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John Bishop zog den Gürtel um seinen Mantel zu, als er, aus dem Pratt-Gebäude kommend, in gelbes Sonnenlicht blinzelte, das vom dünnen Schnee reflektiert wurde. Cambridge geruhte nicht, auf seinen Gehwegen Schnee zu räumen, aber eine Armee von Studenten hatte ihn bereits zu Matsch getrampelt. Die Kälte des Spätnachmittags verhieß grimmigen Nachtfrost.
Er schnüffelte die Luft. Das automatische System der Wettervorhersage, das jeder Angehörige des MIT sich früher oder später aneignete, kündigte. Wetterumschwung und vielleicht sogar ein Gewitter an. Ein süßlicher Geruch bedeutete, daß der Wind von einer nahen Zuckerwarenfabrik im Süden herüberwehte, was warmes Wetter und weniger dickbäuchige Wolken versprach. Stank es von Lever Brothers im Nordwesten herüber, so drohten finstere Tage und weitere Schneefälle und Kälte aus Kanada.
Die Examen näherten sich dem Ende. John hatte bei den Einführungskursen in theoretischer Physik geholfen und war erfüllt von ruheloser Müdigkeit. Die Beurteilung einer endlosen Reihe von mechanischen und rechnerischen Problemen betäubt den Geist, verlangt aber Wachsamkeit für den geringsten Fehler, manchmal nur ein falsches Vorzeichen, das signalisiert, wo ein geplagter Student in die Irre gegangen war. Professoren beklagten die Examen allenthalben als eine archaische Technik, ein Fossil, das an einklassige Dorfschulen und das Aufsagen der Hauptstädte aller Bundesstaaten erinnerte. Regelmäßige Fortschritte und täglicher Fleiß bedeuteten in ihren Augen mehr als eine Stunde, die damit verbracht wurde, das in Monaten Gelernte auf ein paar Blättern Papier zu komprimieren. Viel vernünftiger, auf die notwendige Arbeit zu Hause hinzuweisen, auf die regelmäßige Teilnahme an Vorlesungen und Seminaren und auf die Beachtung professoraler Urteile. Bedauerlicherweise sorgten die hohen Studentenzahlen und das Verlangen der Gesellschaft nach halbwegs objektiven Maßstäben für den ungefährdeten Fortbestand des überkommenen Systems.
Keine dieser Einsichten hinderte die Professoren jedoch daran, Examen zu ersinnen, die schlaflose Büffelei, Koffeinabhängigkeit und Verzweiflung verursachten. Alte Examensaufgaben füllten dicke Ordner in Studentenverbindungen und -Wohnheimen; es gab sogar Dossiers über die Vorlieben jedes Professors. Das Vorhandensein dieses Materials stellte für jeden Universitätslehrer eine Herausforderung dar, galt es doch Probleme zu finden, die jeden Studenten ins Schwitzen brachten, sich zugleich aber als rechtschaffen, klar und in Beziehung zu einem zentralen, gründlich erörterten Thema stehend verteidigen ließ. Am begehrtesten waren Aufgabenstellungen, die den Unvorsichtigen an einem voraussagbaren Punkt zum Straucheln verleiteten, was die spätere Korrektur erleichterte, weil man nur noch diese entscheidenden Wendungen zu überprüfen brauchte, den Fehler ankreiden und weitergehen konnte.
John zog den Schal – für ihn noch immer ein fremdartiges Kleidungsstück, an dessen Gebrauch er sich nicht gewöhnen konnte – zurecht und betrachtete die erschöpften Gesichter der Studenten, die aus dem Gebäude kamen. Es lag eine gewisse Befriedigung darin, an diesem alten akademischen Ritual teilgenommen zu haben, und zwar zum ersten Mal aus der vorteilhaften Perspektive eines Richters. Er wußte, daß die Kinos und Spielsalons an diesem Abend gerammelt voll sein würden, denn alle suchten Ablenkung oder Vergessen. Mehrere tausend benommene und müde junge Männer und Frauen, so sagte er sich, waren sicherlich ein Zeichen dafür, daß die Examen gut vorbereitet und ihrem Zweck gerecht geworden waren.
