Mykenische Gräber waren nüchtern und schmucklos, Bauwerke eines Volkes, das niemals Überfluß gekannt hatte. Sie waren Weiterentwicklungen der seit dem dritten vorchristlichen Jahrtausend auf Kreta und den Kykladen beheimateten Tholosgräber, kreisrunden Grabkammern mit Mauergewölben oder Holzdecken.

Die Griechen der mykenischen Zeit errichteten sie, indem sie die Baugrube mit Steinquadern kreisförmig auskleideten, wobei jede Lage ein wenig über die darunterliegende vorragte, so daß schließlich eine Kuppel entstand, die entweder ganz in den Hang eingebettet war oder über ihn hinausragte. Die Kuppelgräber wurden gewöhnlich mit Erdhügeln bedeckt, die im Laufe der Zeit mit dem umgebenden Hügelgelände verschmolzen und die Auffindung der Gräber erschwerten. Während der Blütezeit der mykenischen Kultur, welche aus Gründen, die bis heute unbekannt und Gegenstand vieler Vermutungen und Diskussionen sind, unvermittelt zu einem Zentrum von Macht und Reichtum wurde, gewannen die Kuppelgräber immer größere Dimensionen und erhielten einen Zugang (Dromos) in Gestalt eines oben offenen Korridors, der den Grabhügel anschnitt und in Einzelfällen Längen bis zu dreißig Metern und darüber aufwies. Diese Zugänge blieben während der Regierungszeit der jeweiligen Dynastie möglicherweise offen, weil das Kuppelgrab für aufeinanderfolgende Begräbnisse wiederholt benutzt wurde.

Die in den Stein gemeißelten Ringe hatten Claire ursprünglich zu der Vermutung geführt, daß sie einen in die Wand eingelassenen Begräbnisplatz markierten. Der Gedanke war ihr selbst nicht recht geheuer gewesen, weil die mykenischen Griechen ihre Schachtgräber gewöhnlich offen in der Grabkammer angelegt hatten. Es bestand keine Verwandtschaft mit den schlauen Bemühungen der ägyptischen Pyramidenerbauer, die tote Stollen, Fallen, falsche Begräbniskammern und andere Täuschungsmittel anwendeten, um Grabräuber irrezuführen. Die Herren der mykenischen Welt erwarteten nicht, daß jemand sich jemals an ihren Gräbern vergreifen werde. Claire fand dieses Zeichen argloser Unschuld reizend. Dieses vor langer Zeit untergegangene Volk hatte mit einer wuchtigen Einfachheit gebaut und seine unterirdischen Kuppeln mit einer Genauigkeit und Massivität berechnet und errichtet, der in den meisten Fällen nicht einmal 3500 Jahre Verwitterung, Wassererosion und Erdbeben etwas hatten anhaben können.

Die schwache Stelle eines Kuppelgrabes war gewöhnlich der Scheitelpunkt der Kuppel. Wenn dieser brüchig wurde und einstürzte, entstand ein Loch, das ein vorbeiziehender Hirte früher oder später bemerkte. So kam es, daß die meisten der bekannten Gräber ausgeraubt wurden, lange bevor es eine neuzeitliche Archäologie gab.

Dieses Grab war ein typischer Fall, obwohl es eine ungewöhnlich reiche Ausbeute ergeben hatte. Ein Bewohner der nahen Kleinstadt Salandi hatte das Ministerium für Altertümer und Restauration angerufen und von einem Loch berichtet, das in einem Hügel über der Küste und ungefähr zehn Kilometer außerhalb der Stadt entdeckt worden sei. Er habe in einem Cafe davon gehört.

Grabräuber waren schon vor langer Zeit dagewesen. Kuppelgräber waren in mykenischer Zeit den Königen und adligen Herren vorbehalten geblieben, und die darauf folgenden Generationen hatten es noch gewußt; wenige waren ungeöffnet geblieben. Hier hatten die Grabräuber Urnen und Schachtgräber aufgebrochen und den größten Teil der Beigaben verstreut und zerschlagen. Es war kein Goldschmuck übriggeblieben, keine Wertgegenstände, nichts, was sich rasch zu Geld machen ließ.

