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John lehnte sich zufrieden zurück. Eine Mahlzeit von knoblauchbeladenem Souvlaki, ein voller Teller mit öligem Moussaka und eine Flasche herben Rotweins hatten zusammengewirkt, um ihn mit der Welt zu versöhnen und alles in einen angenehmen und wohlwollenden Glanz zu tauchen. Er saß im warmen Schein der Herbstsonne, die ihm durch silbrige Olivenblätter zublinzelte, und vom Meer wehte frische, reine Luft herein. Dies also war die legendäre Luft Griechenlands. Er prostete ihr mit einem zweiten Glas Metaxa zu. Die Müdigkeit war von ihm gewichen, aber er fühlte, daß sie im Hintergrund lauerte, bereit, ihn mit Schlaf zu überwältigen, wenn er sie herausforderte.
Claire kam aus dem Hotel jenseits des kleinen Parks, blickte in beide Richtungen – immer eine gute Idee in dem Bienenschwarmverkehr Heraklions – und schritt herüber. Ihr schlanker, in seiner Kraft gesammelter Körper hatte einen ausladenden Hüftschwung, eine unbewußte Sinnlichkeit der Gangart, die über mechanische Notwendigkeit hinausging und des strengen Schnitts ihrer roten Bluse und der grauen langen Hose spottete. Die unvermeidlichen Müßiggänger auf den Bänken, arbeitslos und unrasiert, verfolgten ihren Weg wie rotierende Radarschirme.
»Sie haben Verehrer.«
»Was? Ach, die. So ist es immer.«
»Ein Berufsrisiko bei der Arbeit im Mittelmeerraum?«
»Sie wissen nicht viel über Bostoner Iren, nicht wahr?«
Er lächelte. »Wie ist es gegangen?«
»Ich habe zwei Einzelzimmer bekommen. Und Boston angerufen.«
Er richtete sich auf. Es war leicht zu sehen, daß sie sich ärgerte.
»Ich bekam gleich Verbindung, wahrscheinlich über die neue Satellitenverbindung.« Sie trank von ihrem Metaxa:
»Und?«
»Hampton… war nicht kooperativ. Er hatte noch nichts von Kontos gehört, Gott sei Dank, überging aber, was ich ihm erzählte. Er sagte, wenn ich Kontos erzürnt hätte, werde er, Hampton, das schon ausbügeln.«
»Sagten Sie nicht, daß…«
Ihre Augenbrauen gingen hoch. »Ich konnte ihm nicht alles erzählen. Gebrauchen Sie Ihren Kopf! Es würde nur schaden, wen Kontos hörte, daß ich dieses Artefakt für wichtig halte.«
»Oder daß Sie selbst zur Ausgrabungsstätte zurückkehren und Ihre Aufzeichnungen holen wollen.«
»Genau. Ich schilderte Hampton, wie Kontos mit seinen Militärgorillas kam und Ihnen übel mitspielte und eine Menge von unseren Aufzeichnungen konfiszierte – okay, eine Abtönung der Wahrheit, das gebe ich zu –, und uns ohne amtliche Autorität des Landes verwies. Hampton schnalzte mit der Zunge und sagte mir, es gebe politische Unruhen, das sei ja bekannt, und ich solle alles seinen großen, tüchtigen Händen überlassen.« Sie zog eine Grimasse.
