4

 

Prof. Hampton war hinter einem furchteinflößenden eichenen Schreibtisch verbarrikadiert, der zu den schweren Bücherregalen hinter ihm paßte. Vor den langen Reihen wissenschaftlicher Fachzeitschriften und sorgsam geordneter Buchrücken bot sein Tweedanzug und der seidenartige rote Schlips einen farbenfrohen Kontrast. Eingezwängt zwischen den Bücherregalen, wie um deutlich zu machen, daß der Bewohner dieses Büros au courant sei, war eines der neuen 3D-Gemälde, das es zuwege brachte, gleichzeitig wie eine Vase mit grellfarbenen Frühlingsblumen und die besonders schlimmen Folgen einer Explosion in einer Glasfabrik auszusehen.

Nachdem Claire sich gesetzt hatte, stützte Hampton die Ellbogen auf die Schreibtischplatte, legte die Fingerspitzen zusammen und blickte konzentriert durch sie hindurch, als liege dort die Lösung eines kniffligen Problems. Claire fragte sich, ob diese Methode womöglich bezwecke, daß sie das Gespräch beginnen würde. Es gab so viele kleine Spielchen dieser Art, daß sie nie genau wußte, was beiläufig oder zufällig und was berechnet war. Sie beschloß abzuwarten und umfaßte instinktiv die gepolsterten Armlehnen ihres Stuhls. Nach einer vollen Minute, als das Stillschweigen sich schier unerträglich hinzog und ihre Nerven zu zermürben begann, seufzte er und ergriff das Wort.

»Vor weniger als einer Stunde erhielt ich einen zutiefst beunruhigenden Anruf von Dr. Kontos. Er war äußerst erregt.«

»Ja?« Sie gab sich erwartungsvoll, unschuldig interessiert.

»Er hat das große Artefakt verloren.«

In ihrem Magen zog sich etwas zusammen. »Verloren?«

»Offenbar untersuchte er es am Fundort, da er befürchtete, der Transport könne den… äh… empfindlichen Verzierungen Schaden zufügen. Anscheinend handelt es sich um ein sehr schönes Stück.« Hampton sagte es traurig, mit einer Andeutung von Zögern.

»Natürlich war die Ausgrabungsstätte bewacht. Doch als Alexandros von seinen Pflichten in Athen zurückkehrte, war das Stück fort.«

»Diebe?«

»Die Tür war noch verschlossen.«

»Dann muß es die Wachmannschaft gewesen sein.«

»Selbstverständlich werden die Leute… äh… vernommen.«

»Erstaunlich, daß diese Leute glauben, sie könnten solch einen Gegenstand auf dem Schwarzen Markt verkaufen. Sie sollten wissen, daß jeder seriöse Käufer erkennen würde, daß es gestohlen ist.«

Hampton nickte bekümmert. »Ja, ja, so ist es immer, nicht wahr? In ihrer primitiven Gewinnsucht begreifen sie es nie.« Er legte wieder die Fingerspitzen zusammen und wandte sich sinnend dem blassen Licht zu, das zum Fenster hereinströmte, durch das sie unter drolligen Wattewolken Rudermannschaften sah, die sich den grauen Charles River aufwärts mühten. »Tst, tst.«

»Eine schreckliche Sache«, sagte sie, um etwas zu sagen.

»In der Tat. Dr. Kontos sagte wenig über etwaige Bemühungen zur Wiedergewinnung. Ich bin jedoch sicher, daß ein Mann mit seinen Verbindungen zu Polizei und… äh… Militär in dieser Hinsicht keine Schwierigkeiten haben wird. Er fragte jedoch nach Ihren Aufzeichnungen.«

»Viele davon sind in den Kisten, die er sich aneignete und nach Athen brachte«, sagte sie scharf.

