7

 

Mr. Carmody aus Washington war ein gutgekleideter Mann. Sein dichtes braunes Haar war kurzgeschnitten, und seine Schuhe blitzten von frischer schwarzer Schuhcreme. Er saß bequem an seinem Schreibtisch, doch sorgsam darauf bedacht, die Bügelfalten seines grauen Zweireihers nicht zu verderben. An seinem Kleiderhaken sah Claire einen eleganten Hut nach der letzten Mode über einem rostfarbenen Wintermantel.

Sie waren im achten Stockwerk des JFK-Bundesgebäudes zwischen der Cambridge und der Congress Street. An Wochenenden schien die Heizung ausgeschaltet zu sein. Claire fröstelte. Mr. Carmody hatte das Büro anscheinend mit einem zweiminütigen Telefongespräch in Besitz genommen. Als ein Zeugnis seiner Macht war es eindrucksvoll. Ein dicker Teppich, braune Vorhänge zu pastellfarbenen Wänden, sogar eine Couch. Er hatte ihnen gerade erklärt, wie beunruhigt das Außenministerium über diese Geschichte sei, weshalb er den ersten Flug von Washington genommen habe.

»Es schien mir eine unbedeutende Sache zu sein, bis Dr. Zaninetti zu einigen Persönlichkeiten der Regierung sprach«, sagte Carmody. Er rieb sich die Hände aneinander, als wüsche er sie. Im Gegensatz zu seiner makellosen Kleidung war sein Gesicht pockennarbig und derb, ein Kieselstein in einer Goldfassung.

»Das hat er getan?« Claire war überrascht.

»Er muß gleich zum Telefon gestürzt sein«, sagte John.

»Dr. Zaninetti hat eine Theorie, nach der dieser Gegenstand, der gestohlene Gegenstand, gefährlich sein kann.« Carmody wartete auf ihr bestätigendes Kopfnicken.

Statt dessen sagte John ungestüm: »Es ist nicht seine Theorie, aber er mag recht haben. Ich habe über das Problem viel nachgedacht und gerechnet, mehr als Zaninetti, und bin auch der Meinung, daß die Singularität im Zentrum des Würfels sich wahrscheinlich im Zustand eines höchst prekären Gleichgewichts befindet.«

Claire seufzte. Sie wußte, was als nächstes kam. Carmody stellte die erwarteten Fragen nach Singularitäten, und John antwortete – wie groß? (unendlich klein); Gewicht? (ein paar Hundert Kilogramm, nicht mehr); gebundene Energie? (Megatonnen von TNT); warum blieb sie solange im Würfel? (festgehalten von Magnetfeldern, die das Eisen im Innern des Würfels erzeugte).

Carmody fragte, wie die alten Griechen auf das Ding gestoßen sein könnten, und Claire sagte, daß es ein Geräusch gemacht oder eine Lichterscheinung gegeben habe, als ein Stück Stein in die Singularität fiel. Sie wies darauf hin, daß der Bernsteinzapfen durchscheinend war; vielleicht seien sie von den gelegentlichen Lichtausbrüchen im Innern eingeschüchtert gewesen. Es gebe noch keine definitiven Antworten.

Die Diskussion kehrte zur Frage der gebundenen Energie zurück. Als John sich bemühte, die vorläufige Natur seiner Berechnungen zu erläutern, dachte Claire voraus zum bevorstehenden Abend. Der Vortrag würde einen dramatischen Abschluß bekommen, nämlich die Bekanntmachung, daß der Würfel geraubt worden war. Und seltsamerweise hatten die Aufregungen des Tages bewirkt, daß ihre Nervosität angesichts der zu haltenden Rede verschwunden war. Sie hatte ihre Dias und sah jetzt nicht einmal die Notwendigkeit, etwas einzuüben. Wenn es darum ging, eine wissenschaftliche Entwicklung oder Erkenntnis allgemein darzustellen, war es immer entscheidend, die schmale Meerenge zwischen der Scylla fachlicher Herablassung und der Charybdis eines verwirrten Publikums zu segeln. Vielleicht könnte sie sich eher einen Irrtum auf der Seite strenger Wissenschaftlichkeit erlauben, wenn sie nur die dramatischen Akzente hervorhob, die das menschliche Interesse fesselten.

Abe hatte sie nach ungefähr anderthalb Stunden entdeckt. Die ersten Polizisten, die an Ort und Stelle eintrafen, waren zwei stiernackige Bilderbuchtypen mit einem Streifenwagen. Sie untersuchten das Stahltor nach Hinweisen, als hätten sie nie zuvor eins gesehen, dann standen sie herum und machten gelangweilte Gesichter. Ein Kriminalbeamter erschien, und auch er war nicht sonderlich aufgeregt. Immerhin hatte er den Flughafen angerufen, wo jedoch nichts von einem großen Gegenstand bekannt war, der nach Griechenland verfrachtet werden sollte. Sie versprachen die Sendungen nach anderen Zielorten zu überprüfen. Einstweilen war die Flughafenpolizei alarmiert, und so weiter.