Reisende erinnerten sich vor allem solcher Wertgegenstände wie der berühmten Goldmaske des Agamemmnon, die von Schliemann irrtümlich so gedeutet worden war, als er sie im Gräberkreis des Palastes von Mykene entdeckte. Sie war herrlich, ein prachtvolles Stück, und verriet viel über das Leben der Herrscher jener Zeiten. Archäologen aber sind gleichermaßen an Fundstücken interessiert, die Einblick in das Alltagsleben gewähren, und in dieser Hinsicht war das Grab eine gute Fundstelle. Die pflichtschuldigen Diener der toten Herren hatten ihnen als Grabbeigaben Werkzeuge, Siegelsteine, Dolche, bronzene Kurzschwerter, Gebrauchsgegenstände, Keramikgefäße, Spiegel, Kämme, Sandalen auf die lange Reise mitgegeben – alles, was sie benötigen würden, um im Jenseits einen Haushalt zu gründen.

Die Gebeine der Bestatteten waren achtlos durcheinandergeworfen worden, als die Grabräuber auf der Suche nach Schmuck und Juwelen die zerfallenden Gewänder auseinandergerissen hatten. Die sterblichen Überreste wurden zu gleichen Teilen den Laboratorien in Athen und an der Universität Boston übergeben, wo sie eingehenderer Untersuchung harrten. Die Gebeine gehörten zu mehreren Skeletten, die alle auf der selben Ebene gefunden worden waren. Dies konnte bedeuten, daß die mykenischen Herren dieses Ortes das Grab mehrere Generationen hindurch verwendet hatten, oder daß mehrere Familienmitglieder gleichzeitig dort bestattet worden waren, oder sogar, daß Schäfer nach dem Einsturz des Schlußsteines durch das Loch gefallen und hier unten elend umgekommen worden waren.

Kleinere Gegenstände – Keramikscherben, kleine Teile von Schmuckstücken, Amethystperlen – fand man begraben unter den herabgefallenen Steinen und den Haufen nachgerutschter, mit Geröll vermischter Erde. Die Plünderer hatten sich augenscheinlich nicht die Mühe gemacht, alles gründlich auszuräumen. Rußstreifen an den Wänden sprachen von jahrhundertelangem Gebrauch als Notunterkunft in Unwettern, wahrscheinlich durch Hirten. Die Verwitterung erweiterte allmählich das Loch in der Kuppel, Erde wurde hereingespült, Staub setzte sich ab. Die Rußstreifen begannen mehrere Fuß über dem ursprünglichen Boden, stumme Zeugnisse, daß die Feuer auf dem angesammelten Schutt von Jahrhunderten angezündet worden waren.

Die interessantesten Fundstücke hatte Kontos meist schon kurz nach ihrer Entdeckung einpacken lassen und nach Athen geschafft. Den Grabungsteilnehmern der Universität Boston war dabei nur wenig Zeit geblieben, die besten Stücke zu studieren, und spätere Versuche, sie während des Reinigungsprozesses und der eingehenden Untersuchung in den Laboratorien in Athen zu sehen, waren gewöhnlich an technischen Schwierigkeiten gescheitert.

Im vergangenen Jahr hatte die linksgerichtete griechische Regierung verlangt, daß Ausgrabungen nicht länger wie bisher unter der verantwortlichen Leitung des Amerikanischen Instituts für klassische Studien stehen dürften, sondern nur noch in gleichberechtigter Kooperation mit den Landesbehörden durchgeführt würden. Kontos wurde Kodirektor mit Vetorecht. Wegen dieser und anderer Fragen war es vom Frühsommer an zu Reibungen mit Kontos gekommen, die im Lager der Ausgräber zu einer gespannten Atmosphäre geführt hatten.

 

»Darum möchte ich mir alles genau ansehen, so bald als irgend möglich«, sagte Claire am nächsten Tag zu George.

