»Ein Schmuck? Was zeigt es?« fragte John.
Claire legte es vorsichtig in eine saubere Probenschale aus Kunststoff. »Nicht viel. Es ist so schwach. Eine figürliche Zeichnung oder dergleichen kann es nicht sein – zu unregelmäßig.«
»Vielleicht ist es zu sehr verblaßt«, sagte John. Ein Gähnen überwältigte ihn.
»Ich werde es morgen reinigen und versuchen, den Kontrast zu verstärken«, meinte Claire. »Selbst wenn wir die Linien nicht besser hervorheben können, bleibt es doch ein bedeutsamer Fund.«
»Wieso?«
»Elfenbein war in Mykene selten. Der Umstand, daß es als Schmuck dieses Artefakts verwendet wurde, bedeutet, daß der hier Bestattete sehr wichtig war.«
»Ein König?«
»Wahrscheinlich.«
»Und der Block war auch wichtig«, fügte George hinzu.
Schläfrig fragte John: »Warum haben Sie ihn dann versteckt?«
Am nächsten Vormittag, als George und John ein paar Quader bewegten, um Raum für die Geräte zu schaffen, erregte anschwellendes Motorengeräusch ihre Aufmerksamkeit.
George wandte den Kopf und hielt lauschend inne. »Verdammt!« murmelte er. »Wir hätten am Plan festhalten und letzte Nacht durcharbeiten sollen.«
»Schauen Sie, ich war vollkommen übermüdet. Und dazu…« John sah George aufspringen und zum Eingang des Kuppelgrabes laufen. »Oh – das ist er, wie?«
»Ja. Bleiben Sie, wo Sie sind!« George winkte ihn zurück. »Ich gehe hinunter und erkläre ihm, daß Sie ein Tourist sind, ein Freund von Claire.«
»Wollen Sie ihn hierherbringen?«
»Nein, nein, das fehlte noch… Verhalten Sie sich ruhig!« George ging in gemächlichem Schritt den Zugang hinaus und zum Lager hinunter.
John setzte die Arbeit an der Metallanalyse fort. Er hatte in die Seite des Kalksteinblocks gebohrt. Es war nicht einfach gewesen, und der winzige Bohrer hatte im Stein gesummt wie eine gefangene Biene. Er bemerkte nicht ohne Stolz, daß das Loch sauber und fachmännisch aussah.
Nun mußte er die schwarzen Kästen dreifach überprüfen. Sie nahmen in dem engen Raum um den Block viel Platz ein. Mit Georges Hilfe hatte er die schweren Quader aus dem Weg geschafft, was ihm Zeit gab, seine Unvertrautheit mit dem Schaltschema zu tarnen. Die Anschlüsse sahen jetzt gut aus. Er schaltete die Geräte ein und sah sich von einem befriedigenden, nicht beunruhigenden Summen belohnt. Es würde ein Weilchen dauern, bis sie angewärmt wären.
Er las wieder im Handbuch nach und wartete. Nicht lange, und die Neugierde überwand seine Vorsicht. Was, zum Teufel! Seit Stunden hatte er sich sozusagen auf Zehenspitzen durch die Prozedur bewegt; er brauchte eine Pause. Er verließ die Grabkammer, schloß die große hölzerne Tür und schlug den Pfad zum Lager ein.
Schon von weitem sah er einen nur etwa mittelgroßen, aber athletisch gebauten Mann zu George sprechen. Während er redete, machte er rasche, ungeduldige Gesten zu den Arbeitern, die ihre Kleinlastwagen beluden. Es schien nicht gerade Übereinstimmung zu herrschen. Der Mann sprach griechisch und so laut, daß seine Stimme weit trug, und John konnte sehen, daß die Arbeiter ihm zuhörten, während sie sich geschäftig gaben.
Er kam zwischen den letzten noch stehenden Zelten ins Lager und überlegte, ob er in einen Streit hineinlaufen solle, dessen Hintergründe er nicht verstand. Er befand sich hier ohnedies auf unsicherem Boden, außerhalb seines Gebietes…
Plötzlich erschien Claire im Eingang von einem der Zelte. Schweißperlen standen ihr auf Stirn und Oberlippe. Hatte sie auf ihn gewartet?
»Warten Sie, bevor sie mit Kontos sprechen«, sagte sie mit seltsam gepreßter Stimme.