Darüber hinaus war die Polizei nicht übermäßig besorgt. Verglichen mit einem Wochenende voller Verkehrsunfälle, Einbrüche, Diebstähle, Gewalttätigkeiten und einem Mordanschlag in Somerville war der Verlust eines alten Felsbrockens nicht eben von dem Stoff, der den Pulsschlag beschleunigte.

Claire hatte Hampton angerufen, der angemessen schockiert gewesen war. Er bekannte, keine Kenntnis von Kontos’ wahren Plänen zu haben, und betonte, daß er, Hampton, die Notwendigkeit, die physikalischen Messungen am MIT noch eine Woche lang fortzusetzen, deutlich gemacht habe. Hampton hatte sich sodann ausführlich über Kontos’ untadeligen Ruf als Wissenschaftler verbreitet und daß es ein schreckliches Mißverständnis gewesen sein müsse, das den Mann zu dieser Handlungsweise gezwungen hatte.

Nur Zaninetti war über die Neuigkeit in Erregung geraten und hatte gehandelt, indem er seine guten Verbindungen zur Nationalen Akademie und wahrscheinlich zu anderen Stellen genutzt hatte. Zaninetti bemühte sich gegenwärtig, die Bostoner Polizei zu mehr Aktion zu bewegen.

»Mr. Carmody«, unterbrach sie Johns sorgfältig formulierte physikalische Erklärungen, »Sie sind vom Außenministerium?«

»Nein, aber ich erhielt meine Information von dort. Bis heute wurde diese Angelegenheit dort als eine diplomatische… äh… Schwierigkeit behandelt.«

»Wen oder was repräsentieren Sie dann?«

Carmody lächelte entwaffnend. »Sagen wir, daß ich ein allgemeiner Trouble Shooter bin. Ich beurteile Situationen, wenn die größeren Behörden etwas länger benötigen, um geeignete Leute auf das Problem anzusetzen.«

»Also glaubt jemand, dies könnte gefährlich sein«, sagte Claire.

»Wenn Dr. Zaninetti und Dr. Bishop die Sache richtig beurteilen, dann ist diese… äh… Singularität so etwas wie eine potentielle Bombe, nicht wahr?«

»Und die Griechen sind damit außer Landes gekommen.«

Carmody schüttelte den Kopf. »Nicht durch einen Flughafen im weiteren Umkreis. Vielleicht mit einer Privatmaschine, obwohl ich nicht verstehe, wie sie den Gegenstand hätten durch den Zoll bringen können.«

»Kontos kann die Papiere gefälscht haben«, sagte sie. »Ich habe es auch schon einmal getan.«

Darauf hob Carmody die Brauen und musterte sie einen Augenblick, sagte aber nichts. Dann spitzte er die Lippen und murmelte: »Den Lieferwagen haben wir immerhin ausfindig gemacht.«

»Wo?« fragte Claire.

»Auf einer Straße, die zum Flughafen führt.«

»Sie müssen das Ding auf dem Luftwege hinausgeschafft haben.«

»Aber die Luftfrachtabteilung sagt…«

»Was ist mit Privatmaschinen?«

»Die müssen genauso durch den Zoll. Niemand hat eine Spur von den Griechen gesehen, oder von einer solchen Luftfrachtsendung.«

»Lassen Sie noch einmal nachprüfen«, sagte Claire kühn.

»Hm. – Nun, es deutet auch darauf hin, daß ihnen ziemlich gleich war, ob der Lieferwagen bald gefunden würde oder nicht. Nach allem, was Kontos zu Ihnen über den Abtransport sagte, muß ihm klar gewesen sein, daß wir zuerst den Flughafen überprüfen würden.«

»Sie glauben also«, sagte John, »daß die Griechen fest damit rechneten, über alle Berge zu sein, wenn der Lieferwagen gefunden würde.«

»Ja. Ein Geheimnis. Sie fuhren zum Flughafen, flogen aber nicht ab.«

»Nein«, sagte Claire, »der Lieferwagen blieb dort stehen, wo wir ihn vermuten würden.«

Carmody saugte an seinen Zähnen. »Und sie schafften den Gegenstand anderswo hin?«

»Ja«, sagte John. »Irgendwohin. Wem gehört der Lieferwagen?«

»Hertz.«

John machte ein finsteres Gesicht. »Wenn sie den Würfel auf einen anderen Wagen umgeladen haben…«

»Ist das nicht ziemlich umständlich, wenn man auf der Flucht ist?«

»Diese Leute haben ihre Aktion sorgfältig vorbereitet. Sie haben überall in Ihrem Labor Wanzen angebracht. Meine Leute haben bis jetzt ein halbes Dutzend gefunden.«

»Was?« sagte John. »Um uns zu belauschen?«

»Richtig. Sie müssen mitgehört haben, was Sie und Dr. Sprangle besprachen. Natürlich nahmen sie an, daß Sie nicht am Sonntagvormittag zur Arbeit kommen würden.«

»Verdammt!« sagte Claire. »Dieser Streit…«

»Was?« John schaute sie verdutzt an. »Ach so, ja. Während Kontos und ich aneinandergerieten, brachten seine Leute die Abhörwanzen an.«

»Ich dachte mir doch, daß etwas Sonderbares daran war, wie es geschah«, sagte Claire. »Er schien so verdammt selbstzufrieden.«

»Na und? Das ist er immer«, erwiderte John.