»Nur wegen Kontos? Ich weiß, er ist schwierig im Umgang, aber hier haben wir eine Besonderheit und müssen vorsichtig sein, sonst…«

»Wenn wir uns nicht beeilen, wird die Zeit knapp.«

»Nun, sobald Kontos dieses Ding zu Gesicht bekommt, wird er uns gewiß noch den ganzen Monat bleiben lassen.«

Claire hatte George nicht von ihrem Zusammenstoß mit Kontos im Zelt der Töpferwaren gesagt. Kontos war in schwelendem Zorn weggefahren, was für die Zukunft nichts Gutes erwarten ließ. »Vergiß nicht, daß unsere Grabungserlaubnis zurückgezogen worden ist!«

»Bloß eine Formalität.«

»Ha! Wir haben noch eine Woche, mehr nicht. Kontos wird sich auf die Vorschriften berufen, darauf kannst du dich verlassen.«

»Du übertreibst. Es ist wahr, daß wir nicht gut miteinander ausgekommen sind, aber er ist ein Wissenschaftler, um Gottes willen…«

»Und ein Oberst in ihrer tatendurstigen neuen Miliz.«

»Und? Die Regierung teilt zur Zeit Titel und Ränge mit vollen Händen aus. Komische Befreiungspolitiker.«

»Hör zu, ich habe hier die Leitung.« Claire stand auf und musterte ihn mit einem finsteren Blick. Sie erinnerte sich, daß es ein nützliches Manöver war, vor dem sitzenden Gegenspieler zu stehen und ihn zu sich aufblicken zu lassen. Der Schein der Morgensonne schuf im Innern des Zeltes ein diffuses gelbliches Licht, das den Staub auf den umherstehenden Kisten mit Keramikscherben überdeutlich hervorhob. »Laß uns den oberen und den unteren Block aus der Wand ziehen, damit wir an unser Fundstück herankommen können. Jetzt gleich.«

George erwiderte verdrießlich ihren Blick, dann zuckte er die Achseln. Claire verspürte eine Anwandlung von Triumphgefühl, ließ es sich aber nicht anmerken.

»Es wäre einfacher, wenn wir auf die Arbeiter warteten«, sagte er mißmutig.

»Wenn sie kommen. – Zur Zeit sind sie scharf auf Politik, nicht auf mühsame Arbeit.«

»Steht was in der heutigen Zeitung?«

»Immer das gleiche. Japan und Brasilien haben die griechische Handelsschiffahrt durch Schutzbestimmungen behindert. Athen behauptet, daß eine Verschwörung des internationalen Kapitals dahinterstecke.« Claire hielt sich über internationale Angelegenheiten auf dem laufenden, doch tat sie es mehr aus Pflichtgefühl denn aus Neigung. Die Anstrengungen zur Förderung ihrer beruflichen Laufbahn nahmen genug Energie in Anspruch.

»Klar. Wer will schon, daß die Kommunisten Geschäfte machen? Nachrichten von drüben?«

»Der Präsident hat die Vereinten Nationen benachrichtigt, daß wir uns in drei Jahren ganz aus der Weltorganisation zurückziehen werden.«

»Wirklich? Ich habe nicht geglaubt, daß es soweit kommen würde.«

»Die Vereinten Nationen haben die Wahl, ihre Satzung unseren Wünschen anzupassen, oder ihren Sitz von New York ins Ausland zu verlegen.«

»Ein starkes Stück.«

»Und dieser Volksentscheid in Kalifornien ist durchgekommen – sie werden es in zwei Staaten aufteilen.«

»Verrückt! Alles wegen der Wasserrechte?«

»Die Ökoleute gegen die Großverbraucher: Städte und Farmer.«

»Und wir finden die Griechen aufsässig.«

»Du hättest den Blick sehen sollen, den der Ladenbesitzer mir dabei zuwarf, als ich hineinging und die Zeitung kaufte.«

»Das kann man verstehen. Eine gutaussehende alleinstehende Frau in einer Kleinstadt. Da wird er nicht der einzige gewesen sein.«

