10
Kontos hielt eine Maschinenpistole in der Armbeuge, die Mündung zu Boden gerichtet.
John ließ die von der Fangschnur an seinem Gürtel gehaltene Taschenlampe fallen und war mit ein paar raschen Schritten bei Kontos, schlug ihm den Lauf über den Unterarm und riß seine Hand von der locker gehaltenen Waffe. Kontos grunzte vor Schmerz und Überraschung, doch ehe er reagieren konnte, hob John die Mündung der Maschinenpistole und stieß sie Kontos gegen die Brust. Der Oberst gab auf und ließ seine Waffe zu Boden fallen.
»Eine falsche Bewegung, und ich schieße«, sagte John und trat zurück, so daß Kontos nicht nach der Mündung fassen konnte. »Claire, geh weg von ihm!«
Kontos fluchte. Die Taschenlampe baumelte von Johns Gürtel und erzeugte verrückt taumelnde Schatten.
»Gott sei Dank!« sagte Claire. »Hier oben ist alles schiefgegangen.«
»Unten ist es auch nicht gerade ein Tag am Strand gewesen«, sagte John.
»Unteroffizier Petrakos…«, fing Kontos an.
»Tot.«
»Ihre Marinesoldaten…«
»Keine Marinesoldaten. Aber die Leute, die mit mir kamen, sind tot – Petrakos hat ganze Arbeit geleistet.«
Kontos fragte ungläubig: »Dann haben Sie…?«
»Nein. Sie wurde von einem Stückchen theoretischer Physik getötet.«
»Sie…«
»Seien Sie still!«
John schob sich zur Tür der Grabkammer und spähte hinaus. Es war unmöglich, etwas zu erkennen.
Sie standen ohne Bewegung im trüben rötlichen Schein der Taschenlampe. Ausrüstungen und Werkzeug von der archäologischen Arbeit lagen noch da und dort am Boden. Die Kisten, die John vor Monaten hier gesehen hatte, waren fort, nach Athen geschafft.
Kontos rieb sich den Arm und sagte drohend: »Ich rate Ihnen, sich zu ergeben!«
John lachte nur.
»Sie können diese Position nicht lange halten, nicht einmal mit Luftunterstützung. Ich dachte mir, daß Sie kommen würden, daß es hier etwas geben muß, was Sie brauchen.«
»Aber Sie wissen von der Singularität.«
»Ich konnte die Bänder nur teilweise verstehen«, sagte Kontos. »Ist es ein Partikel? Etwas in dem Würfel?«
»Vergessen Sie’s! Dafür ist jetzt keine Zeit.«
»Bald werden unsere Verstärkungen eintreffen…«
»Sie sollen still sein!« John wandte sich zu Claire. »Sag mir, wie es draußen ist. Wird man auf uns schießen? Wie kommt es, daß du hier bist?«
Claire unterrichtete ihn über die Ereignisse und schloß: »Nach dem Napalmangriff scheint der Hubschrauber die meisten von Kontos’ Leuten getötet zu haben.«
»Gott, was für ein Gemetzel!«
»Der Hubschrauber ist jetzt dort oben. Kontos hatte sich gerade ausgedacht, wie er mich gebrauchen könnte, als du auftauchtest. Genau zur rechten Zeit.« Sie lächelte matt. Ihre Stimme bebte, und er sah ihr an, daß sie am Rande eines Nervenzusammenbruchs war. Außerdem war sie zerkratzt und blutig, die Kleider zerrissen und schmutzig. Ihre Augen blickten wild, und als er hineinsah, füllten sie sich mit Tränen.
»Hier«, sagte er, hakte die Taschenlampe vom Gürtel und gab sie ihr. »Leuchte ihn an!«
Kontos stand abwartend, in angespannter Ruhe. Er trug Drillich, aber ohne die übliche Pistole am Koppel, die den Offizier kennzeichnete. Statt dessen hatte er ein großes Messer in einer Scheide an der Hüfte befestigt. John beäugte ihn mißtrauisch und überlegte, ob Kontos imstande sein könnte, ihn unbewaffnet anzuspringen.