»Er wird sofort Kontos anrufen.«
»Vielleicht nicht. Ich sagte, daß ich aus Paris anriefe und ein paar Tage Urlaub wolle. Dann bat ich ihn, irgendwelche Reaktionen zurückzustellen, bis ich nach Boston käme und ihm in allen Einzelheiten schildern könne, was geschehen sei. Hampton schreibt gern lange, gedankenvolle Briefe, die er in Fachkreisen zirkulieren läßt – ›Ein Forum schaffen‹, nennt er das. Und ich glaube, daß er damit auch dieser Sache beikommen möchte.«
»Vielleicht ist das der beste Weg.«
»Nein, es ist bloß eine Methode, es… mich unter den Teppich zu kehren. Hampton und Kontos werden diese Sache durch das Netzwerk ihrer Alter-Knabe-Kumpanei ventilieren, bis ich mich bei der Arbeit in irgendeinem syrischen Lehmdorf wiederfinde, während sie die mykenischen Ausgrabungen weiterführen.«
»Nun… vielleicht sollten Sie nicht allzuviel Gewicht auf diese Aufzeichnungen legen.«
»Unsinn! Bedenken Sie, zu den Aufzeichnungen gehören auch Ihre Daten, die ich in meine Unterlagen aufnehmen wollte. Hätte ich Zeit gehabt, sie zu kopieren und Ihnen zurückzugeben, würden Sie sie jetzt haben.«
»Trotzdem…«
»Nach diesen Spektrallinien, die Sie gefunden haben? Sie sagten selbst, daß Sie auf eine Art Legierung, oder zumindest auf ein ungewöhnliches mineralisches Konglomerat hindeuten. Hinzu kommt die Tatsache, daß der Block einzigartig ist, ein Relikt, wie niemand es je in einer Grabstätte gefunden hat. Wer weiß, was es zu bedeuten hat, versteckt wie es ist? Nächstes Jahr können wir die Höhle dahinter ausgraben, den unterirdischen Wasserlauf erforschen, vielleicht Dinge finden, die sie hinuntergeworfen haben, und ich will dabei sein!« Ihre Augen funkelten.
Er holte tief Luft. Der Augenblick der Wahrheit war gekommen. »Ich wollte damit sagen, daß meine Ergebnisse vorläufig sind und… äh… falsch sein könnten.«
Sie sah ihn verblüfft an. »Aber warum? Sie waren sorgfältig, ich habe Sie beobachtet.«
»Ja, aber… nun, es ist nicht mein Gebiet.«
»Metallurgie des Altertums hat zweifellos ihre Besonderheiten, aber Sie…«
»Die Sache ist die, daß ich kein Metallurge bin.«
Sie sperrte den Mund auf. »Was?«
»Ich hatte Ausrüstungen, wie wir sie verwendeten, vordem nie gesehen.«
»Was sind Sie dann?«
»Mathematiker.«
Sie starrte ihn ungläubig an.
»Ich… ich arbeite an einem neuen mathematischen Modell von Unreinheiten in Metallen. Anwendungen der Gruppentheorie.«
»Ihr Büro…«
»Sie hatten Platz, also steckten sie mich dort hinein. Ich rede mit den Metallurgen, versteht sich, aber ansonsten…«
»Sie haben mich belogen!«
»So kann man es nicht nennen. Ich sagte nie, daß ich auf diesem Gebiet gut wäre, Sie werden sich erinnern.«
»Ich hatte selbstverständlich angenommen, Sie seien… Sie seien…«
»Ich weiß, und ich bitte um Entschuldigung. Ich dachte, es würde ein Spaß sein, wissen Sie, eine Art Urlaub.«
»Also waren Sie auf die kostenlose Reise aus!« Sie knallte ihr Brandyglas so heftig auf den Tisch, daß es zerbrach. Sie achtete nicht darauf.
»Wirklich nicht. Hauptsächlich waren Sie der Beweggrund.«
»Ich?«
»Ich… äh… ich fühlte mich vom ersten Augenblick zu Ihnen hingezogen.« Er ließ den Kopf hängen. »Ich weiß, das klingt einfältig. Ich glaube, ich… ich ließ mich einfach von meinen Gefühlen mitreißen.«
Zu seiner Überraschung legte sich ihre Erregung. »Und so beschlossen Sie, einfach die Rolle des Metallurgen zu spielen?«
»Ja. Die Ausrüstung konnte ich als Angehöriger der Fakultät gegen Unterschrift leicht bekommen. Dann suchte ich in der Bibliothek zusammen, was ich an Nachschlagebüchern finden konnte. Die las ich auf dem Flug.«
»Das alles…« Sie sah ihn an, als wäre er ein Fremder. »Meinetwegen?«
In diesem ›Meinetwegen?‹ sah er eine momentane Blöße in ihrer blendenden Rüstung. Hegte sie, ehrgeizig, unermüdlich und selbstsicher in ihrem Berufsleben, womöglich Zweifel an ihren weiblichen Qualitäten? Er mußte da etwas tun. Irgendwie.