Sie schüttelte unwillig den Kopf und ignorierte wie gewöhnlich das Kompliment. »Es war nicht solch ein Blick. Er war feindselig.«

»Ach so. Trotzdem, zur Abstützung der Wand brauche ich Hilfe, es ist…«

»Ich werde dir helfen. Komm mit!«

 

Sie entfernten zuerst den unteren Steinquader. Es war die weniger gefährliche Operation, da er augenscheinlich keine tragende Funktion im Gesamtverbund hatte. Sie zogen ihn mühsam aus der Wand und legten den unteren Teil des schwarzen Felsblocks frei. In die Basis war eine einzelne gerade Linie gemeißelt.

»Komisch«, sagte George. »Eine Bedeutung ist darin nicht zu erkennen.«

»Vielleicht handelt es sich bloß um eine Markierung, daß diese Seite unten ist.«

»Kann sein. Nicht jedes Zeichen muß bedeutsam sein.« Er kauerte nieder und untersuchte die eingekerbte Linie im Licht seiner Handlampe. »Am Grund der Meißelspuren ist ein hellfarbener Staub zu erkennen.«

»Vielleicht ist es alte Farbe? Aber das herauszufinden, überlassen wir der chemischen Analyse.«

»Ja. Was nun?«

George wollte offenbar, daß die Verantwortung allein auf sie fiel. Nun, es war ihm nicht zu verdenken. Also: »Laß uns den oberen Quader herausnehmen!«

»Wie? Die ganze Wand könnte nachgeben und uns unter sich begraben.«

Sie schürzte die Lippen und überlegte. »Wir müssen die Öffnung durch einen Rahmen aus Streben sichern, der oben eine Steinlage über unserem Quader ansetzt. Dann ist dieser entlastet und kann mit einem Flaschenzug herausgezogen werden.«

George seufzte. »Um die Streben oben anzusetzen, muß die höhere Steinlage angebohrt und mit Stahlwinkeln abgefangen werden. Wenn wir warteten, bis wir mehr Hilfe bekommen, würde es bestimmt sicherer sein.«

»Und später. Vielleicht zu spät. Fangen wir an!«

 

Als der Steinquader Stunden später aus dem Mauerverbund herausgelöst war und in seiner Halterung aus Ketten und Seilen hing, stockte beiden der Atem.

»Das ist Linearschrift!« rief George.

»Auf Stein!« Claire starrte die drei freigelegten Zeilen mit Schriftsymbolen an. Die Zeichen waren mit dem Meißel in den Stein gehauen. »Niemand hat jemals mykenisch-kretische Linearschrift anders als auf Tontafeln gefunden.«

»Und sieh dir die eingemeißelten Zeichen an! Wie sie das Licht reflektieren.«

Claire duckte sich unter dem hängenden Steinquader und zog die Lampe näher. »In den Meißelspuren ist wieder dieser hellfarbene Staub. Er hat noch ein feuchtes, glänzendes Aussehen.«

Nachdem der obere Quader entfernt war, kam die volle Größe des Kalksteinblocks erst gebührend zur Geltung. Er hatte eine Kantenlänge von mehr als einem Meter. Ein muffiger Geruch drang aus der Öffnung, der Geruch feuchter Erde, die seit Jahrtausenden nicht mit offener Luft in Berührung gekommen war. Claire rümpfte die Nase. Sie verband diesen schweren, moderigen Geruch immer mit einem Grab in Messenien, an dessen Öffnung sie teilgenommen hatte. Nach zweitausend Jahren hatten den Gebeinen des Toten noch faserige, vertrocknete Reste von Fleisch angehaftet. Die Berührung mit der feuchten und warmen Luft hatte bereits nach kurzer Zeit einen Geruch entstehen lassen, der sie vertrieben hatte. Der Grabungsleiter hatte ihr Überempfindlichkeit vorgeworfen, aber hinterher hatte sie ihre Kleider verbrannt.