»Nun, wenn es Ihnen lieber ist; ich bin sowieso nicht scharf darauf.«
»Nein, hören Sie zu! Er hat mich noch nicht gesehen, und ich möchte ihm nicht in die Quere kommen. Ich glaube auch nicht, daß er Sie vom Grab kommen sah. Tun Sie einfach so, als wären Sie von einem Spaziergang zur Küste hinunter zurückgekehrt.«
»Was? Sie…«
»Und dann sagen Sie ihm, daß wir heute nachmittag wegfahren, Mykene besichtigen wollen.«
»Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Sie können nicht im Grab arbeiten, solange er hier ist. Und ich möchte nicht gezwungen sein, Kontos etwas… etwas zu sagen, solange keine Notwendigkeit besteht.«
»Meine Güte, Sie sind ja ganz aufgeregt!« Er klopfte ihr begütigend auf die Schulter. »Hatte keine Ahnung, daß er Sie so sehr stört.«
»Es ist… – nicht er allein. Ich habe ihm nichts von dem Block erzählt.«
»So?«
»Und ich werde es auch nicht tun.«
Er zog die Brauen hoch.
»Sie wissen nicht, wie es war«, sagte sie heftig. »Ich habe gute Gründe.«
»Wie lange, glauben Sie, können Sie das machen, bevor er darauf kommt?«
»Lang genug, um wenigstens unsere Neugierde zu befriedigen. Glauben Sie mir, Kontos würde das Ding mit Beschlag belegen und alles Verdienst an der Entdeckung für sich beanspruchen.«
»Nun, trotzdem…«
»Lassen Sie die guten Ratschläge, ja?!« sagte sie ungeduldig. »Ich weiß genau, was ich tue. Und nun gehen Sie und sprechen Sie mit ihm! Aber denken Sie daran, Sie wissen nichts!«
»Wie könnte ich es vergessen? Es ist wahr.« Er lächelte und schlenderte weiter.
Dr. Alexandros Kontos erinnerte John an einen guten Rugbyspieler – breitschultrig, muskulös, doch weder zu groß noch zu schwer, mit einer gesammelten Energie, die von berechnender Intelligenz im Zaum gehalten wurde.
John war groß und breit genug, um von der Körpergröße eines anderen Mannes nicht beeindruckt zu sein. In der High School hatte er Verteidiger gespielt und war bald darauf gekommen, daß Schnelligkeit mehr bewirkte als Masse. Er war gut im Zuspielen gewesen, ein schneller Läufer, und in seinem letzten Schuljahr hatte die Mannschaft, der er angehörte, die Stadtmeisterschaft errungen. Je mehr aber die gegnerischen Mannschaften seine Gefährlichkeit erkannt hatten, desto wachsamer waren sie geworden, und nachdem er ein gutes Dutzend Male von schweren Abwehrspielern mit voller Wucht gerammt worden war, hatte er genug vom Spielen gehabt. Das waren Erfahrungen, die man nicht vergaß. Wenn man nach einem Mitspieler Ausschau hält, dem man das Ei zuspielen kann, ist es nicht immer möglich, schon auf das Zweizentnertier gefaßt zu sein, das im Begriff ist, einen in den Dreck zu schmettern. Wenn man zurückzuckt, geht das Zuspiel daneben. Solange man im Ballbesitz ist, muß man von der absoluten Überzeugung der eigenen Unsterblichkeit durchdrungen sein. Als John gemerkt hatte, daß diese Überzeugung zerbrochen war, hatte er gewußt, daß er als Spieler nichts mehr wert sein würde, und aufgegeben.
Kontos strotzte vor selbstsicherer, harter Unerbittlichkeit. Er hätte einen guten Abwehrspieler abgegeben.
John war auf der Hut, während er näher ging. Einen Mann wie Kontos zu täuschen, erforderte Geschick; er hoffte, Claire hatte nicht vor, es längere Zeit durchzuhalten.
George machte sie bekannt. Kontos zeigte augenblicklich eine unbewegliche Miene, die nichts preisgab. Auch sein Händedruck war neutral. »Ich fürchte, Sie kommen ein wenig spät; alles geht gerade zu Ende.«
»Ach, das macht nichts. Ich wollte hauptsächlich die Landschaft sehen, nicht bloß alte Gebeine.«
Zu seinen Gunsten muß gesagt sein, daß Kontos über den sanften Stich lächelte. »Wir Griechen haben in unserer Erde mehr ›Gebeine‹ als sonst jemand. Vielleicht werden Sie einen Blick in das Museum in Athen werfen, nachdem Sie sich an unseren schönen Landschaften gesättigt haben. Es ist lohnend selbst für den, der nur das Vergnügen sucht. An unserem Land ist mehr als Sonne und Wein und Strände, wissen Sie.« Die gutgeölte Stimme hielt genau das richtige Gleichgewicht zwischen Herzlichkeit und Herablassung. Und während er sprach, musterte er Johns Kleider, die Hände, das Gesicht und machte sich ein Bild von ihm.