Nun, genug der müßigen Überlegungen. Er war verabredet und hatte es eilig. So ließ er sich vom Strom der abgestumpften, mißmutigen Studenten durch die Massachusetts Avenue mitnehmen. Sein Büro war im Zentrum für Materialforschung und -prüfung, das in einer verwirrenden Ansammlung von Gebäuden untergebracht war. Diese trugen die Namen vermögender Amerikaner, die sie durch Stiftungen und Geldspenden ins Leben gerufen hatten – Sloan, Guggenheim, Pierce, Bush, Eastman: Namen, welche die Wissenschaft, die Universität und das Selbst ehrten. Er hätte seinen Weg durch diese labyrinthischen Korridore gefunden, die gesäumt waren von Ausstellungsvitrinen mit geologischen Proben, geheimnisvollen Instrumenten, Darstellungen berühmter Experimente, Bildern bedeutender Wissenschaftler. Er zog es vor, draußen an den ehrwürdigen roten Ziegelbauten vorbeizugehen und die Vassar Street zu dem wenig eindrucksvollen grauen Beton und Metall der neueren Laboratorien zu überqueren. Hier, in einer Abteilung des Gebäudes Nr. 42, hatte er einen geeigneten Raum zur Untersuchung des Artefakts bekommen.
Der nüchterne Eingang und die kahlen, kalten Stockwerke waren praktisch leer. Die Einrichtungen zur Materialprüfung von Festkörpern waren in geräumigere, modernere Baulichkeiten nach Albany verlegt worden. Die Materialprüfungsanstalt verfügte aber noch über diese Abteilung, da Territorium, das einmal im Besitz ist, im Universitätsleben wie in der Außenpolitik niemals ohne einen Kampf oder ein Gegengeschäft aufgegeben wird. John hatte eine Benutzungserlaubnis erwirkt, dazu das Vorrecht, verfügbare Einrichtungen zur Durchführung von Experimenten zu benutzen. Da es nur wenige Archäologen gab, die ihren Grabungen das ganze Jahr hindurch nachgingen, war das diagnostische Gerät im Winterhalbjahr gewöhnlich unbenutzt, und er hatte alles, was ihm brauchbar erschien, hierher schaffen lassen. Er stand, die Hände in den Manteltaschen, und beobachtete, wie eine Laufkatze auf ihrer Spur unter der Decke dahinschnurrte. Eine kleine Weile verging, ehe er bemerkte, daß die Männer am anderen Ende des Raumes dieselben waren, die er erst am Morgen bei dem Lastwagen gesehen hatte, der das Artefakt vom Hafen gebracht hatte, und daß darum der Gegenstand, der unter der Laufkatze am Haken hing, die in eine Plane gehüllte Kiste selbst war.
In diesem weiten, kahlen Raum schien sie kleiner als er sich erinnerte. Er hegte keinerlei Bedenken, daß das Ding für die dicken Stahlkabel zuviel wiegen könnte, aber irgend etwas störte ihn. Ja, das war es – der Winkel. Die Kiste hing nicht senkrecht herab. Er hielt einen Finger vertikal vor sich und peilte das Kabel an. Es wich um etwa zehn Grad von der Senkrechten ab. Er zog die Stirn in Falten und zuckte die Achseln. Wahrscheinlich war der T-Haken zum Aufhängen der Kiste nicht ganz zentrisch angebracht, dachte er, oder das Artefakt lag einseitig verrutscht in der etwas zu großen Kiste. Immerhin hätten die Leute für eine bessere Ausrichtung sorgen sollen; schließlich war es ein wertvolles Stück.
Claire hatte das Artefakt in Italien neu verpacken lassen. Ein Mann zog die Plane ab; das helle Holz sah eigenartig frisch aus. Die Laufkatze ließ ihre Last langsam herab. Bunte Luftfrachtaufkleber hafteten an den stabilen Kistenbrettern. Die Männer nickten ihm zu und machten sich daran, die Kiste mit Brechstangen zu öffnen.
»Wo ist das Zubehör?« rief Claires Stimme hinter ihm. Er wandte sich um und merkte verspätet, daß die Leute nicht ihm zugenickt hatten.
»Wir bringen es herüber, sobald wir hier fertig sind«, antwortete der Vormann.