»Ah. Ja, er sagte, daß einige vorhanden seien… Aber die Mehrzahl davon scheint… äh… in Ihrem Besitz zu sein.«

»Es sind meine Aufzeichnungen. George und ich entdeckten schließlich das Stück.«

»Sie wissen, daß die Entdeckung als juristisch anwendbarer Begriff auf Gemeinschaftsgrabungen nicht anwendbar ist«, sagte er mißbilligend und bedachte sie über die Fingerspitzen hinweg, die sich rhythmisch voneinander entfernten und wieder berührten, mit einem ernsten Blick.

»Kontos verdient keine Kooperation. Er wollte die ganze Gruppe um das Verdienst daran bringen.«

»Wie kommen Sie darauf? Ich versichere Ihnen, das wäre nicht geschehen. Die raison d’être unserer Expedition war die Festigung der griechisch-amerikanischen Beziehungen. Für Alexandros steht ebensoviel auf dem Spiel wie…«

»Natürlich wird er nehmen, was wir anbieten. Aber dann wird er dieses Artefakt als allein seine Entdeckung reklamieren.«

»Ich habe mein Konzept unseres Berichts vorbereitet, und wenn Ihre Resultate mit eingeschlossen sind, wird es ein solides Stück Arbeit sein. Dieses Objekt, so faszinierend es sein mag, ist nicht derart bedeutsam. Wie Sie wissen, ist es die langsame Anhäufung von Einzelstücken, von Daten und Beobachtungen, die unseren Beruf…«

»Hängt dieses Urteil nicht davon ab, als was der Gegenstand sich erweist?«

Hampton schien durch ihre Unterbrechung aus dem Konzept gebracht. »Nun… äh… selbstverständlich. Ich glaube jedoch nicht, daß wir das gesamte Gebäude unserer Interpretation einer Neubewertung unterziehen müssen, nur weil ein Artefakt womöglich Einordnungsschwierigkeiten bereitet. Es könnte leicht eine Anomalie sein, ein Import aus Kreta oder einer anderen Gegend.«

»Trotzdem, ich…«

»Claire, Sie müssen Ihre Aufzeichnungen über diesen Gegenstand Dr. Kontos übergeben«, sagte Hampton eindringlich, als habe er sich von einem Augenblick zum anderen zu einer Veränderung der Taktik entschlossen. Der nachdenkliche, distanzierte Professor war verschwunden. Er beugte sich über den Schreibtisch. »Unverzüglich.«

»Das werde ich nicht tun. Sie gehören nicht ihm.«

»Er wird den Gegenstand bergen und anschließend den entsprechenden Abschnitt unserer Veröffentlichung schreiben. Dazu wird er Ihre Information brauchen.«

»Das war der Grund seines Anrufs?«

»Nicht allein das, nein. Aber ich versicherte ihm unserer rückhaltlosen Unterstützung.«

»Meine Antwort bleibt nein.«

Hampton schien bestürzt. »Sie können sich nicht weigern.«

»O doch, ich kann.«

»Dies widerspricht allem, was wir vereinbarten, als wir die gemeinsame Expedition unternahmen.«

»Ich brauche meine Aufzeichnungen.«

»Ich zweifle daran. Ich zweifle wirklich daran. Sie sind lediglich bestrebt, Dr. Kontos’ Arbeit zu behindern. Ich muß Sie noch einmal ersuchen…«

»Nein.«

»Sie bringen Ihre… äh… berufliche Position hier in Gefahr, Claire. Wenn Sie…«

Sie stand auf. »Berufliche Position? Ha! Mein Vater pflegte zu sagen: du mußt in der Lage sein, einen Chirurgen, der einen Luftröhrenschnitt macht, von einem Halsabschneider zu unterscheiden. Nun, das kann ich.«

Sie schwang ihren Schirm in einem weiten Bogen, dem beinahe ein Bücherstapel auf dem großen eichenen Schreibtisch zum Opfer gefallen wäre, und marschierte hinaus. Ihre Stiefelabsätze knallten zornig auf die knarrenden Dielenbretter.

