin nach dem, was er brauchte. 

Als Zoë ihn gestern Nacht gefunden hatte, hätte er sie da schon überreden können Envy mit ihm zusammen zu verlassen, aber Quent wusste, dass er nicht unvorbereitet zur Jagd auf Fielding aufbrechen wollte. Und er war gut vorbereitet. 

Gerade als er das tiefe, grollende „Ruu-uthh...“ von unten hörte, zog er die Bausteine seiner eigenen Waffe aus dem Sack. Nachdem er sich um eine Mauer aus Gips und einen total verrosteten Computer herum geschlichen hatte, ging Quent zum Fenster, um runterzuschauen. 

Etwa zehn Zombies wankten da unten durch die Gegend in einem ungeordneten Grüppchen. Er fragte sich, wo sie wohl hergekommen waren, warum sie ausgerechnet hier waren. Schliefen sie tagsüber irgendwo und kamen dann heraus, wenn die Sonne unterging? Und warum waren sie nur hier, wenn sie nach Menschenfleisch suchten? 

Sie haben kein Hirn. Haben alle zusammengenommen nicht einen einzigen Gedanken in der Birne. 

Als er sie so beobachtete, flog etwas Glitzerndes zischend durch die Luft und eines der Monster stolperte und ging dann krachend zu Boden. Obwohl er ein Stockwerk drüber war, bildete Quent sich ein, dass er die Erschütterung spüren konnte, als die schwere Kreatur aufschlug. Und er war sich ziemlich sicher, dass er den geraden, schwarzen Bolzen sah, der aus dem Schädel des Monsters ragte. 

Guter Schuss, Süße. 

Er schaute sich um, versuchte herauszufinden, wo sie war. So hoch wie er auch. Wahrscheinlich. Aber vielleicht in dem Haus dort drüben. 

Quent öffnete die Plastikflasche, die er aus seinem Sack herausgeholt hatte, und goss den scharf riechenden Alkohol in eine gläserne Weinflasche, die er heute tagsüber gefunden hatte. Er hatte noch eine in seinem Sack, aber es war besser, erst einmal die neue hier aufzubrauchen. Mit einem Blick auf die Ganga unten schätzte er das Gewicht der Flasche ab. Er nahm an, er hatte jetzt genug da drin, um das zu tun, was getan werden musste. 

Nachdem er einen abgerissenen Stoffstreifen von einem alten T-Shirt, das einmal Elliott gehört hatte, tief in den Flaschenhals hinein gestopft hatte, ging Quent wieder zum Fenster und rubbelte mit seinem Ellbogen jetzt einen Kreis in den Dreck an der Scheibe. 

Die Ganga waren dort unten, aber sie hatten sich jetzt zur Straße aufgemacht. Und er wollte das Fenster nicht zerschlagen, um an sie ranzukommen – zum einen war das zu laut. Sie schienen einfach durch die Straßen zu trotten, mit dem Blick mal hierhin, mal dorthin. Selbst hier oben konnte er noch das Schlurfen ihrer Füße und die verloren klingenden Rufe hören. 

Witterten sie ihn oder Zoë? Liefen sie einfach hier durch, auf der Suche nach irgendwelchem Menschenfleisch zum Essen? Was würde passieren, wenn er und Zoë ihnen folgten, anstatt sie zu töten? 

Ein weiterer Ganga fiel wie ein Stein zu Boden und Quent musste trotz allem lächeln. 

Sehr elegant und präzise. Aber sieh dir das jetzt mal an. 

Während er durch das Haus zum nächsten Schlafzimmer ging, fand er ein Fenster fast ohne Scheibe und jenseits davon, direkt davor, war außerdem noch ein Garagendach. Die Ganga schlurften unten weiter umher. Quent lächelte immer noch vor sich hin, als er vorsichtig durch das Fenster nach draußen kroch. Die Scheibe kratzte an der Seite seiner Jeans und sein Stiefelabsatz schlug eine Scherbe ab, aber sie hatte nicht durch den Stoff geschnitten und er trat auf das Garagendach. 