Über einer rüschenbesetzten rosa Bluse trug sie ein marineblaues Kostüm im konservativ-zeitlosen Schnitt der karrierebewußten Frau. Strenges Äußeres, weibliches Versteckspiel darunter. Ihm gefiel es.
»Die haben eine Ewigkeit gebraucht, das Ding hierher zu schaffen«, sagte Claire zu ihm, ohne den Blick von den Arbeitern zu wenden. »Krochen durch jede Nebenstraße, die man sich denken kann.«
»Wissen die Leute damit umzugehen?« Er sah, wie sie das Packmaterial herunterrissen. Einer ließ eine Brechstange auf den Stein fallen, und es gab ein lautes, metallisches Geräusch.
»Es ist ziemlich widerstandsfähig, denke ich; schließlich überlebte es ziemlich unbeschädigt diesen schrecklichen Absturz. Abgesehen von gelegentlichen Lageveränderungen werden wir hier Feinarbeit leisten. Darum werde ich mich schon kümmern.«
»Allein?«
Sie lächelte rätselvoll. »Soweit wie möglich.«
»Hast du Watkins in China angerufen?«
»Ja. Es dauerte die üblichen drei Stunden, bis die Verbindung hergestellt war – ich schwöre, daß jemand mithörte, der Spanner hustete sogar –, aber ich kam durch. Watkins gab mir Blankovollmacht, die Einrichtung zu benutzen, solange sie nicht den geheiligten Boden des MIT verläßt.«
»Und Sprangle? Er ist Abteilungsleiter und könnte dich daran hindern, die teuren Geräte zu gebrauchen, wenn er meint, du würdest sie vielleicht falsch behandeln.«
»Er hat die Verantwortung Watkins zugeschoben.«
»Bravo. Wie hast du es gemacht?«
Wieder das rätselhafte Lächeln. Sie wußte, daß sie charmant sein konnte, wenn sie wollte, das konnte er sehen, aber die merkwürdig verschlossene Art und Weise, wie sie von dieser Gabe Gebrauch machte, verwunderte ihn. Andere Frauen würden verschwenderisch damit umgehen, das hatte er oft genug beobachtet. Claire aber wahrte nach außen eine kühle Zurückhaltung, vielleicht in der Erkenntnis, daß das Dahinschmelzen solch einer Fassade für Männer interessanter war als dauernde Wärme.
»Ich mußte ein Zugeständnis machen«, räumte sie ein.
»Wem? Sprangle?«
»Ja. Anscheinend hat er eine Schwäche für Archäologie. Er möchte über meine Resultate auf dem laufenden gehalten werden. Vielleicht sieht er darin eine günstige Gelegenheit, die Tüchtigkeit seiner Leute zu testen.«
»Und vielleicht etwas mehr Unterstützung von seinem Dekan zu bekommen?«
»Da hast du richtig in den Teeblättern gelesen.« Sie hatte den Blick nicht ein einziges Mal von der Arbeit am Artefakt abgewandt. Nun trat sie näher.
»Ist etwas?«
Die dicke Auspolsterung war entfernt, der goldene Zapfen lag frei. »Nein, nichts. Der Zapfen… er erinnert mich an was.«
»Woran?«
»Etwas, das ich irgendwo schon gesehen habe…« Sie zuckte die Achseln. »Es wird mir schon wieder einfallen.«
Sie schlugen einen Bogen um die Arbeiter. Der Kalksteinblock stand jetzt frei. Es war eine große Überraschung für John gewesen, wie wenig Schaden der Sturz durch den Höhlenschacht in die See angerichtet hatte. Die Kiste war natürlich demoliert worden, der rückwärtige Teil völlig weggerissen. Es war eine mühsame, schweißtreibende Arbeit gewesen, das Ding an Bord zu hieven. Er hatte wiederholt tauchen und drei Kabel an den Seiten der verbliebenen Holzverschalung befestigen müssen, ungewiß, ob die Halterung ausreichen würde. Sie hatte ihren Zweck jedoch erfüllt, und es war ihnen mit Hilfe der Winsch gelungen, den Block sicher an Deck zu bringen. Claire hatte sich sorgfältig über die bloßliegenden Teile des Blocks hergemacht und erstaunlich wenig Beschädigungen gefunden: ein paar Kratzer und Absplitterungen an unwichtigen Stellen, und der angesammelte harte Lehm an der Rückseite war verschwunden.