»Ich tat, was ich konnte«, sagte er kläglich. »Ich verstehe ein bißchen von Elektronik, habe selbst einmal Stereokomponenten gebaut, aber ich… ich kann nicht garantieren, daß die Arbeit akkurat ist. Ich weiß, Sie sind enttäuscht, aber ich möchte, daß Sie auch wissen, daß… nun…« – er blickte ihr direkt in die Augen – »ich es nicht bin. Es war der Mühe wert.«
»Zum Teufel!« sagte sie gereizt, »Sie hätten mich einfach um eine Verabredung bitten können.«
»Ich wollte Sie nicht so vorbeigleiten lassen. Ich ließ mich in meinem Handeln einfach, nun, vom Herzen leiten.«
»Sie sind mir ein kalter, analytischer Mathematiker!«
»Ich hätte es zugeben sollen, als ich zur Ausgrabung kam und sah, was für eine Arbeit es war, mehr als ich erwartet hatte. Aber dann hätten Sie niemanden als Hilfe gehabt. Wäre ich nicht solch eine Memme gewesen…«
»Me… – was?«
»Memme. Feigling.«
Das erweichte sie sichtlich. »Nein, das ist nicht… Sie haben sich angestrengt. Ohne Ihre Hilfe wäre ich nicht so weit gekommen.«
»Es tut mir leid. Aber ich würde es wieder tun. Es hat sich gelohnt.«
Sie schlug den Blick nieder, entdeckte plötzlich den verschütteten Metaxa und begann ihn mit der Serviette aufzutupfen, ohne John anzusehen. Nach einer kleinen Weile lachte sie ein wenig, schüttelte den Kopf und blickte von der Seite zu ihm hin. »Wissen Sie, ich habe auch… anders… für Sie empfunden.«
Er blickte sie in ungläubigem Staunen an. »Oh, das ist ja…«
Sofort war wieder eine gewisse Reserve in ihren Zügen, und sie befeuchtete sich die Lippen. »Vielleicht ist es so, weil wir vieles gemeinsam haben. Es ist Ihnen doch klar, nicht wahr, daß wir beide gemeine, lügnerische Halunken sind?«
Er hörte Frauen nicht gern so reden, doch mußte er ihr zustimmen.
George brachte schlechte Nachrichten. Das Militär war offenbar wieder einmal dabei, die Macht zu übernehmen. Durch die verworrene allgemeine Lage war es zu einer Verspätung seines Fluges gekommen. Am Flughafen von Athen waren Truppentransporte eingetroffen, und alle Passagiere wurden kontrolliert, sogar die Fluggäste der Inlandsrouten. George war nur durchgekommen, weil das Hauptaugenmerk der Kontrolleure auf die Passagiere der ankommenden Flüge gerichtet war, wahrscheinlich wegen Befürchtungen, daß die Opposition Kräfte nach Athen ziehen und einen Gegenputsch versuchen könnte. George hatte mehrere Festnahmen beobachtet.
Dies alles ließ erkennen, daß eine Rückkehr über Athen wenig aussichtsreich war. Dennoch beharrte Claire auf ihrem Vorhaben; sie müsse zu den Ausgrabungen zurückkehren und ihre Aufzeichnungen bergen.