»Wohin fliegt der Hubschrauber?«
»Er ist jetzt über uns.«
»Verdammt!«
»Wieso, was…?«
»Könnten wir ihm nicht mit der Taschenlampe Signale geben?«
»Das könnte klappen.«
»Sind draußen noch Griechen am Leben, die auf uns schießen könnten?«
»Ich glaube es nicht.«
»Gut. Dann laß uns hinausgehen!«
Er bedeutete Kontos mit der Waffe, vorauszugehen. Der Mann starrte wie gebannt auf die Maschinenpistole. Beobachtete er Johns Hand, um zu sehen, ob er bei Nichtbefolgung seines Befehls den Finger am Abzug krümmen würde? Im roten Lichtschein sah der Mann wie ein finsterblickender Unhold aus. Kontos warf einen riesigen Schatten, der seine Bewegungen vergrößerte. Er verlagerte sein Gewicht, setzte die Füße weiter auseinander, und sein Schatten glitt über die alten Kalksteinblöcke.
»Vorwärts, Kontos!«
Noch immer der fixierte Ausdruck.
»Bewegung!«
Kontos sprang ihn an.
Wie die meisten Menschen, hatte John sich oftmals die Frage vorgelegt, ob er imstande sein würde, einen anderen Menschen zu erschießen, selbst wenn es in dem Sekundenbruchteil wäre, wo jedes Zögern Unheil bedeuten konnte, und nun war die Frage wie von selbst beantwortet. Er hatte zuviel durchgemacht; die letzte Stunde hatte seine zivilisierten Vorbehalte weggespült.
Er drückte den Abzug durch. Nichts geschah. Der Drücker war festgestellt und gab nicht nach. John begriff, daß er die Sicherung der Waffe nicht überprüft hatte, und nun war der Sicherungshebel in der Sperrposition.
Die Maschinenpistole vor sich im Anschlag, suchte er mit dem Daumen den Sicherungshebel umzulegen, doch ehe er dazu kam, schlug Kontos ihm mit einer Hand die Waffe zur Seite und versetzte ihm mit der anderen einen Handkantenschlag unter das Kinn.
Die Maschinenpistole flog John aus den Händen. Er selbst fiel rücklings zu Boden, und Kontos landete auf ihm. Kontos versuchte ihm das Knie in den Magen zu stoßen, aber John rollte seitwärts und bemühte sich, Kontos mit der linken Hand abzuwehren. Beide versuchten gleichzeitig aufzuspringen und waren noch kaum auf den Knien, als Kontos einen rechten Schwinger an Johns Backenknochen landete, der die Haut aufplatzen ließ und einen dumpfen, betäubenden Schmerz erzeugte.
Im nächsten Augenblick war Kontos auf den Beinen, und John entging dem nächsten Schwinger durch Abducken, dann kam auch er auf die Füße und versuchte einen Kinnhaken anzubringen. Kontos blockte ab, zielte seinerseits einen Haken, fehlte, verlor das Gleichgewicht und strauchelte. John nutzte die Gelegenheit, um nach der Maschinenpistole Ausschau zu halten, sah sie aber nicht. Wenn er sie erwischen und das verdammte Ding entsichern könnte…
Kontos grabbelte an seiner Seite. Das Messer. John wich zurück, stolperte fast über irgendein Werkzeug. Claire stand im rückwärtigen Teil der Grabkammer und war wie gelähmt, beleuchtete den Zweikampf mit der Taschenlampe. Warum hatte sie nicht die Waffe aufgehoben? Verzweifelt hielt er danach Ausschau, während er vor Kontos weiter zurückwich. Wo lag das Ding? Aber da war noch etwas, etwas, das ihn warnte…
Kontos riß das Messer aus der Scheide. Sein Blick zuckte von Claire zu John, und er nahm eine breitbeinig geduckte Haltung ein, beide Arme halb vorgestreckt. Plötzlich sah John, daß die Maschinenpistole hinter Kontos lag, verborgen vom Schatten des Mannes. Es gab keine Möglichkeit, sie zu erreichen.
John beobachtete Kontos’ stechende schmale Augen, suchte zu erraten, was er als nächstes tun würde. Kontos hatte Nahkampfausbildung, wußte ein Messer zu gebrauchen. Er ging langsam und lauernd gegen John vor.
Während John ihn mit angehaltenem Atem beobachtete, nicht viel anders als das Kaninchen die Schlange, erreichte ein Geräusch den Rand seiner Wahrnehmung, ein Summen, das er als wichtig erkannte.
Kontos kam mit tiefgehaltenem Messer auf ihn zu, die Spitze aufwärtsgerichtet, die kräftige Klinge rasiermesserscharf geschliffen.