»Was willst du als erstes untersuchen?« fragte John.
»Den Metallgehalt besser bestimmen. Materialanalyse. Und ich möchte diesen Zapfen röntgen.«
»Was ist mit diesem Elfenbeinplättchen?«
Sie seufzte. »Das hat Kontos. Ich hatte es separat verpackt.«
»Zu dumm.«
»Ich habe eine Anzahl Fotos.«
Die Männer räumten das Packmaterial weg und traten zurück, um ihr Werk zu bewundern. »In Ordnung, Dr. Anderson?«
Claire nickte und dankte ihnen.
Der dunkle Kalksteinblock schien das Licht einzusaugen. Auf der Rückseite, wo der hartgetrocknete Lehm gewesen war, sah John ein kleines Loch. Es war mit einem gelbbraunen Zeug gefüllt. Er bückte sich näher. »Was ist das?«
Claire machte ein erstauntes Gesicht. Sie kauerte nieder, streckte einen Finger aus und berührte das Loch. »Es war noch mit einem zähen Ton oder was bedeckt, als die Italiener den Block einpackten. Das muß auf dem Transportweg abgegangen sein. Dies hier… hmm.«
»Was kann es sein?«
»Eine Art Stöpsel, denke ich. George und ich gaben acht, daß der festgebackene Lehm an der Rückwand unverändert blieb, weil wir befürchteten, beim Abkratzen etwas darunter beschädigen zu können. Komisch, nicht wahr? Ein kleines Loch, nicht mehr als einen Zentimeter im Durchmesser, gefüllt mit einem harten Material.« Sie klopfte mit dem Fingernagel dagegen.
»Was halten die Sachverständigen für das mykenische Griechenland an der Universität Boston davon?«
Claire stand unvermittelt auf und blickte zu den Männern, die ihr Werkzeug wegräumten. »Laßt uns feiern!« sagte sie munter. »Warst du schon mal im Ritz?«
»Nein. Gibt es eins in Boston?«
Ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck gespielten Entsetzens. »Es gibt Einrichtungen, auf die keine Großstadt verzichten kann. Das Ritz Carlton wird noch da sein, wenn alles, was wir kennen, zu Staub geworden ist.«
Ihr Alfa Romeo brummte zornig über den Charles River und stürzte sich ohne zu zögern in den trägen Strom des frühen Abendverkehrs. Sie fuhr die Boylston Street hinunter und vermied Aufenthalte durch das einfache Manöver von Fahrspurwechseln, wenn nötig zwei Spuren auf einmal. Autohupen schmetterten in ihrem Kielwasser. Sie passierten in schneller Fahrt die leere Pracht des Prudential Centers und verlangsamten erst, als sie einen berittenen Polizisten gewahrte. Vor der öffentlichen Leihbücherei hielt sie an.
»Hattest du Schwierigkeiten mit Hampton, als…«
»Ich hasse diesen neuen Anbau der Bibliothek. Wußtest du, daß eine alte Frau dort in einen der Seitenkorridore ging, weil sie dachte, er führe zu den Toiletten, und eingeschlossen wurde? Sie hatte nicht die Kraft, die Tür aufzustoßen, so schlecht ist der Bau entworfen. Und man kann kein Fenster öffnen.«
»Wie lange war sie dort drinnen?«
»Zwei Wochen, vermutet man.«
»Du meinst…«
»Richtig. Sie starb. An Wasserentzug, hieß es im Obduktionsbefund.«
Der Springbrunnen auf dem Copley Square schleuderte fröhlich seinen kristallinen Tribut in die kalte Luft, unbeachtet vom trübsinnigen Gemurmel des Verkehrs. Zwei riesige vergoldete Löwen bewachten den Eingang zum Copley Plaza Hotel. Claire hielt hoffnungsvoll nach den geparkten WagenAusschau, beseelt von dem sichtbaren Willen, daß jemand dort die Scheinwerfer aufblinken lassen und damit seine bevorstehende Abfahrt ankündigen würde. Die braunen Spitztürme der Trinity Church waren regennaß und spiegelten die Schwärme von Autoscheinwerfern, und die Flanke des Hancock-Turms, einen Block weiter, gab diesem Bild ein wäßriges Echo.