Sie konnten versuchen, eine Privatmaschine zu chartern. Aber die Flughäfen wurden streng überwacht – George hatte die Ankunft von Polizeiverstärkungen am Flugplatz von Heraklion gesehen, als er sein Gepäck abgeholt hatte.
Damit blieb nur der Seeweg. Die beste und billigste Art und Weise würde eine Kreuzfahrt nordwärts an Bord eines der regulären Touristenschiffe sein. Und da Kontos sie an Hand der Passagierliste der Luftlinie nach Kreta verfolgen konnte, taten sie gut daran, rasch von Heraklion fortzukommen. Dies war nicht sofort möglich. Die Behörden hatten nie aufgehört, den Fremdenverkehr zu fördern, weil er von jeher eine wesentliche Deviseneinnahmequelle war. Alle Plätze auf den nächsten nach Norden auslaufenden Schiffen waren ausgebucht. Indem sie einen Schiffskartenverkäufer bestach, gelang es Claire, zwei Plätze an Bord eines Schiffes zu bekommen, das am nächsten Morgen nach Santorin auslaufen sollte. Einen Platz gab es schon für eine Abfahrt an diesem Nachmittag.
Wenn sie sich trennten, würden sie weniger auffällig sein. George zog es vor, die Einzelkarte zu nehmen, statt zu warten. Claire und John wollten am nächsten Morgen folgen und George im Hotel Atlantean auf Santorin treffen.
Einstweilen war es klug, so unauffällig touristisch wie möglich auszusehen. Polizeistreifen patrouillierten in den Straßen und ließen sich Ausweise zeigen, behelligten aber keine offensichtlichen Ausländer. George ging, sein Schiff zu erreichen. Er war guter Dinge; das Abenteuer machte ihm Spaß.
John versuchte sich entspannt zu geben, aber die Gruppen von Polizei- und Armeeuniformen an jeder größeren Kreuzung verursachten ihm Unbehagen. Angenommen, Kontos hatte erfahren, daß sie nicht an Bord der TWA-Maschine gegangen waren? Sicherlich ließe sich daraus eine Anklage wegen Verstoßes gegen diese oder jene Bestimmung konstruieren, und im gegenwärtigen Klima war eine Verurteilung nicht auszuschließen.
Sie schlenderten über den Wochenmarkt, widerstanden aber den schmeichelhaften Worten der Verkäufer. Claire kaufte etwas Safran – eine absolut exzentrische Idee, wie er fand, da sie nur die Kleider hatte, die sie trug, dazu etwas Unterwäsche, zwei Taschenbücher und ein paar Toilettenartikel.
Sie führte ihn durch enge Straßen, in denen sich hupende Wagen und aufdringliche Verkäufer drängten, in die gewölbte Stille des Museums. »Sehen Sie sich um«, sagte sie. »Die Fresken sind im Obergeschoß. Ich werde inzwischen mit meiner Kreditkarte Bargeld holen und ein paar Notwendigkeiten besorgen. Und ein Telegramm an die TWA schicken, daß sie unser Gepäck in Boston aufbewahren sollen.«
John konzentrierte sich bewußt auf die ausgestellten Altertümer und verdrängte die staubig, unordentliche Außenwelt.
Die eleganten Formen der Vasen und Schalen sagten ihm besonders zu. Einige hatten mit Juwelen besetzte Handgriffe. Die meisten Kunstgegenstände wie Gemmen und Halsketten erinnerten ihn an die mykenischen Kunstwerke, die Claire ihm gezeigt hatte, und so war er nicht überrascht, aus dem Museumsführer zu erfahren, daß die Spätphase der minoischen Kultur unter dem Einfluß der mykenischen Herrschaft gestanden hatte.
