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John hatte genug. Er ließ den Lichtkegel der Lampe nach oben gleiten, wo das Seil gleich einer blassen Nabelschnur hing. Es hatte in regelmäßigen Abständen Knoten, um das Klettern zu erleichtern. Dick und rauh, schien es auf einmal äußerst einladend. Vorausgesetzt, es gelänge ihm, an der verbrannten Stelle vorbeizukommen.
Würde er aber dort oben sicherer sein? Die Singularität sank jetzt, allem Anschein nach, aber der Hubschrauber würde sie früher oder später wieder zur Oberfläche ziehen. Und als sie sich in rascher Bewegung befunden hatte, mußte sie eine absolut tödliche Gefahr gewesen sein – Petrakos’ blutige Uniform deutete darauf hin, daß sie an den Verletzungen durch Gesteinssplitter gestorben war. Nun, da die Singularität langsamer geworden war, bedeutete Strahlung die Hauptgefahr.
Er konnte sie durch das Gestein kommen hören. Am Seil hatte er wenigstens eine gewisse vertikale Bewegungsfreiheit.
Gut. Also mußte er klettern.
Er hängte sich die Maschinenpistole über die Schulter und dachte dabei an seinen Vater, wie er in seiner undeutlichen, langgezogenen Redeweise sagte: »In einer Lage wie der sollte man was bei sich haben.«
Er packte das Seil, wo es mit ein paar Schlingen am Boden lag. Er dachte daran, sich das Ende für den Fall, daß er den Halt verlöre, um die Mitte zu binden. Aber er mußte irgendwie an der Toten vorbei, die in ihrem Klettergurt hing, und wenn er höher kletterte, würde ein Sturz in jedem Fall tödlich ausgehen. Nein, es war besser, er blieb frei.
Abseits sah er Splitter von der alten Kiste liegen, der er vor Monaten, am Beginn von alledem, hier hinab nachgestiegen war. Hier war die Kiste zerschellt und weiter über den Kiesstrand ins Wasser gepoltert.
Er umfaßte den untersten Knoten mit beiden Füßen und zog sich am Seil hoch. Es ächzte unter der zusätzlichen Last. Die Vorstellung, an der Toten vorbei oder über sie hinweg klettern zu müssen, war alles andere als ermutigend. Ihr Körper schwang wie ein Gegengewicht zu seinem, schlenkerte mit den Armen und verlieh ihren Händen eine unheimliche Belebung. Er kletterte bis zu ihren Füßen und versuchte an ihr vorbeizukommen, indem er sich Hand über Hand hinaufzog. Es war schwierig, aber er kam mit den Armen vorbei, ohne ihren Oberkörper zu berühren. Als er sich so vorbeiwand, mußte er einen Augenblick die Füße gegen sie setzen, und die Berührung jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Sein Abscheu trieb ihn aufwärts zum nächsten Knoten.
Er erinnerte sich, wie er in Georgia an regnerischen Tagen in der Turnhalle Konditionstraining betrieben hatte, angetan mit einem baumwollenen Trainingsanzug, um die Muskeln warmzuhalten, und unter anderem auch am Seil geklettert war. Damals war es ihm leichter gefallen. Er hatte es nicht in einem Taucheranzug tun müssen, nachdem er Hunderte von Metern geschwommen war. Und, ja, damals war er ein Jahrzehnt jünger gewesen. Schon spürte er Ermattung in den Armen, und in den Bauchmuskeln, die die Beine hochziehen mußten, wenn sie am nächsten Knoten Halt suchten. Das Seil brannte in seinen vom Wasser erweichten Händen.
Er war ungefähr zwanzig Meter gestiegen, als er den zweiten Satz Löcher in den Höhlenwänden sah. Sie waren geschwärzt, und er fing aus einem Meter Entfernung einen scharfen, beißenden Geruch auf. Demnach war die Singularität hier mehr als einmal durchgeschossen. Diesmal konnte er keinen Höhenunterschied zwischen den Löchern sehen. Daraus folgte, daß das Ding noch schneller gewesen war, als es diese Löcher gebrannt hatte. Er hatte sich also in den unteren zwei Löchern getäuscht. Sie waren später entstanden.
Er zog sich weiter aufwärts, ließ seine Beine den größten Teil der Arbeit tun. Der tanzende Lichtkegel der Taschenlampe an seinem Gürtel warf trügerische Schatten über das feuchte Gestein.