Hier war es nicht annähernd so schlimm. Der Geruch rührte von organischen Bodenbestandsteilen her, die nun an der Luftzirkulation teilnehmen konnten. Sie ermahnte sich, daß hinter den Blöcken der Wand kein Toter bestattet liegen konnte. Der Modergeruch würde sich nach einer Weile verflüchtigen. »Das – diese Schrift.«

»Muß Linear B sein. Du kennst sie, nicht?«

Claire runzelte die Stirn. »Die Zeichen ja, aber ich kann sie nicht lesen.«

Niemand hatte jemals Linear B auf etwas anderes als Tontafeln geschrieben gesehen, die für Abrechnungen verwendet wurden. Die ägäische Bronzezeit war in ihrem Schriftgebrauch nicht über die Aufzeichnung von Inventarlisten und Geschäftsvorgängen hinausgelangt, wie sie schon früher in Syrien und Mesopotamien entwickelt worden war. Die Schreiber auf Kreta und der Peloponnes hielten geschäftliche Transaktionen, Warenvorräte und ihre Verteilung auf ungebrannten Tontafeln fest. Da gab es Listen von Schöpfkellen, Kochtöpfen, Badewannen, Tischen mit eingelegten Elfenbeinverzierungen, Fußschemeln aus Ebenholz, von Dienern, Waffen, Streitwagen und vielen anderen Dingen. Auf Regalen in den Archivräumen der Paläste verwahrt, blieben die Tontafeln der Nachwelt nur durch Zufall erhalten. Sie wurden nach der Beschriftung nicht gebrannt und nach dem Gebrauch weggeworfen. Nur die Feuersbrünste bei der Zerstörung der Paläste hatten die Tafeln hartgebrannt und so erhalten, die zur Zeit jener kriegerischen Umwälzungen, die den Untergang der mykischen Kultur bedeuteten, gerade vorhanden gewesen waren.

Claire erinnerte sich aus Büchern und Museen an diese Tontafeln, auf denen in dünn eingeritzten Zeichen die Mengen von Getreide, Schafen, Rindern und Weinkrügen angegeben gewesen waren. Solche Zeichen hier in einem Grab zu finden, in Stein gemeißelt, war bemerkenswert. Sie hätte hocherfreut sein sollen. Aber etwas…

»Das ist nicht Linear B«, sagte sie.

George wandte sich ungläubig zur Öffnung und betrachtete mit ihr die Zeichen. »Ich habe mich nicht viel damit beschäftigt, aber ich glaube verschiedene Elemente wiederzuerkennen.«

»Schau genauer hin! Es gibt zwar Ähnlichkeiten, aber sie könnten von der verschiedenartigen Technik herrühren, denn hier mußte in Stein gemeißelt werden, was sonst in weichen Ton geritzt wurde.«

»Aber in der mykenischen Welt wurde Linear B gebraucht.«

»Das stimmt.« Sie legte die Finger an den Mund und überlegte, dann bemerkte sie, daß ihre Hände voll von Staub und Erde waren. Sie erschauerte, spuckte aus, schüttelte sich. »Äh!«

»Ja, ziemlich eng und modrig hier drinnen, wie?«

»Du könntest ein paar Aufnahmen machen, George. Ich… ich geh’ hinunter ins Lager und schlage es nach.«

Sie eilte aus der Grabkammer hinaus durch den Dromos, der über zwanzig Meter lang war. Tief atmete sie die reine Luft, die ihr einen Hauch vom würzigen Duft der Zypresse zutrug. Auf dem Weg zum Lager begrüßte sie den willkommenen Anblick von Stechpalmen und dichten, buschigen Zerreichen mit dicken Eicheln in großen Fruchtbechern. Sie hatte sich schon oft vorgenommen, die mediterrane Pflanzenwelt besser kennenzulernen, war aber nie dazu gekommen; die meisten Sträucher der Macchien waren ihr unbekannt. Im Augenblick aber beschäftigten sie andere Fragen.