 

Sie hielt sich recht gut, bis sie ihre Wohnung erreichte. Dort begannen ihr die Hände zu zittern, und ein Durcheinander von Zorn und Enttäuschung und Ich-hätte-sagen-sollen ging ihr wie ein Mühlrad im Kopf um. Sie schenkte sich einen Sherry ein, dann noch einen.

Hampton steckte so tief in akademischer Ehrbarkeit, daß ihm gar nicht in den Sinn gekommen war, sie könnte so zügellos, so schreiend irrational gewesen sein, ein Artefakt zu stehlen. Das war der einzige Faktor, der den Augenblick der Vergeltung verzögerte.

Möglicherweise glaubte Kontos tatsächlich, daß die Wachen den Würfel hatten verschwinden lassen. In diesem Fall brauchte er ihre Aufzeichnungen, um einen vorläufigen Fundbericht zusammenzuschreiben, seine Priorität herzustellen und somit Zeit zu gewinnen, bis er dem Artefakt auf die Spur kommen könnte.

Es bestand keine Möglichkeit, daß diese Fiktion lange aufrechterhalten werden konnte. Sie zündete eine Zigarette an und schaltete das Radio an. Eine nasale Stimme winselte, daß ihre Zuckerpuppe fortgelaufen sei, daß sie nicht wisse, was sie dazu sagen solle, sie könne sich nur hinsetzen und weinen, vielleicht würde sie nun sterben müssen. Claire schnitt ein ärgerliches Gesicht. Sie hatte gedacht, daß Cole Porter nicht nur tot sei, sondern vergessen.

Das Sherryglas war leer, und sie füllte es auf. Auf dem Rückweg von der Hausbar bemerkte sie, daß sie ihre Zigarette fast aufgeraucht hatte, und drückte den Stummel aus. Als sie zur nächsten griff, hielt sie ein. Dieses Verhaltensmuster war ihr nur zu gut bekannt. Allein, voller Sorgen, bedrückt von den Ereignissen des Tages und der Ausweglosigkeit ihrer Lage, konnte sie nur zu leicht in einen Zyklus der Abhängigkeit geraten. Sie wollte sich nicht einem Abend neurotischer Ängste aussetzen und griff zum Telefon.

»Weißt du, wo Locke Ober ist?« fragte sie, als John sich nach dem dritten Läuten im Laboratorium meldete. Sie hatte gewußt, daß er dort sein würde, obwohl es sechs Uhr vorbei war.

»Ja, ich glaube schon.«

»Dann treffen wir uns dort um sieben. Ich muß mich wiederherstellen.«

Eine Stunde später saßen sie an einem kleinen runden Tisch im ersten Stock und tranken Whisky Soda. Der Oberkellner hatte sich bewegen lassen, ihnen auch ohne Reservierung einen Tisch zu geben, aber nicht durch Johns beharrliches Drängen, sondern vielmehr – zu ihrer Überraschung –, weil er Claire erkannte. »Das zeigt wieder einmal, daß es seine Vorteile hat, Vorfahren zu haben, die seit einem oder zwei Jahrhunderten regelmäßig hierher kamen«, bemerkte sie.

»Hm. Hübsches Lokal«, räumte John ein.

»Ich mag den Spinat mit Rahm hier.« Sie blickte im Raum umher, der sich rasch mit Gästen füllte. »Touristen und Untermenschen kommen ins Obergeschoß, wo es ein bißchen moderner ist. Bis in die Siebzigerjahre ließen sie Frauen überhaupt nicht ein, glaube ich. Die Kellner sind höflich, aber gewöhnlich auch taub.«

Als wäre es das Stichwort gewesen, kam ein gebrechlich aussehender Mann herangeschlurft und nahm ihre Bestellung an. Claire ließ einen liebevollen Blick über die Speisekarte schweifen. »Hummer frisch vom Boot in Portland, daran erinnere ich mich noch, als ich mit meinem Großvater hier war.«

»Ein alter Seebär?«

»Nein, ein Bankier. Er und meine Großmutter sind das älteste Ehepaar in Vermont; letztes Jahr gab es einen Zeitungsartikel über sie. Mein Großvater erzählte dem Reporter seinen Lieblingswitz: ›Warum kaufen die Leute immer noch Shampoo, wenn sie richtigen Po haben können?‹ Er ist eine Art Original geworden.«