Endlich erreichte er den großen Absatz. Seine Arme zitterten, und die Maschinenpistole auf seinem Rücken schlug hell gegen den Stein, daß Echos durch den Höhlengang hallten. Er zog sich das letzte Stück hinauf und brachte einen Fuß über den glatten Wulst. Dann hatte er ebenen Boden unter sich und konnte das Seil loslassen. Er legte sich auf den schlüpfrigen, nassen Stein, streckte sich und ließ die Verkrampfung aus seinen Muskeln weichen. Sobald er zu Atem gekommen war, leuchtete er mit seiner Lampe durch die enge Höhle zu dem Seitengang, wo er vor Monaten die blaue Lichterscheinung gesehen hatte. Die Wände waren jetzt glasig, nicht so, wie er sie in Erinnerung hatte. Anscheinend war die Singularität hier durchgekommen.
Er wälzte sich herum und leuchtete hinter sich. Dort war ein kleines geschwärztes Loch im Fels, und rundherum eine glasige braune Verfärbung. Gesteinssplitter lagen auf dem Fels darunter.
Die Singularität war hier mit hoher Geschwindigkeit durchgeschossen und hatte das Gestein mit Druckwellen zersplittert, noch ehe sie sich hindurchgefressen hatte. Dies mußte bei der Rückkehr geschehen sein, als sie von irgendeiner Position unter Europa zurückgekehrt war, wie Carmody es erhofft hatte. Aber viel zu früh! Vielleicht vor einer oder zwei Stunden. Sie hatte eine sengende Bahn durch die Höhle gezogen… und vielleicht Unteroffizier Petrakos’ Aufmerksamkeit erregt.
Darauf war sie schnurgerade in Richtung auf die Watson und ihren Zwilling weitergesaust. Doch waren ungefähr zur gleichen Zeit die Hubschrauber gestartet, und so hatte die Singularität kehrtgemacht und war zurückgejagt, durch die Höhle geschossen, hatte Petrakos getötet und war schließlich, verursacht durch die ständigen Kursänderungen der Hubschrauber, am Meeresboden gelandet. Der Höhenunterschied zwischen den beiden Löchern markierte ihre aufsteigende, dem Hubschrauber folgende Bahn, bevor sie in die See gefallen war, als der Hubschrauber über dem Meer gekreist war. Seitdem war sie umhergewandert, von den Strömungen behindert, war wieder in den Fels eingedrungen und hatte, immer auf der Suche nach ihrem Zwilling, mehrfach die Höhle gekreuzt.
Dies erklärte den blauen Lichtschein, den er im vergangenen Herbst im seitlichen Höhlengang gesehen hatte. Er hatte geglaubt, es sei das Licht des Morgens, gebrochen durch die blauen Wasser des Mittelmeeres. Es mußte jedoch die Aureole dieser zweiten Singularität gewesen sein, die sich tief unten durch den Kalkstein gefressen hatte.
Er lächelte. Das schien unglaublich lange her. Eine einfache Beobachtung hatte zuletzt eine einfache Erklärung gefunden.
Er rappelte sich auf und suchte die Umgebung ab. Da waren die zersplitterten Kistenbretter und lagen noch so, wie er sie erinnerte. Offenbar hatte Unteroffizier Petrakos alles unberührt gelassen.
Ein leiser Ton wie vom Anreißen einer Gitarrensaite klang durch die Höhlen. John krabbelte über den schlüpfrigen Stein zur nächsten Deckung.
Das Summen kam. Er drängte sich an die Höhlenwand hinter ihm. Ein schrilles, grelles Pfeifen, viel schlimmer jetzt als ein Zahnarztbohrer, gefolgt von einem gellenden Heulen, einem verzehrenden, gefräßigen Feuersturm. Er spürte die Hitze in der Luft. Ein greller Blitz. Nicht orangefarben jetzt, sondern von einem bläulichen Ton – und dann war die Erscheinung fort, der schrille, zornige Ton entfernte sich durch das Felsgestein.
Er atmete auf. Sein Herz schlug ihm im Halse, vor seinen Augen tanzten farbige Kreise. Kalkstein, der in die Singularität fiel, zeigte ein blaues Spektrum. Seewasser hatte ein oranges erzeugt. Die Singularität hatte in diesen letzten Monaten eine verschiedenartige Diät von Steinen verzehrt, während ihr Gegenstück in der magnetischen Falle des Würfels isoliert geblieben war; dies gab ihnen verschiedene Emissionsspektren. Unter normalen Umständen hätte ihn die vergleichende Analyse fasziniert, doch im Hier und Jetzt schien die Frage weniger interessant.
Die Singularität stieg durch die Felsen aufwärts, angezogen von ihrem Gegenstück. Dieses mußte also in der Nähe sein.