Das goldene Zeitalter der minoischen Kultur lag zwischen 2000 und etwa 1550 v. Chr. Nach der Eroberung durch die indogermanischen mykenischen Griechen erlebte sie, nun auf Knossos beschränkt, noch einmal eine späte Blüte. Diese relativ kurze Epoche endete um 1425 v. Chr. in einer die ganze Insel heimsuchenden Katastrophe, die von späteren Geschichtsschreibern als »alles verschlingende Erdbeben und Flutwellen« geschildert wurde. Ein vorzüglich gearbeiteter goldener Anhänger faszinierte John. Zwei Bienen krümmten sich zueinander und bildeten die Kreisform des Anhängers, der deutlich zeigte, wie sie Pollen in einer Bienenwabe speicherten. Die kleinen Tierkörper schienen erfüllt von zweckbestimmtem, innerem Leben, und er spürte plötzlich die Realität dieser Vergangenheit, die Millionen von ringenden, sich abmühenden, schönheitsliebenden Menschen, die eine erste europäische Hochkultur geschaffen hatten, die als eine unsichtbare Gegenwart bis heute in diesen eleganten Gegenständen fortlebte. Er hatte die Vergangenheit oft als eine rohe, primitive Zeit angesehen, aber hier in diesen geschmackvollen, künstlerisch wie handwerklich hochstehenden Erzeugnissen fand er einen stummen, überwältigenden Gegenbeweis. Er wanderte zwischen den Fundstücken umher, die vom Untergang der großen Paläste kündeten, verkohlten Holzstücken und Getreidekörnern, Resten von Mobiliar, und atmete in einem Sinne den Hauch der Geschichte.
»Sieht wie eine kalifornische Modetorheit aus, nicht?«
Er erschrak, als er Claires Stimme hinter sich hörte. Er hatte die Statue einer Schlangengöttin betrachtet, die mit ausgestreckten Armen stand, sich windende Schlangen in den Händen, während andere sich um ihre Arme und ihren Körper und sogar um den Kopfschmuck ringelten. Ein enges Mieder über einem langen weiten Schürzenrock ließ die Brüste frei.
»Einige Themen bleiben ewig aktuell«, sagte er.
»Man vermutet, daß zu kultischen Zwecken Schlangen in Tonröhren – denen dort – gehalten und mit Milch ernährt wurden.« Als er sie verwundert anschaute, fügte sie hinzu: »Es ist sehr gut möglich, daß Schlangen in der Götterverehrung eine Rolle spielten, aber ich glaube, man hielt Schlangen zu medizinischen Zwecken. Ihr Gift kann für manche Leiden als Heilmittel Verwendung gefunden haben.«
Sie führte ihn durch Räume mit Keramik. »Gebrannter Ton überdauert alles.«
»Selbst moderne Materialien?«
»Sicherlich. Unsere Toilettenschüsseln werden in zehntausend Jahren noch brauchbar sein. Oh, sehen Sie nur!«
Die blaue Freskomalerei zeigte einen im Galopp angreifenden Stier mit drohend gesenktem Kopf. Eine Frau hatte ihn bei den langen, gebogenen Hörnern gepackt. Ein brauner Mann, der Schmuck trug, vollführte einen Salto über den Rücken des Stieres. Hinter dem Tier war eine Frau gerade auf den Füßen gelandet, die Arme noch von ihrem Überschlag angehoben. Die drei Phasen des »Todessprungs«. Die Darstellung war lebendig und lebensnah, die Komposition vibrierte von Energie.