Zehn Minuten später hatte sie die Antwort. »Nun, du hattest halb recht«, rief sie, als sie unter dem mächtigen Türsturz hindurch in die hallende Grabkammer trat.

George löste einen weiteren Blitz aus und sah sich nach ihr um. »Welche Hälfte?«

»Es ist natürlich linear. Aber nicht B. Es ist A.«

Er starrte sie skeptisch an. »Kann nicht sein.«

»Es ist aber so. Ich habe acht Zeichen verglichen.« Sie hielt ihm das mitgebrachte Buch hin. »Vergleiche selbst!«

»Es kann einfach nicht sein«, murmelte er, nahm aber das Buch und hielt die darin abgebildeten Tontafeln ins Licht. Selbst ein wenig verwirrt, sah sie zu, wie sein blonder Kopf sich bald über das aufgeschlagene Buch beugte, bald die Zeichen im Stein betrachtete. »Nun… ich sehe, was du meinst. Aber… aber wie kommt das hierher?«

Claire zwängte sich neben ihm in die Maueröffnung und streckte die Hand aus, um die gemeißelten Zeichen zu befühlen. Als ihre Hand sie berührte, ging ein leises Prickeln durch ihren Arm, und wieder fing sie den schweren, moderigen Geruch auf und zog sich mit einem Gefühl des Unbehagens zurück.

»Ein Mitbringsel aus Kreta, vielleicht«, sagte sie nachdenklich. »Oder ein kretischer Steinmetz hat den Block hier an Ort und Stelle behauen und die Inschrift angebracht.« Linear A war die Transkription der unbekannten, vorindogermanischen Sprache des minoischen Kreta.

»Das ist Pech. Linear B wurde Anfang der fünfziger Jahre entziffert. Aber das konnte nur gelingen, weil Linear B die bekannte Sprache der mykenischen Griechen war, die nach 1400 v. Chr. Kreta eroberten. Die Frage ist, wann wird jemand Linear A entziffern?«

Sie schüttelte den Kopf, vertieft in die rätselhaften Schriftzeichen. Die Farb- oder Lehmreste in den Vertiefungen der Meißelhiebe verlangten nach einer Analyse. Die aber war nach Lage der Dinge nur in Athen möglich. Also mußte Kontos eingeweiht werden… »Wahrscheinlich nie.«

»Es gibt Computer, Spezialprogramme für die vergleichende Sprachwissenschaft.«

»Du brauchst einen Bezug. Etwas, das dir erlaubt, eine Verbindung herzustellen.« Claire versuchte sich auf Vorlesungen zu besinnen, die sie vor sechs oder sieben Jahren gehört hatte. Wie Alice Kober zeigte, daß es in den Silbenendungen von Worten in der Linear B Veränderungen gab, was bewies, daß es sich um eine flektierte Sprache handelte. Wie M. Ventris und J. Chadwick nach Übereinstimmungen in den Vokalen suchten und neue Tafelfunde in Pylos ihre Vermutungen bestätigten, daß Linear B die Sprache der Griechen um 1200 v. Chr. war. Von da an war es relativ einfach gewesen, die zahlreichen Begriffs- und rund achtzig Silbenzeichen zu entziffern. Gleichwohl schien es gewagt, den mykenischen Griechen die Urheberschaft an dieser Schrift zuzuschreiben, denn vieles sprach dafür, daß die minoischen Kreter durch die Entwicklung der viel älteren Linear A die entscheidende Vorarbeit geleistet hatten. Genaueres war nicht bekannt. »Wir haben so wenig Information über Linear A, daß mit dem vorhandenen Material kaum weiterzukommen ist. Bisher sind rund dreihundert Tontafeln oder Fragmente mit Linear A gefunden worden. Und kein Mensch weiß, wie das minoische Kretisch klang und welcher Sprachfamilie es angehörte.«

»Vielleicht wird diese Inschrift Aufschlüsse ergeben.« George verlängerte das Stativ und bereitete die Kamera für Nahaufnahmen vor.

»Dies ist die einzige bekannte Steininschrift in Linear A«, sagte Claire.