Und er mußte zusehen, daß er hier hinauskam. Da das Ding emporstieg, war damit zu rechnen, daß es bei jedem Durchgang höher sein würde. Er mochte überhaupt nicht mehr durch diese Gegend kommen, aber wenn es dazu käme, genügte ein Augenblick in seiner Nähe, und er wäre ein toter Mann.
Er faßte das Seil und zog sich rasch weiter empor. Eine Panik überkam ihn, aber er wußte sie zu gebrauchen, ließ ihr freien Lauf, damit sie seine Kräfte beflügle. So mühte er sich aufwärts, ungeachtet der Schmerzen, die das rauhe Seil seinen Handflächen zufügte, der Stiche in den Muskeln seiner erlahmenden Oberschenkel, allein darauf konzentriert, das Seil fest zu ergreifen und den Körper nachzuziehen. Jeder erreichte Knoten war ein kleiner Sieg. Es war nicht mehr weit. Schweiß brannte ihm in den Augen, er schnaufte angestrengt, aber als er nächstes Mal aufwärtsspähte, sah er den Rand nur noch etwa fünf Meter über sich.
Die letzten paar Knoten waren schwierig. Der Adrenalinstoß hatte seine Wirkung eingebüßt, und seine erschöpften Muskeln schmerzten qualvoll. Der Kolben der Maschinenpistole schlug ihm immer wieder ins Kreuz, aber endlich hatte er den Rand erreicht und kroch hinaus auf klebrig-feuchten Lehm.
Eine Weile lag er keuchend und ausgepumpt, unfähig, einen Gedanken zu fassen. Er war mit Schweiß bedeckt, und doch fröstelte ihn, und seine Erschöpfung war vollkommen. Arme und Beine zitterten, sein Gesicht ruhte auf dem kalten, feuchten Lehm. So lag er ungewisse Zeit, bis er die Stimmen hörte.
Ein gedämpftes Gemurmel, unmöglich zu verstehen. Griechen, dachte er, es müssen Griechen sein, die das Grab bewachen und auf Unteroffizier Petrakos warten.
Er setzte sich auf und nahm die Maschinenpistole von der Schulter. Nun, da er sie in den Händen hielt und im Schein seiner Taschenlampe betrachtete, wurde ihm klar, daß er niemals etwas annähernd Gleiches abgefeuert hatte. Hier war die Kammer, mit dem eingeschobenen Patronenmagazin. Die Waffe hatte einen Pistolengriff aus grünem Kunststoff, einen Tragegriff, in den die Kimme eingelassen war, und an der Mündung einen konischen Rückstoßdämpfer. In den Filmen rissen die Leute einfach Waffen hoch und feuerten damit, niemals hatten sie Schwierigkeiten mit dem Laden oder gar eine Ladehemmung. Er zog den Bolzen zurück und sah das schimmernde Messing einer Patrone in der Kammer. Gut.
Er fragte sich, was er tun sollte. War er wirklich imstande, die Männer draußen niederzuschießen? Ohne Warnung?
Sie mußten die Hubschrauber gesehen haben und wissen, daß etwas in Vorbereitung war. Tatsächlich glaubte er in der Ferne das Knattern eines Hubschraubers zu hören. Möglicherweise waren sie nervös und überreizt. Vielleicht sollte er versuchen, sie gefangenzunehmen, bevor es zu Kurzschlußreaktionen kommen konnte.
Vorsichtig stand er auf. Hände, Füße und Taucheranzug waren beschmiert mit dem feuchten, glitschigen Lehm. Er schaltete die Taschenlampe aus und schob sich durch das Loch in der Umfassungsmauer in die Grabkammer. Kein Lichtschein war zu sehen. Er fühlte etwas Steifes, Nachgiebiges im Gesicht und schrak zurück, ehe er begriff, daß es die Zeltbahn war, die noch vor der Öffnung hing.
Im Kuppelgrab herrschte absolute Finsternis. Er ahnte den hohen Eingang mehr als er ihn sah, ein kaum helleres Rechteck. Von dort kamen Stimmen.
Er konnte sie noch nicht verstehen. Griechisch? Vielleicht.
Leise trat er hinter der Zeltbahn hervor in die Grabkammer, richtete sich auf und erkannte, daß er gleichzeitig die Waffe schußbereit halten und die Taschenlampe einschalten mußte. Er umfaßte den Pistolengriff und brachte die Waffe in Anschlag, indem er sie mit der Rechten gegen seine Schulter preßte. Gleichzeitig schaltete er mit der Linken die Taschenlampe ein. Ihr Lichtkegel schien in zwei erschrockene Gesichter: Claire und Kontos.