»Das machten die tatsächlich«, bemerkte Claire. »Es war ein Sport.«
»Keine religiösen Zusammenhänge?«
»Nun, das ist ohne schriftliche Überlieferungen schwer zu beurteilen. Diese Ereignisse könnten in Zusammenhang mit dem Mythos des legendären Helden Theseus stehen, der mit anderen jungen Männern und Frauen von Athen hierhergeschickt wurde um dem Minotauros geopfert zu werden. Wir wissen wenig über die Religion der alten Minoer, aber es gibt Anhaltspunkte dafür, daß sie im Matriarchat lebten und von den Priesterinnen der Mondgöttin regiert wurden. Bis die eindringenden mykenischen Griechen mit der Eroberung Kretas das Patriarchat durchsetzten.«
»Und wir halten es für eine große Sache, wenn sich einer mit einem roten Tuch vor solch einen Stier hinstellt.«
Sie lächelte. »Tun Sie den Matadoren nicht unrecht. Jeder versucht das Risiko zu verringern, wenn er kann. Angeblich hat man bei Ausgrabungen Stierschädel gefunden, bei denen die Spitzen der Hörner abgesägt waren.«
»Das findet man auch bei Viehhaltern, wenn sie einen Stier im Stall halten, wissen Sie. Es verhindert, daß sie die Wände beschädigen oder Menschen und andere Tiere verletzen. Leider geht man heutzutage immer mehr dazu über, die Rinder überhaupt zu enthornen. Eine Form von Verstümmelung, die Folge der Massentierhaltung ist.«
»Tatsächlich? Woher wissen Sie das alles?«
»Ackerbau und Viehzucht liegen den Leuten aus Georgia im Blut. Was stellte der Minotauros eigentlich dar?«
»Dem Mythos nach war er halb Mensch, halb Stier. Der Meeresgott Poseidon gab dem König von Kreta, Minos, einen Stier, daß er ihn opfern sollte. Statt dessen behielt Minos ihn, und seine Frau verliebte sich in ihn.«
»Sie haben recht, es war wie in Kalifornien.«
Sie warf ihm einen Seitenblick zu. »Nein, Poseidon brachte sie dazu.«
»Ich glaube, ich habe davon gehört.«
»Sie bekam ein Kind von dem Stier – den Minotauros. Minos sperrte ihn in ein Labyrinth. Später, nachdem sein Sohn in einem Krieg von den Athenern getötet worden war, verlangte Minos, daß sie ihm als Tribut junge Leute als Opfergaben schickten. Die warf er dem Minotauros zum Fraß vor.«
»Ein netter Mensch. Das ist der Punkt, wo Theseus ins Spiel kommt, nicht wahr?«
»Richtig. Er war eines der Opfer. Allerdings hatte er sich bewaffnet und tötete den Minotauros. Er fand den Weg zurück aus dem Labyrinth, weil er einen Faden abgewickelt hatte, der ihm den Weg wies.«
»Wie tötete er den Minotauros?«
»Das wissen wir nicht. Er scheint bereits Übung gehabt zu haben – die Legende sagt, er habe vorher den feuerschnaubenden Stier von Marathon erschlagen.«
»Zwei Stiere? Und wo war das Labyrinth?«
»Ich werde es Ihnen zeigen.«
Knossos lag eine kurze Taxifahrt außerhalb der Stadt, fern von den allgegenwärtigen Polizeiuniformen. Unterwegs wurden sie von einem Armeeposten kontrolliert.
»Was machen wir, wenn sie unsere Pässe sehen wollen?« fragte John. »Die sind im Hotel.«
»Dann werden wir das sagen.«
Ein Uniformierter blickte in den Wagen, sah, daß sie Touristen waren und winkte sie durch. »Sehen Sie?« sagte Claire. »In der Provinz geht alles viel weniger hektisch zu.« Sie zeigte auf einen Esel, der im Schatten einer Stechpalme neben den Resten einer Mauer graste, unbeeindruckt von dem Fliegenschwarm, der ihn wie eine Wolke umgab.