John wich weiter zurück. Keine Möglichkeit, die Tür zu erreichen; obwohl Kontos zehn Schritte von ihr entfernt war, würde er ihm den Weg abschneiden können.
»Claire!« John tat zwei schnelle Schritte und entriß ihr die Taschenlampe. Kontos kam unerbittlich nach, bereit zum jäh vorspringenden, zustoßenden Angriff.
John schlug die Taschenlampe gegen die Wand der Grabkammer. Plötzlich war es stockfinster.
»Durch das Loch!« wisperte er Claire zu. »Durch und das Seil hinunter!«
Er streckte die Hand aus und gab ihr einen Stoß in die gewünschte Richtung. Er merkte, daß sie widerstrebte, dann aber hinter die Zeltbahn kroch.
Er schleuderte die Taschenlampe in Kontos’ Richtung, hörte sie gegenüber an die Wand schlagen. Kontos stieß etwas hervor, aber John achtete nicht darauf. Sie waren jetzt gleichermaßen blind, und das bedeutete jedenfalls eine Gnadenfrist für ihn. Kontos würde in der Finsternis langsam tastend und lauschend gegen ihn vorgehen, sorgsam bedacht, sich nicht überrumpeln zu lassen.
Aber die Dunkelheit war nicht vollkommen. Es war noch Licht in der Grabkammer. Ein diffuses Leuchten.
Die Wand hinter Kontos glühte allmählich mit einer elfenbeinfarbenen Strahlung auf. John bewegte sich seitwärts zu Claire. Er bückte sich, um hinter die Zeltbahn durch das Loch zu schlüpfen und sah, daß das Licht bereits ausreichte, um Kontos’ Schattenriß klar vom Hintergrund der Wand abzuheben. Ein perlfarbenes Lichtmuster kam aus den Steinen, funkelnde Facetten gelber und grüner Töne formierten sich zu tanzenden, strahlenförmigen Mustern.
Ein Summen. Eine tiefe Vibration, die sich vom Gestein auf seine Füße und durch den Körper übertrug.
Auch Kontos wurde aufmerksam; plötzlich drehte er sich um und blickte zur Wand des Kuppelgrabes, verständnislos, seine Beute vergessend. John öffnete den Mund zu einem Schreckensschrei, aber da kam schon das schrille, bedrohlich kreischende Geräusch, und ein bläulichweißer Punkt, der violette Strahlen hinausschleuderte, schoß aus den Kalksteinquadern der Wand, sank im Flug abwärts. Spitze, zuckende Dolche aus Licht, ein schneidendes Winseln.
Die Erscheinung traf Kontos in die Brust. John fühlte eine Hitzewelle im Gesicht und duckte sich, suchte Schutz hinter den Steinblöcken der Wand, kroch in den Höhlenraum dahinter.
Er richtete sich auf, versuchte Claire auszumachen, aber seine Augen waren geblendet, und er wankte und schlitterte im feuchten Lehm. Blauweiße Glut erhellte das Loch hinter ihm, und das schreckliche pfeifende Winseln dröhnte aus der Grabkammer. John fiel auf die Knie, tastete nach dem Strick, der ihn zur Öffnung führte. Als er sie erreichte, konnte er Claire sehen, die bereits zwei Knoten unter ihm am Seil hing. Sie starrte mit angstgeweiteten Augen zu ihm auf.
»Weiter!« Er kletterte durch die Öffnung und ließ sich am Seil hinab, hielt es kaum fest und ließ sich die Handflächen verbrennen. Der blaue Lichtschein über ihnen wuchs. Dumpfes Krachen und Poltern drang herab.
»Ganz hinunter! Schnell!« schrie er durch das Dröhnen und Rumpeln der zusammenbrechenden Steine.
Sie ließen sich rasch hinab, nur von den Knoten gebremst. Sie erreichten die erste größere Biegung, und John blickte hinauf. Noch immer die heiße blaue Glut, aber inzwischen etwas schwächer. Eine Serie schwerer, dumpfer Schläge signalisierte, daß weitere Teile des Kuppelgrabes einstürzten. Die Singularität mußte Blöcke aus dem Verbund gelöst und die innere Stabilität des Gewölbes zerstört haben.