Schließlich suchte sie Zuflucht in der Tiefgarage unter dem Gemeindeplatz. Beim Aussteigen sagte John: »Du hast ein Strafmandat an der Windschutzscheibe.«
»Oh.« Sie zog daran. Es war mit einer dünnen Schnur am Scheibenwischer befestigt. »Sieh dir das an!« sagte sie mit gemäßigter Bewunderung. »Sie haben eine kleine Schlinge daran gemacht, damit es nicht davonweht, wenn man losfährt. Gute Idee.« Als sie die Tiefgarage verließen, legte sie das Strafmandat sorgsam in einen öffentlichen Abfallbehälter und lachte über den Blick, den er ihr zuwarf.
Es hatte angefangen zu regnen, und der Platz leerte sich. Tropfen trieben im kalten Wind, drohten zu Eis zu gefrieren und schufen mit ihren Reflexen helle Lichthöfe um die Straßenbeleuchtungen. Der Verkehr klang gedämpft, wie aus weiter Ferne. Derselbe Verkehrspolizist kam auf seinem wachsamen, muskulösen Fuchs mit hellem Hufschlag auf sie zu. Sein gelber Regenumhang spiegelte das Lichterchaos der Stadt, aber nicht der Beamte, sondern Claire und er selbst erschienen John als eine Insel, ein fester Halt in der Erscheinungen Flucht.
»Spätabends«, murmelte Claire, »wenn niemand unterwegs ist, kann man sich vorstellen, wie Emerson und Thoreau mit ihren Zylindern hier durchgehen und über Dichtung diskutieren.«
Sie überquerten die Arlington Street und erstiegen die Stufen zum Ritz. Seltsamerweise kam es John nicht mondän vor. Die Gasträume und die Bar waren konservativer Neuengland-Stil, herausgeputzt mit Versatzstücken aus dem Chinahandel, so daß Lackschränkchen und chinesische Tapeten sich mit Lithographien der alten Newbury Street vermischten. Weder Filigran noch Schnörkel, weder Chrom noch Kristall. Im offenen Kamin loderten gelbe Flammen, und unweit davon fanden sie Plätze auf einem buckeligen Sofa. Während sie auf ihre Martinis warteten, machte sie ihn auf die alten Lehnsessel und den preiselbeerfarbenen Teppichboden aufmerksam und erzählte ihm, daß das Hotel einen Angestellten allein damit beschäftige, die Goldfarbe am Mobiliar zu erneuern. »Und nun, da du überzeugt bist, daß dies eine furchterregende Zitadelle der Privilegierten ist, kann ich dir verraten, daß der Gewerkschaftsführer Cesar Chavez hier abzusteigen pflegte, wenn er in die Stadt kam, proletarische Leidenschaften aufzurühren.«
Er lächelte unbestimmt. Sie zeigte eine lebhafte, mädchenhafte Freude, wenn sie ihm Bostoner Eigentümlichkeiten zeigte, und in solchen Augenblicken fiel die ernsthafte Karrierefrau von ihr ab. Seit ihrer Rückkehr waren sie viel zusammengewesen, und er hatte hier auf ihrem Heimatboden eine Veränderung ihrer Stimmungen festgestellt. Bisher wurde er aus den Signalen, die sie ihm gab, noch nicht ganz schlau. Es gab Augenblicke, da sie sich plötzlich verschloß und ganz die zugeknöpfte Bostoner Dame wurde, und dann, kurze Zeit später, zeigte sie sich wieder offen und unbefangen. Vielleicht waren es die anhaltenden Sorgen, die sie bedrückten?