»Ich habe schlechtere Witze gehört.«

Sie bestellten Meeresfrüchte und einen kalifornischen Wein, von dem Claire nie gehört hatte. Sie sagte: »Mir gefällt es hier. Es ist so – nun – ermutigend. Die schweren Vorhänge, sogar der etwas muffige Geruch. Meine Familie kommt hierher, wenn alle in der Stadt sind. Sie sind alle so alt, ich möchte wetten, sie erinnern sich noch an die Zeit, als Pferdedroschken einen hierher brachten.«

»Deshalb Archäologie?«

»Wie? – Ach, ich verstehe. Voreingenommenheit für die Vergangenheit.« Sie starrte verstimmt in die Kerzenflamme. »Ja, vielleicht…«

»Nun, da wir sitzen und bestellt haben, kannst du mir die schlechte Nachricht erzählen.«

Sie tat es und schloß mit den Worten: »Also hat Kontos entdeckt, daß der Block fehlt, aber es ist ihm nicht klar, wie sein Verschwinden bewerkstelligt wurde.«

»Oder von wem. Aber er verdächtigt uns, würde ich sagen.«

»So sehe ich es auch.«

»Was kann er tun? Ich meine, bis Hampton herausbringt, daß wir das Ding haben.«

»Ich dachte, wir würden mehr Zeit haben.«

»Ich nicht«, erwiderte er. »Kontos fackelt nicht lange.«

»Dann müssen wir uns beeilen.«

»Abe arbeitet angestrengt daran, und ich verbringe praktisch meine ganze Zeit drüben. Nicht, daß ich viel tun könnte. Im Grunde bin ich eine Art Handlanger.«

»Obwohl ich Semesterferien habe, habe ich Verpflichtungen an der Universität. Dummerweise willigte ich ein, während meines Urlaubs als Beraterin für Studentinnen zu arbeiten.«

»Was für Rat gibst du denen?«

»Akademisch, persönlich, was sie bedrückt. Es ist ziemlich entmutigend. Erinnert mich an einen anderen Standardwitz meines Großvaters. Wie nennt man einen Studienberater an einer Frauenuniversität?«

Er zuckte die Achseln.

Sie sagte mit einem ironischen Blick: »Geburtshelfer. Darin steckt mehr Wahrheit, als ich je zugegeben hätte, bevor ich mich damit befaßte. Bei vielen dreht es sich um diese Dinge.«

»Was rätst du Ihnen?«

»Daß sie Kapitäne ihres eigenen Geschicks sein sollen.«

»Tiefsinnig. Wer soll die Mannschaft sein?«

Sie lächelte gegen ihren Willen. »Gut, eine schlechte Metapher. Jedenfalls muß ich diese Beratung machen, und es geht zu Lasten meiner Archäologie. Ich habe noch meinen Teil an unserer Veröffentlichung zu schreiben. Seit einer Woche schickt Hampton mir deswegen Notizen.«

»Der Block ist Teil dieser Veröffentlichung, nicht?« Er brach ein Stück französisches Weißbrot auseinander, das noch dampfte, und begann gedankenvoll zu kauen.

»Nein, ich lasse das Artefakt aus. Ich meine, was kann ich schreiben, ohne zu viel zu verraten?«

»Wenn du es ganz übergehst, machst du Hampton nur stutzig. Er wird sich fragen, ob etwas vielleicht nicht stimmt.«

»Meinst du?«

»Ich glaube es. Unter dieser akademischen Würde und Gespreiztheit steckt ein schlauer Taktiker.«

»Ich weiß nie, wie ich diese Dinge spielen soll.«

»Ich bin überzeugt, daß Hampton bereits einen Verdacht hegt.«

»Kann er etwas Schlimmes tun? Kann er mich eines Verbrechens beschuldigen, mich festnehmen lassen?« Das Winseln war in ihre Stimme gekommen, ohne daß sie es bemerkte; sie trank ihr Glas halb leer.