Leise, mit seine Füßen zu beiden Seiten des Dachgiebels baumelnd, hoffte er, dass das Dach nicht einstürzen und er durch das Dach nach unten purzeln würde ... aber es schien alles recht solide zu sein. Und er saß auch noch auf dem stabilsten Teil davon, wo die Dachbalken zusammenkamen. Er hatte alles Wissenswerte über Dachbalken auf Haiti gelernt. Schnell, vorsichtig, mit einem etwas beschleunigten Pulsschlag und mit Adrenalin, das durch ihn pumpte, kam er bis vor ans Ende – genau über den Zombies. 

Er steckte das Ende des T-Shirts in Brand, das aus dem Flaschenhals herunterhing, und zählte – eins, zwei, drei – dann schleuderte er die kleine Bombe genau in das Ganga-Grüppchen. 

Boom! 

Die Explosion erhellte den Platz unten wie mit einem gelben Blitz. Definitiv genug Alkohol, um den Job hier zu erledigen. Quent stand dort auf dem Dach und schaute zu, während der Rauch sich lichtete. Nichts bewegte sich. 

Ganga: hinüber. 

Nicht elegant oder präzise. Aber sehr, sehr effektiv. 

Und dann hörte er sie. Grundgütiger hatte das Weib ein dreckiges Mundwerk. 

Als Nächstes sah er, wie sie schon unten auf der Straße stand, mitten in den Zombieüberresten, die Hände an den Hüften starrte sie wütend zu ihm hoch. 

„Was Scheiße nochmal machst du da?“, schrie sie zu ihm hoch. 

„Ganga töten“, erwiderte er und versuchte nicht zu lächeln. „Ein bisschen effizienter als du.“ 

„Du verdammter Idiot! Wo ist dein Kopftuch? Da bist du mit dem Mondlicht, das dir auf dein goldenes Haar scheint, dass es jeder sehen kann.“ 

„Du bist nur sauer, dass ich sie alle auf einmal erlegt habe.“ 

„Leck mich.“ 

Er schüttelte den Kopf – immer noch grinsend. Wenn du darauf bestehst. Dann verging ihm das Lachen wieder, als er sich erinnerte: Er war noch stinkig, was sie betraf. 

Nein, genau das würde so bald nicht wieder passieren. Es mochte durchaus sein, dass er gerne seine Hände überall auf ihr hätte, aber das würde er jetzt nicht tun. Die Lust darauf war verflogen. Dieses tiefe Ziehen, das machte, dass er sich nach ihr verzehrte. Aber ja – natürlich bewunderte er immer noch ihren geschmeidigen Körper, diese vollen Lippen, die langen Beine da, aber jetzt war es anders. 

Er kannte jeden Zentimeter von ihr, wie sie roch, schmeckte, wie glatt ihre Haut war, die zwei kleinen Muttermale auf ihrem Bauch, die Narbe an ihrer Hüfte. Dass sie seinen Mund gerne an ihrem Hals spürte und wie er sie an den Rand des Wahnsinns trieb, indem er ihre Brüste genau richtig küsste. Er hatte gehört, wie sie seufzend seinen Namen aussprach, als würde sie gleich sterben, hatte ihre Nägel in seiner Haut gespürt und sie in den Armen gehalten, während sie schlief. Er wusste, wie sie aussah, wenn sie losließ und sich dem Orgasmus überließ ... dieser intimste, verletzlichste aller Momente. So wunderschön, dass es einem das Herz zerriss. 

Aber er kannte sie nicht. 

Er dachte, er hätte angefangen sie zu kennen, sie zu verstehen ... und dann hatte sie ihn heute Morgen verlassen. Und irgendwie hatte das all das Feuer, das zwischen ihnen gebrannt hatte, ausgelöscht. In ihm, wann immer er an sie dachte. 

Er wollte sie, aber er wollte sie nicht mehr. Brauchte sie. 

Verzehrte sich nach ihr. 

Er schaute weg, hinaus in die dunkle Nacht. Von hier auf dem Dach aus konnte er meilenweit über die Baumwipfel und die schattigen Buckel hinwegsehen, die verwüsteten Überbleibsel von Amerika im 21. Jahrhundert. 

Und dann sah er noch etwas anderes ... Lichter. In Bewegung. Zwei davon, weit entfernt. 

Scheinwerfer.