»Vielleicht ist es eine Art Sarkophag.« George schwitzte, und Tropfen rannen unbemerkt über sein staubiges Gesicht. Seine Jeans und das Arbeitshemd waren blaß vom feinen Staub.

»Mag sein. Aber mit dieser merkwürdigen Dekoration aus Bernstein? Und die Mykener kannten zwar in den Fels gehauene Schachtgräber, aber keine Sarkophage. Und selbst wenn sie Sarkophage kannten und wir bloß noch keine gefunden haben sollten – warum verstecken sie sie hinter einer Mauer?«

George blickte sie über die Schulter an. »Das könnte die Antwort sein: sie haben ihn versteckt.«

»Vor wem? Dem toten König?«

»Warum nicht? Aus irgendeinem Grund wurde einer außerhalb des Kuppelgrabes bestattet, aber die Wand auf der Innenseite markiert. Würde das keinen Sinn ergeben? Früher begrub man Selbstmörder und Ungetaufte außerhalb der Friedhofsmauern.«

»Richtig, doch sollten wir mit der Verallgemeinerung solcher Bräuche vorsichtig sein. Zunächst müssen wir Messungen machen, Tests. Besonders von diesem hellen Material in den Meißelspuren.«

»Am Felsblock selbst scheint nichts von besonderem Interesse zu sein. Einfacher alter Kalkstein, geschwärzt von Wasser.«

Claire machte sich daran, im Umkreis der Maueröffnung für ihre Geräte Platz zu schaffen. »Es scheint so. Bei Vaphio liegen die Ruinen eines alten Landhauses, von dem nur noch ein paar Halbwände aus Kalksteinquadern stehen. Schafhirten benützten das alte Gemäuer ein paar tausend Jahre lang als Pferch, und durch die Reibung der Wolle an den Wänden wurde der Kalkstein geglättet und glänzte wie Marmor. Es gab einheimische Geschichten, die besagten, es handle sich um die letzten Überreste eines prächtigen Marmorpalastes. Die Ausgrabungsmannschaft, die das Gebäude freilegte, verbrachte ein Jahr mit Untersuchungen, bis sie darauf kam.«

»Meinst du, daß wir eine Metallanalyse vornehmen sollten?«

»Allerdings. Ich möchte wissen, was in diesen Meißelspuren ist.«

»Oberst Dr. Kontos wird dir nicht viel Zeit für deine I-Tüpfelchen geben«, sagte er ironisch. »Er wird das Ding in eine Lattenkiste stecken, und in einer Woche ist es in Athen. Vollgestempelt mit seinem Namen.«

Claire hob den Kopf. »Hörst du was?«

»Wie? Nein. Paß auf, da sollten wir uns keinen Illusionen hingeben. Kontos wird die Bergung selbst übernehmen. Schließlich ist er scharf darauf, Generaldirektor für Altertümer und Restaurierungen zu werden.«

»Kontos ist ein guter Wissenschaftler«, sagte sie mit nachdenklicher Miene. »Zwar hat er eine Schwäche dafür, in dieser Uniform umherzustolzieren, aber…«

»Der Mann ist ein Verrückter!«

»Er ist bloß ein Patriot. Er hat sich von der Entwicklung der letzten Monate mitreißen lassen. Ich kann seine Argumente auch verstehen. Er setzt sich einfach für sein Vaterland ein. Ich bin überzeugt, daß er uns zusätzliche Zeit einräumen wird, wenn ich ihm von diesem Fund berichte.«

George zog die Brauen hoch. »He, das hört sich wie dieser Jeep an…«

Sie fuhr herum. »Ach nein! Er kann nicht schon heute zurück sein!«

»Jetzt hast du Gelegenheit, dem Oberst mit Vernunft beizukommen.«

Georges undiplomatischer Sarkasmus war nur geeignet, Kontos in Rage zu bringen. Sie mußte die beiden auseinanderhalten.

»Bleib hier und arbeite weiter!«

»Ich möchte mir dies nicht entgehen lassen.«

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