Seine Arme und Hände schmerzten so, daß sie das Seil kaum halten konnten. Wenn seine Füße einen Knoten trafen, ließ er die Knie einknicken und das Gewicht des Körpers abfangen, während er das Seil einen Augenblick mit den Händen hielt, bis die Füße wieder um das Seil geschlossen waren. Der Abstieg schien eine Ewigkeit zu dauern. Blaue und grüne Lichterscheinungen spielten über die glatten nassen Wände. Im schwächer werdenden Licht sah er, daß Claire den breiten Felsabsatz erreicht hatte und wankend auf den Füßen stand. Gleich darauf landete er neben ihr und zeigte durch die Höhle zu dem engen Seitengang mit den glasigen Wänden. »Dorthin! Es ist geschützter.«
Sie zögerte. »Los, mach schon!« Er faßte sie bei der Hand, nahm das Seil in die andere und führte sie über den schlüpfrigen Fels seitwärts, wo sie unter einem wulstigen Überhang Deckung fanden.
»Was… ich…« Claire schnappte nach Luft.
Dumpf polternde Schläge ließen den Fels unter ihnen erzittern. Eine große dunkle Masse schoß vorüber, prallte auf, daß Feuer in alle Richtungen stob und ein beißender Rauch die Höhle füllte, verspritzte Gesteinssplitter und polterte weiter hinab. John und Claire zogen die Köpfe ein und schmiegten sich in ihre Deckung. Ein weiterer großer Felsbrocken polterte abwärts, prallte in Hammerschlägen von den Wänden ab.
Der blauweiße Lichtschein von oben ließ weiter nach. Weiteres Krachen und Rumpeln, neue dumpfe Schläge aus der Höhe des Schachts. Geröll rasselte hernieder. Grünliche Lichtfinger. Ein weiteres entferntes Poltern. Diesmal fiel nichts in den Schacht, und es wurde dunkel.
»Kontos…«
»Vergiß ihn!« murmelte er, von Husten unterbrochen. »Vergiß den Schweinekerl!«
Im letzten verglimmenden Licht krochen sie weiter vom Rand des Felsabsatzes in ihre Deckung zurück.
Er erzählte ihr nicht, was er in dem kurzen Augenblick gesehen hatte, ehe er, von Panik getrieben, durch das Loch in der Wand geflohen war. Der blaue Lichtpunkt hatte Kontos’ Brustkorb durchschlagen. Der Körper wankte unter dem Einschlag, blieb aber aufrecht, die Arme halb erhoben, das Messer noch im Griff.
Augenblicklich brach ein Wirbel von Regenbogenfarben aus dem Körper, als würde Kontos von innen beleuchtet. Die Arme erschlafften, der Kopf fiel in den Nacken zurück, während das Ding die Körpersubstanz einsog. Ein fluoreszierender Effekt sandte leuchtend rote Wellen durch Kontos’ Arme.
Bevor der Körper in sich zusammenfiel, konnte John in diesem einen Augenblick tief hineinsehen – das Skelett, die Knochen waren durch die verstreute Strahlung klar abgezeichnet. Die Rippen einwärtsgezogen, wie angesaugt von der Quelle unerträglich intensiven Lichts.
Und in der Mitte der Brust rotierte langsam ein starrer Rahmen. Ein Würfel, funkelnd und vibrierend von einer Kaskade aller erdenklichen Farben – orangegelb, blau, rot, rauchig violett.
Die Singularität war angeschwollen, vollgefressen. Sie rotierte. Gelbe Lichtstrahlen stießen wie spitze Stacheln in den Raum hinaus, verbrannten und verdampften Knochen und Fleisch.
Und noch ehe Kontos zusammenbrach, quoll sein Rücken in einer schwefliggelb strahlenden Blase auf. Die Singularität sog sich während ihres sekundenschnellen Durchgangs durch den Körper mit seiner Materie voll, zerriß Sehnen, Knochen und Fleisch. John wußte nicht, ob er es wirklich gesehen hatte, oder ob es eine nachträgliche Ausschmückung seiner Phantasie war, doch behielt seine Erinnerung das Bild einer von innen erhellten Anschwellung von Fleisch, die in ihrem Anwachsen den Stoff der grünen Drillichjacke aufplatzen ließ und Kontos in einen grotesken Buckligen verwandelte, dann eruptierte die schwärende Anschwellung wie ein Vulkan, sprühte Dampf, Blut und Fleisch mit dem Geräusch einer flüssigen Explosion in die Luft.
John schloß die Augen und sah es wieder, und wußte, daß er den Anblick nie würde vergessen können.