»Je nachdem, wieviel Sie im Laboratorium miteinander besprachen«, sagte Carmody, »kennt Kontos Ihre Vorstellungen von der Singularität. Daß sie eine Waffe sein könnte.« Er betrachtete sie aufmerksam, als erwarte er eine Reaktion.

»Waffe? Derartige Begriffe habe ich nie gebraucht«, sagte John.

»Gut. Der Gedanke kam Prof. Zaninetti.«

»Sehen Sie, wir wissen nicht genug, um uns überhaupt vorzustellen, wie solch eine Singularität als Waffe gebraucht werden könnte«, sagte John. »Es ist alles Spekulation.«

»Kontos hat echte Profis bei sich. Geheimdienstleute. Und wir haben geholfen, sie auszubilden, stelle ich mir vor. Früher oder später werden sie darauf kommen.«

»Selbst wenn sie es schaffen«, meinte John, »ist es ein großer Sprung…«

Carmody klopfte ungeduldig auf den Schreibtisch. »Die Sowjets sind bestrebt, die Griechen auf ihre Seite zu ziehen und im Mittelmeerraum Fuß zu fassen. Solche Informationen könnten ihnen unter den gegenwärtigen Verhältnissen leicht zugespielt werden. Das können wir nicht erlauben.«

»Ich dachte, wenn beide Seiten ihre Truppen in Europa verringerten, würde es besser aussehen«, sagte Claire.

Carmody wedelte abwehrend mit der Hand. »Was sie an einer Stelle geben, nehmen sie anderswo«, sagte er.

»Die Frage ist«, sagte John mit einem Anflug von Ungeduld, »wo steckt der Würfel? Können Ihre Leute Kontos nicht auf die Spur kommen?«

Carmody lächelte vage. »Wir kommen nicht weiter.«

»Es muß etwas Einfacheres geben«, sagte Claire. »Ich meine, vielleicht hat Kontos seine Pläne geändert, nachdem wir ihn überraschten. Er mußte damit rechnen, daß wir das Nummernschild des Lieferwagens sehen würden.«

»Oder daß jemand anders aufmerksam geworden sein könnte, als sie wegfuhren«, stimmte Carmody zu.

»Es ist zu verwirrend«, meinte Claire.

»Und nicht unsere eigentliche Funktion«, sagte Carmody. »Die Polizei versteht sich besser auf solche Dinge, obwohl es sich natürlich nicht um den üblichen Einbruchdiebstahl handelt.«

»Wir sollten uns die anderen Möglichkeiten, das Ding außer Landes zu schaffen, genauer ansehen«, warf John ein.

»Auf der Straße nach Kanada?« fragte Carmody. »Die Polizei wird routinemäßig…«

»Nein, auf dem Seewege. Einfach damit wegfahren, wie wir es vorgemacht haben.«

»Hmm. Das scheint mir eine langsame Methode für jemand, der vor der Polizei davonläuft.«

»Kontos hat ungewöhnliche Hilfsmittel. Zum Beispiel griechische Frachter, die im Hafen liegen.« John sah auf seine Armbanduhr. »Claire, ich glaube, es wird Zeit für dich.«

»Wofür?«

Sie erzählten ihm von dem Vortrag. Carmody winkte kurz ab. »Nein, das können Sie nicht machen.«

»Warum nicht?«

»Sie sind nicht die einzigen Wissenschaftler auf der Welt. Kontos mag als Archäologe die Implikationen nicht erkennen, aber anderen werden sie nicht entgehen. Was in diesem Ding steckt, kann von enormer Tragweite sein, und wir wissen nicht, wo es ist. Wenn es instabil ist, und in Boston oder überall sein könnte – verstehen Sie?«

Claire konnte es verstehen, was bedauerlich war. Sie hatte darauf gezählt, daß ihr Vortrag ein erster Schritt zur Rückgewinnung ihres wissenschaftlichen Rufes sein würde, oder wenigstens die Flut der Gerüchte und Klatschgeschichten, die durch jeden archäologischen Fachbereich des Landes, wenn nicht der Welt brandete, würde eindämmen können.

Sie versuchte dies zu erklären, aber Carmody wollte davon nichts wissen. »Sie müssen begreifen, daß Ihr Interesse und die archäologischen Aspekte sekundär sind.« Carmody saugte wieder an den Zähnen, eine Gewohnheit, die ihr allmählich auf die Nerven ging. »Nationale Sicherheitsinteressen verlangen, daß Sie nicht darüber sprechen. Schließlich werden wir es wahrscheinlich zurückgewinnen, vielleicht schon in ein paar Tagen. Dann…« – er strahlte – »dann können Sie alles erzählen. Ist das zuviel verlangt?«

Ja, dachte sie und biß die Zähne zusammen. Aber es schien keinen anderen Ausweg zu geben. An einem einzigen Tag hatte sie ihr Artefakt und die Gelegenheit zu einer öffentlichen Stellungnahme verloren.

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