»Wozu soll die Verkehrskontrolle dann gut sein?«
»Wahrscheinlich hat sie psychologische Gründe. Ich könnte mir denken, daß die Kreter von der neuen Einparteienherrschaft nicht sonderlich begeistert sein werden.«
»Ich wollte, wir wären schon in Santorin. Wenn ich mir vorstelle, daß wir mit unseren vollen Namen auf der Passagierliste in Athen stehen, wird mir mulmig.«
»Unser Schiff geht erst morgen früh um acht.«
In dem weitläufigen Ruinengelände von Knossos begann John jedoch zu bedauern, daß er Kreta so bald verlassen mußte. Die ausgegrabenen Ruinen des ausgedehnten, teilweise rekonstruierten Palastes umfingen einen mit ihrer durchsonnten Stille, mit den vielfach verwinkelten Räumen, die sich auf immer neue Innenhöfe und Plätze öffneten, mit dem Duft von Wacholder und Pinien und dem unaufhörlichen Singsang der Zikaden. Eidechsen huschten über die weißen Mauerreste, und hoch am Himmel kreisten Raubvögel und ließen ihre hellen Rufe ertönen.
»Schwer zu glauben, daß dies ein Labyrinth war.«
»Dies ist nur der ausgegrabene Teil. Der Palastkomplex umfaßte fünfzehnhundert Räume.«
»Deswegen glauben die Historiker, daß er von den Griechen zum Gegenstand einer Legende gemacht wurde?«
»Nun, er war ohne Zweifel das komplizierteste Bauwerk, das ein Grieche je gesehen hatte. Und Minos ist die dynastische Bezeichnung für die Reihe der Heiligen Könige von Knossos. Sie waren sozusagen die Prinzgemahle der herrschenden Hohenpriesterin der Mondgöttin und wurden ursprünglich nach einjähriger Herrschaft der Göttin geopfert. Später durften sie am Leben bleiben, und man opferte an ihrer Statt Tiere.«
»Und diese Leute hielten sozusagen zum Vergnügen einen menschenfressenden, feuerschnaubenden Stier im Haus?«
»Es ist eine Legende, keine gesicherte Überlieferung, und hat im Laufe des Altertums sicherlich allerlei Veränderungen und Ausschmückungen erfahren.«
»Dieses Labyrinth war der eigentliche Palast?«
»Vermutlich. Man legte im Felsgestein Schachtgräber an, aber sie waren weder groß noch aufwendig. Die späten Gräber gleichen denen der mykenischen Griechen und sind ein Indiz für die Eroberung der Insel durch die Mykener.«
Sie stiegen breite Treppen hinab, gingen zwischen dicken, rotbraunen Säulen. Die Minoer, erzählte sie ihm, waren eine kleinwüchsige, schwarzhaarige Rasse.
»Sie wurde von den Mykenern unterworfen?«
»Ja, nach der zweiten Zerstörung dieses Palastes.«
»Aber ich dachte, die Athener seien die griechische Großmacht gewesen.«
»Ach nein, das war sehr viel später. Zu dieser frühen Zeit war Athen ein unbedeutendes Provinznest. Platon, Perikles – die lebten erst tausend Jahre nach dieser Zeit.«
»Aber Kreta lag offenbar im Konflikt mit den Athenern, und war es nicht der Athener Theseus, der den Minotauros tötete?«
»Nun, man muß sich klarmachen, daß die Geschichte von den Überlebenden geschrieben wird, das heißt, gewöhnlich von den Siegern. Die Geschichte vom Minotauros geht sicherlich auf eine mykenische Überlieferung zurück, nicht auf eine athenische. Die Athener übernahmen einfach die bestehende Legende.«
»Junge, kein Wunder, daß Henry Ford sagte, Geschichte sei Quatsch.«
»Wer einer Kulturnation angehören will, muß sich auch zur Geschichte bekennen«, erwiderte sie ein wenig gereizt. »Im übrigen ist es nicht wichtig, ob es Griechen aus Attika oder Mykene waren. Ein namenloser Held vom Festland kam hierher. Vielleicht war er ein berühmter Athlet, der den Todessalto über den anstürmenden Stier besonders gut beherrschte. Oder er war Spezialist im Erlegen gefürchteter Ungeheuer. Zu Haus wurden seine Abenteuer zu einer beliebten Geschichte, die von einer Generation zur anderen weitergegeben und ausgeschmückt wurde. Homer gebrauchte solche Überlieferungen.«
»Also ist der ganze Homer eine Sammlung von Märchengeschichten oder Übertreibungen?«
»So könnte man sagen, das ist natürlich noch längst nicht alles. Zum einen enthalten Homers Werke einen Kern historischer Wahrheit, wie zumindest im Fall der Ilias erwiesen ist. Zum anderen sind sie die ersten Zeugnisse schriftlich niedergelegter Überlieferung im abendländischen Kulturkreis, und schon dadurch von unschätzbarem Wert. Und schließlich – und das verdient am meisten Bewunderung – sind sie vollendete Dichtung von höchster Vollkommenheit, das Vermächtnis eines Genies.«
»Oh.«
Sie gingen zwischen Treppen und Säulenstümpfen und dachten über die Botschaft in den stummen Steinen nach. Claire schien unruhig.