»Weswegen?«

»Weil ich ein einzigartiges Fundstück aus Griechenland gestohlen habe.«

»Dich dafür zur Verantwortung zu ziehen, ist Sache der Griechen. Und die haben zur Zeit anderes zu tun.«

»Wie meinst du?«

»Heute früh steht im Globe, daß Griechenland die diplomatischen Beziehungen zur Türkei abgebrochen hat.«

»Nein! Die Türken sind ihnen zahlenmäßig haushoch überlegen – das ist dumm!«

Er nickte. »Sehr. Aber es bedeutet auch, daß Kontos Wutanfälle kriegen und sich auf den Kopf stellen kann, ohne daß es viel bewirken wird. Seine Regierung hat andere, größere Sorgen.«

»Wenn Kontos die hiesigen Behörden benachrichtigen und einen internationalen Haftbefehl erwirken würde, könnten sie mich festnehmen, nicht wahr?«

»Nun, so etwas wird es nicht geben«, sagte er beschwichtigend. »Unsere Regierung legt in solchen Fällen ihre eigenen Maßstäbe an.« Er langte über den Tisch und legte seine Hand auf die ihre. Sie bemerkte, daß sie, ohne es zu sehen, ihr Brot neben den Teller in Stücke gerissen hatte. Der jähe Zustrom von Blut in ihr Gesicht war noch entnervender.

»Ich… bist du sicher?«

»Ja.«

»Ich… wir sind in dieser Sache beide verantwortlich. Wenn Kontos… es… macht dir nichts aus?«

Er zuckte betont gleichgültig die Achseln. »Nein.«

»Macho.«

»Verdammt richtig.« Er grinste.

Sie besah seine gefalteten Hände und erinnerte sich, wie sie auf einem Tischtuch in Nauplia geruht hatten – breite Finger, betonte Knöchel, dicke Nägel mit einem seidigen Glanz. Kräftige, doch nicht ungepflegte Hände, die sie an die Hände von Arbeitern erinnerten, aber ohne Schwielen und ohne abgerissene, geschwärzte Fingernägel. Hände, die sich ruhig und beiläufig bewegten, um ein Weinglas zu nehmen, oder ein Stück Brot – nervöses Herumtasten schien ihnen ebenso fremd wie das Zittern innerer Konflikte. Im Kerzenschein schienen sie groß, und ihre Bewegungen hatten die natürliche Zweckbestimmtheit unabhängiger Geschöpfe.

Ihr wurde bewußt, daß sie auf seine Hände starrte. Sie fühlte eine Wärme, die sie von innen her erfüllte, und glaubte, sie komme vom Wein und der Entspannung nach dem Tag. Das Murmeln neu eintreffender Gäste, der Klang von Tafelsilber und Porzellan – sie überließ sich dem angenehmen Gefühl dieses zeitlosen Luxus. Vor dem Hauptgericht entschuldigte sie sich und ging zur Damentoilette. Als sie zurückkehrte, folgte Johns Blick dem Schwung ihrer Hüften, und sie sah, daß er die unter ihrem engen blauen Rock sich abzeichnenden Strumpfhalter bemerkt hatte. Männer fanden sie immer erotisch, erinnerte sie sich, viel besser als die praktischen Strumpfhosen. Seinem Gesichtsausdruck konnte sie entnehmen, daß er in der Benutzung eines Strumpfgürtels durch sie eine Provokation sah. Die unmittelbare und automatische Reaktion war eine strenge Spannung in ihrem Gesicht, aber etwas veranlaßte sie, den Ausdruck zu unterdrücken und die Andeutung eines Lächelns an den Mundwinkeln zupfen zu lassen. Ihre Entscheidung für altmodische Strumpfwaren hatte viel mehr mit einer Neigung zu Hefepilzinfektionen zu tun, aber sie ließ ihn denken, was er wollte.