»Glaubst du, daß Oberst Kontos hier absteigen wird? Obwohl er sich als ein Mann des Volkes begreift?«
Sie seufzte. »Ich sehe, du beginnst dich an meine Ausflüchte zu gewöhnen.«
»Nicht, daß sie unliebenswürdig wären.«
Sie schlug die Beine übereinander, und eine steile Falte erschien zwischen ihren Brauen. Er bewunderte die vernünftigen Schuhe, die der erfreulichen Schwellung ihrer Wade unter dem Nylon nicht abträglich waren. Er wartete ihre Antwort ab und gab sich Spekulationen über die Frage hin, warum sie nicht diese schrecklichen Strumpfhosen trug, sondern statt dessen richtige Strümpfe mit Strumpfgürtel bevorzugte. Die Wahrscheinlichkeit dafür betrug heutzutage ein Prozent, vermutete er. Wie gewöhnlich. Seltsam, wie beharrlich manche Objekte männlicher Phantasie noch überdauerten, lange nachdem ihr praktischer Gebrauch überflüssig geworden war. Sogar in Boston…
»Ich glaube, ich sollte es offen sagen. Ich habe Hampton nichts von dem Artefakt gesagt.«
Trotz seiner Überraschung hob er nur ein wenig die Brauen. In Reaktion auf ihre Verhaltensweisen begann er auf den Kunstgriff des Herunterspielens zu kommen.
»Er hat mir gestern den Kopf gewaschen, und heute früh wieder.«
»Kein Kuß auf die Wange anläßlich der Rückkehr der Heldin?« Er signalisierte dem Kellner um weitere Martinis. Der Kellner gab zu verstehen, daß sie bereits gemixt würden. John begriff, daß Claire hier offenbar zur Stammkundschaft gehörte. Das Feuer knisterte kräftig, und er wandte sich zur Seite, um der Wärmestrahlung eine größere Fläche darzubieten. Selbst im Ritz zog es.
»Kontos hat einen langen Brief geschickt und meine Verbrechen aufgelistet.«
»Und Hampton nimmt es ihm ab?«
»Selbstverständlich!« Sie schnaubte. »Warum nicht?«
»Hampton sprach ein ernstes Wort mit dir, daß man zu den Vertretern eines Gastlandes höflich sein müsse, und so weiter. Dann bestrittest du die Vorwürfe.«
»So ähnlich.« Die Getränke kamen, und sie tat einen kräftigen Zug.
»Und du gedachtest den Schaden möglichst gering zu halten, indem du die Frage des fehlenden Artefakts einfach übergingst.«
»Richtig. Die Zollformulare werden an die Abteilung an der Universität Boston adressiert sein. Aber sie werden zuerst zu mir kommen, weil ich meinen Namen über die Anschrift schrieb. Also wird Hampton nicht gleich erfahren, daß wir etwas mitgebracht haben.«
»Er glaubt, wir hätten auf Kontos’ Geheiß fügsam den angewiesenen Flug genommen? Er weiß nicht, daß wir nach Kreta entschlüpft sind und was noch kam?«
»Ich sah Kontos’ Brief. Er behandelt nur Ereignisse bis zu unserem Abflug von Athen.«
»Aber er muß wissen, daß wir unten auf den Inseln waren.«
»Was wir auf Santorin sahen, war eine Schleppnetzfahndung. Er wußte, daß wir Athen nicht mit dieser TWA-Maschine verlassen hatten und auf Santorin waren, aber er weiß bis heute nicht, was wir danach taten.«
»Er wird das Artefakt vermissen.«
»Aber er kann nicht behaupten, daß wir es genommen haben. Vergiß nicht, er versteckte es. Wenn es nicht bei den übrigen Ausgrabungsergebnissen ist, und auch nicht im Kuppengrab, wie will er erklären, daß wir es haben?«
Er betrachtete sie. Da war noch etwas, etwas, das sie nicht erwähnt hatte. Sie war unruhig.