»Sagen Sie mal, beobachten uns die Polizisten dort drüben?«
Claire schrak zusammen, blickte umher. »Was? Wo?«
Er schmunzelte. »Na, eben schauten sie noch herüber. Sie sind nicht so ruhig, wie Sie sich den Anschein geben.«
Sie warf ihm einen unfreundlichen Seitenblick zu. »Natürlich bin ich auch nervös. Fahren wir zurück in die Stadt!«
Am Nachmittag ging er noch einmal ins Museum, angezogen von seiner Atmosphäre. Selbst die Eintrittskarten waren ungewöhnlich, bedruckt mit Strichzeichnungen von Gelehrten und Staatsmännern des Altertums und Zitaten aus großen Werken der Vergangenheit. In den Glasvitrinen lagen die stummen Jahrtausende dem Auge dargeboten. Wie nie zuvor fühlte er vor dem Abgrund der Zeit das unwiederbringlich Verlorene, die vergessenen großen Werke und Taten zu Staub gewordener Menschen.
Aus einer der Vitrinen blickte ihn ein Stierkopf aus schwarzem Speckstein über die Jahrtausende hinweg an. Seine glänzenden Seemuschel-Nüstern waren zornig gebläht, und Augen aus Bergkristall und Jaspis betrachteten ihn unheilvoll. Der erklärende Text lautete: Rhyton aus dem Palast von Knossos. Das Fell ist durch Einschnitte geschickt imitiert. Der Stil und das verwendete Werkzeug legen einen Ursprung kurz vor der endgültigen Katastrophe nahe. Bei Homer finden sich Hinweise, daß Opferstiere vergoldete Hörner trugen. Die Hörner dieses Fundstücks sind nicht gefunden worden, waren aber wahrscheinlich aus vergoldetem Holz wie jene des berühmten Rhyton ähnlichen Typs, der in den Königsgräbern von Mykene gefunden wurde.
Der feindselige steinerne Blick schien ihm zu folgen, als er sich um den Stierkopf herumbewegte und die Ausführung bewunderte. Die in der Neuzeit hinzugefügten hölzernen Hörner waren kunstvoll geschwungen und mit Goldfarbe bestrichen. Sie glänzten im kühlen Licht des Museums, und er stellte sich vor, wie er im Geruch von Staub und Schweiß mit pochendem Herzen dastand, und wie der mächtige Stier im Geschrei der Menge mit polternden Hufen angriff, die gekrümmten spitzen Hörner zum Aufwärtsstoß gesenkt und schimmernd im Sonnenschein, Tod in den rollenden Augen; wie seine Arme sich spannten, um blitzschnell mit beiden Händen die Hörner zu packen, sich mit dem Hochwerfen des massigen Schädels emporzuschwingen und im Salto über den Rücken des Stiers hinwegzufliegen.
Lange bewunderte er den Kopf, geistesabwesend auf der Unterlippe kauend, und dachte, daß er ihn an etwas erinnere, doch konnte er sich nicht besinnen, was es war.