 

Sie schlenderten die Tremont Street hinab und nahmen den schmalen Fußweg am Ufer des Charles River. Ein vollbusiges Mädchen trabte vorbei, angetan mit einem Polohemd, das den Aufdruck HÄNDE WEG trug. Normalerweise hätte Claire eine solche Schaustellung mit einem herabgezogenen Mundwinkel quittiert, an diesem Abend aber unterdrückte sie ein Schmunzeln. Brandy wärmte sie gegen den kalten Wind, der böig vom Fluß her wehte, und sie nahm Johns Arm, ohne zu überlegen.

»Du bist in dieser ganzen Angelegenheit soviel selbstsicherer als ich«, sagte sie leise.

»Hat keinen Sinn, sich zu sorgen.«

»Aber warum bleibst du dabei? Archäologie hatte dich früher nie besonders interessiert, du sagtest mir das am Anfang.«

Er zog die Brauen hoch und blickte zu den entfernten Lichtern des MIT hinüber. »Mein Interesse daran wurde geweckt. Aber… tatsächlich warst du es.«

»Wirklich? Ich?« Sie wunderte sich über den geschmeichelten Ton in ihrer Stimme und tadelte sich wegen solch offensichtlicher Koketterie. Dann aber mußte sie daran denken, daß sie mit diesem Fundstück weit mehr riskierte; sicherlich konnte sie sich hier ein kleines schelmisches Spiel leisten. Sie dachte an seine Hände, die nun an den Seiten herabhingen, als er sich ihr zu wandte. Sie atmete eine perlweiße Wolke aus, und es war, als breche etwas unbekümmert aus ihr hervor, etwas, das sie bisher wirksam blockiert hatte.

Er war ein ragender dunkler Umriß vor den Lichtern der Stadt, scheinbar größer als sie ihn erinnerte. »Sie sind hypnotisch, meine Dame.«

»Also habe ich die Archäologie für dich mit Leben erfüllt?« spottete sie. »Deine Stirnlappen angeregt?«

»Eher ein bißchen weiter unten.«

Ehe sie sich’s versah, hatte er sie in die Arme genommen. Ein Instinkt in ihr reagierte abwehrend, aber seine Hände waren fest an ihren Armen, die ruhigen, großen Hände, und sie blickte in sein Gesicht und versuchte in der Dunkelheit seinen Ausdruck zu lesen.

»Dann bist du also kein absoluter Gehirnmensch?« Sie behielt den leichten Ton bei. Vorübergleitende Autoscheinwerfer auf dem Storrow Drive ließen Streulicht über seine Züge gleiten, und sie sah ein erheitertes, beinahe ironisches Lächeln um seinen Mund, aber die Augen waren ernst und dunkel.

»Nein. Aber ich weiß, wie man angelt.«

»Angelt?«

»Meistens ist es bloß ein Warten.«

»Bis etwas an der Leine zupft?«

»Nein. Ein Warten auf den kräftigen Biß.«

»Und nun holst du mich ein?«

Er lächelte nur.

»Du arroganter Soundso!«

»Das sind deine Worte.«

Er küßte sie langsam, damit sie viel Zeit zum Denken habe, zum Akzeptieren. Es dauerte eine gute Weile, und als es vorbei war, fühlte sie seine Hände auf den Armen durch den Mantel, obwohl er sie nicht drückte, sie tatsächlich kaum berührte. Als sie in sein Gesicht blickte, merkte sie, daß die Hände zu ihm paßten, ein wesentlicher Teil seiner Persönlichkeit waren.

Sie hatte Angst, etwas zu sagen, und wünschte sich, der Augenblick werde andauern. Eine kalte Bö biß ihr ins Gesicht, spielte mit ihrem sorgfältig zurechtgemachten Haar, und plötzlich klapperten ihre Zähne.

»Wir werden dich unter Dach und Fach bringen müssen.«

»Ich… ja.«

»Wo wohnst du eigentlich?«

»Ich dachte schon, du würdest nie danach fragen.«

Artefakt
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