»Früher oder später wird er es herausfinden und uns festnageln. Laß ihn. Einstweilen hast du das Artefakt sicher hier im MIT und kannst es untersuchen.«
Sie blickte ins Feuer, schüttelte geistesabwesend und zerstreut den Kopf. Er sah den gelben Widerschein der Flammen über die Flächen ihres Gesichts zucken, ohne die Schatten ganz daraus zu vertreiben. »Du kennst dich auf diesem Gebiet nicht aus. Was ich getan habe, ist… – es war verrückt. Ich habe einen einzigartigen Kunstgegenstand gestohlen!«
»Er hatte dich stark provoziert.«
»Das ist keine Entschuldigung! Ich war einfach so… so überreizt, daß ich mein Berufsethos, den Respekt vor der Vergangenheit, einfach vergessen konnte.«
»Und wie steht’s mit dem Respekt vor anderen Menschen? Kontos zeigte nicht sonderlich viel davon.«
Ihr Ausdruck hatte zwischen Verdruß und ratloser Verwirrung über ihr eigenes Handeln geschwankt. Nun versank er in eine geistesabwesende Traurigkeit. Sie starrte noch immer in das knackende Kaminfeuer, die Augen abwesend und von einem düsteren Blau. »Nein, ich verstehe, was du sagst - ich empfand selbst so. Das erklärt mein Handeln. Aber nun ist die Vernunft zurückgekehrt und ich sehe keinen Ausweg.«
»Woraus?«
»Aus meiner Lage. Früher oder später werde ich mich dem Unvermeidlichen stellen müssen.«
»Was wird geschehen?«
»In griechischer Archäologie werde ich erledigt sein. Wahrscheinlich im ganzen Fach.«
»Keine Chance, die Stellung zu behalten?«
»Selbstverständlich nicht.«
»Andere Wege werden dir offenstehen.«
»Heute bin ich ein Hühnchen. Morgen werde ich Federn sein.«
»Aber es muß nicht gleich sein, oder?«
»Nicht unbedingt. Ich möchte das Artefakt wirklich noch etwas genauer untersuchen, Bibliotheksarbeit darüber leisten und versuchen, Verbindungen mit anderen Grabungen zu finden.«
»Gut. Wir werden daran festhalten. Solange Sprangle nicht mit Hampton zusammentrifft und die Geschichte beim Mittagessen oder sonstwo erzählt, bist du sicher.«
Ihr Blick glitt von ihm fort. »Nun…«
»Komm schon!« Er beugte sich vor zur Glut des Kaminfeuers, machte eine aufmunternde Bewegung. Er mochte ihre Spannkraft und Vitalität; es schmerzte ihn, sie so niedergeschlagen zu sehen. »In Anbetracht des Sic transit gloria mundi hältst du dich doch ganz gut.«
Sie lächelte grimmig. »Hampton will die Angelegenheit zum Gegenstand einer Ausschußsitzung machen. Darin soll die Frage meines Verbleibs als Dozentin an der Universität Boston erörtert werden.«
Das ließ ihm die Luft heraus; er sank zurück. »Oh!« Also war es schlimmer, als er gedacht hatte.
»Und er will dich als Zeugen aufrufen. Er bekam deinen Namen von Kontos.«
Einen Augenblick lang herrschte Stille, unterbrochen nur vom Knacken der Holzkloben im Feuer. John trank sein Glas leer und hätte gern mehr gehabt. »Gut, dann werde ich die Geschichte bis zum Flughafen von Athen beibehalten. Dann werde ich sagen, daß wir nach Italien geflogen sind.«
»Aber…«
»Gut, ich weiß, es ist unethisch, zu lügen. Aber vielleicht können wir einen Weg finden, uns zu verantworten und doch nicht alles preiszugeben.«
»Mmmh.«
»Was ist mit George?«
»Der Druck liegt auf mir, nicht auf ihm, weil er mir zumindest nominell nachgeordnet war. Außerdem ist er zur Columbia-Universität ausgerissen. Er sollte ab Januar für ein Jahr dorthin gehen, als Lehrbeauftragter für die Behandlung und Konservierung von Fundstücken. Nach unserer Rückkehr sah er, wie sich dieser Sturm zusammenzog, und erreichte eine Vorverlegung des Termins.«
»Tapferer Bursche.«
»Sieh mal, es ist nicht sein Kampf. Er war für die Grabung nicht verantwortlich. Ich traf die fraglichen Entscheidungen.«
Wieder beugte er sich zu ihr, versuchte ihre Stimmung zu heben. »Wenn wir es geschickt genug machen, kommen wir da schon durch. Wäre doch gelacht.«
Ihre Stimmung blieb unverändert. »Das frage ich mich.«
»Ganz bestimmt. Wir müssen uns bloß etwas ausdenken, unsere Taktik planen, das ist alles.«
»Dann denk schnell!«
»Wieso?«
»Der Ausschuß tritt morgen zusammen.«
Er lehnte sich zurück und blies die Backen auf. »Oh!«