»Ja, das werde ich sicherlich tun. Wollte nur Claire einen kleinen Besuch abstatten, während ich hier bin.«
»Sind Sie schon lange genug im Land, um andere Orte auf der Peloponnes zu besuchen?«
»Nein… bin gerade erst eingetroffen«, sagte John und nutzte die gedehnte Sprechweise des Südstaatlers, um zu denken. »Ich hatte gedacht, Claire könnte mir dies und das zeigen.«
»Ja?« Höfliches Interesse.
»Wir wollten gerade nach Mykene.«
»Sehr gut. Ein herrlicher Ort, eine unserer ältesten Kulturstätten.« Er blickte umher. »Ist sie…«
»Sie zieht sich um.«
»Ich verstehe. Und ihre nächste Station?«
»Ich dachte, daß ich vielleicht die Ägäis besuchen und etwas tauchen werde.«
»Ausgezeichnet. Die Kykladen, also?«
»Ich denke.«
Kontos verlor sichtlich das Interesse an weiteren Sondierungen und wandte sich an George. »Vielleicht sollten Sie auch einen Urlaub einplanen, wie?«
»Was meinen Sie?«
»Auf Ihrer Rückreise in die Vereinigten Staaten könnten Sie irgendwo haltmachen. Vielleicht ist im Forschungsbudget noch etwas Geld übrig.«
»Ist das Ihre Vorstellung von Bestechung?«
Zu Johns Überraschung nahm Kontos keinen Anstoß daran, was ein bezeichnendes Licht auf die Atmosphäre innerhalb des Ausgrabungsteams warf. Kontos begnügte sich mit einem ironischen Lächeln und sagte: »Eine unglückliche Bezeichnung. Bevor Mr. Bishop erschien, äußerten Sie den Wunsch, länger zu bleiben. Ich mache nur auf die Möglichkeit aufmerksam, daß Sie solche Tage an einem geeigneteren Ort unter entspannteren äußeren Umständen zubringen könnten.«
»Hören Sie auf!« sagte George verdrießlich. »Ich will keinen Urlaub. Ich will diese Arbeit beenden.«
»Sie wird zur rechten Zeit zu Ende geführt werden.« Kontos’ Ton war plötzlich kalt. »Einstweilen werden Sie abreisen.«
»Nun…«
»Nein! Ich wünsche, daß Sie alle abreisen! Innerhalb von zwei Tagen!«
»Das ist verrückt«, sagte George.
»Ich fürchte, die Situation rechtfertigt es.«
»Welche Situation?«
Kontos zuckte die Achseln. »Ich tue mein Bestes, aber wer kann für den guten Willen dieser Arbeiter garantieren? Die Erbitterung über die letzten Maßnahmen Ihrer Regierung ist so groß, daß sie als Reaktion darauf zu allem imstande sind.«
»Diese Kerle? Hören Sie schon auf!«
»Was Sie denken, ist belanglos. Sie werden den Anweisungen des gastgebenden Direktors folgen.«
»Ihre Erklärung gefällt mir nicht. Ich halte sie für vorgeschoben.«
»Ich habe es überhaupt nicht nötig, Ihnen gegenüber Erklärungen abzugeben. Aber ich bin jetzt höflich. Können Sie ebenso höflich sein?«
George biß sich auf die Lippe.
Kontos stemmte die Hände in die Hüften. »Haben Sie mich verstanden?«
»Ja. Aber das sind zwei ungestörte Tage, richtig? Ich möchte nichts, was die Arbeit verlangsamen würde.«
Kontos lächelte. Sein Schnurrbart schimmerte im Sonnenlicht. »Selbstverständlich können Sie arbeiten – solange die Verpackungs- und Aufräumungsarbeiten rechtzeitig beendet werden. Und ich werde wiederkommen, um die Materialien, die Inventarlisten für das Museum und alles andere zu überprüfen. Ich persönlich.«
»Na, großartig«, sagte George grimmig.