3
»Dio mio!« sagte Sergio Zaninetti. »Sind Sie sicher?«
Als John kam, näherte sich Zaninettis Besuch in der Halle bereits seinem Ende. Abe war von dem berühmten Theoretiker offensichtlich bezaubert. »Ich habe es viele Male überprüft«, sagte er liebenswürdig, mit stummem Stolz.
»Aber dies ist von größter Bedeutung!«
»Darum gehen wir langsam und behutsam vor«, sagte Abe.
Sie wurden auf John aufmerksam, der sich den Weg durch die überall sich schlängelnden Kabel suchte. Zaninetti würdigte ihn einer freundlichen Begrüßung und schüttelte ihm die Hand. »Neulich sagten Sie mir nichts davon, daß Sie solch ein Ding haben.«
»Nun ja, es ist alles ein großes Geheimnis«, sagte John beiläufig.
»Ein erstaunliches Geheimnis, in toto. Sie mögen nicht wissen, was es ist, aber dieser Punkt im Zentrum – könnten Sie mir das noch einmal zeigen, Abraham?«
Abe beeilte sich, ein paar Schalter zu bedienen, und gleich darauf hatten sie die optische Darstellung auf dem größten Bildschirm. »Über Nacht hat es sich ein wenig aufgeklärt.«
John betrachtete das Bild und verglich es mit seiner Erinnerung. Das Viereck war ein wenig schärfer, und es gab Spuren wie Strähnen, die von den Rändern nach innen führten. Fleckige und ungleichmäßige Lichtspuren, vielleicht entlang den Diagonalen.
»Sie sagen, daß Sie den Punkt im Zentrum nicht auflösen können?« fragte Zaninetti.
»Kleiner als ein Millimeter, soweit ich es sagen kann.«
»Selbst beim Einsatz von Gammastrahlen?«
»Ja. Ich kann unter den gegebenen Bedingungen keine bessere Auflösung erreichen.«
»Harte Strahlung, ein Bild wie dieses…« Zaninetti gestikulierte ausholend zu dem Würfel, der unter den Anordnungen der Prüfinstrumente beinahe verschwunden war. »Es ist schwierig, sich das vorzustellen.«
»Wir brauchen es uns auch nicht vorzustellen«, sagte John etwas vorlaut. »Es ist da.«
Ein kurzer orangefarbener Blitz erschien in der oberen rechten Ecke des Bildschirms. Einen Augenblick später war der Lichtfleck verblaßt und verschwunden.
»He! Was?« sagte Zaninetti.
»Ein Gammastrahl, der in der Lichtsonde zerfällt«, sagte Abe. »Er hinterläßt eine Spur von energieschwachen Photonen, wenn einige der ionisierten Atome sich wieder verbinden.«
»Ich erinnere mich nicht«, sagte John, »so etwas vorher gesehen zu haben.«
Abe hob die Schultern. »Die kommen alle paar Stunden. Die Gammastrahlung nimmt ein wenig zu, glaube ich.«
Zaninetti spähte zu der Stelle, wo die Lichtsonde hineinging. Sie war jetzt von einem Kragen umgeben, der ein ringförmiges Drucksiegel an Ort und Stelle festhielt. Er wandte sich zu John. »Ich denke, Ihre Idee könnte richtig sein.«
»Welche Idee?«
»Daß es eine Singularität ist.«
Also hatte Abe die Katze aus dem Sack gelassen. Verdammt!
Zaninetti lächelte sparsam. »Abraham erzählte mir von Ihren Gravimetermessungen. Sie glauben, daß sie richtig sind?«
»Soweit ich feststellen kann«, sagte John widerwillig.
»Dann werden Sie auf dem richtigen Kurs sein. Ist pazzo, finden Sie nicht?« Und er versetzte John einen spielerischen Schlag auf den Oberarm. »Verrückt!«
John mußte grinsen. »Wahrscheinlich.«
»Ich denke, es verdient ernste, sehr ernste Untersuchungen.«
»Es gibt noch viel zu tun.«
»Etwas im Gestein, nicht? Gefangen in diesem bearbeiteten Block. Zufällige Entdeckung. Erinnert an die Quark-Geschichte Ende der Siebziger Jahre, erinnern Sie sich?«
»Die Suche nach minimal geladenen Partikeln?«
»Si. Die Leute suchten in verschiedenen Materialien, hofften, solche Partikel könnten dort in den Kernen festgehalten sein. Kein Erfolg, aber eine Idee, die vielleicht weitere Nachforschungen rechtfertigte. Wie hier.«
John blickte zum Würfel. Er schien jetzt kleiner, machtlos, eingezwängt in den Schraubstock eines modernen Laboratoriums. Er erinnerte sich, wie er die Gegenwart in der Höhle neben dem Grab empfunden hatte, groß und im Schatten aufragend, geschichtsträchtig, ein Ding aus uralten Zeiten, aus denen nur noch Legenden in die Gegenwart herüberdrangen.
Er schüttelte sich. Teil dieser Empfindung war der seltsame Wechsel in der örtlichen Schwere an der Oberfläche des Steins. Die Hände spürten es, wenn man den Fels befühlte, und der Geist konnte einem in einem spukhaften Ort wie jener Höhle Streiche spielen. »Ja, wenn dieses Ding in den Fels geraten ist, muß es mit enormer Energie hineingetrieben worden sein, einem kosmischen Strahl oder was, denke ich.«
»Ich sehe«, sagte Zaninetti und tippte mit dem Zeigefinger an seine volle Unterlippe. »Durchbohrte den Boden und kam in diesem Block zur Ruhe.« Ohne seine durchdringende Konzentration hätte er wie ein schlauer Gastwirt ausgesehen, der die Tische überblickte. Die schmalen Augen und der schiefgezogene Mund verrieten die Intensität seiner Überlegungen. »Dann höhlte er eine Kammer aus.«
»Um ein Vakuum zu erzeugen, richtig. Das war der Gedanke, der mich überzeugte.«
»Um soviel Strahlung abzugeben, muß die… die Singularität etwas – den Stein – in Energie umwandeln, und zwar mit einem hohen Wirkungsgrad.«
John entsann sich, daß Schwarze Löcher auf diese Weise hochwirksam waren. Sie konnten die angezogene Materie mit einer Restmassenenergie von mc2 aufnehmen und bis zu einem Viertel davon in Hitze und Strahlung umwandeln, die dem Loch entwichen und von außen sichtbar waren. Das war das Paradigma, das die enorm hellen Emissionen der Quasare erklärte. Astrophysiker vermuteten, daß riesige Schwarze Löcher in der Mitte mancher junger Galaxien waren, Sterne und kosmischen Staub anzogen und Partikelstrahlen ausspien. Aber das hatte wenig gemein mit der Behauptung, daß jede Form von raumzeitlicher Singularität das gleiche vermöchte. Abes Daten ließen den Schluß zu, daß es sich hier so verhielt. Das theoretische Problem bestand darin, Lösungen zu finden, die alle Merkmale dieses Objekts beschrieben und dennoch gestatteten, daß Energieextraktion vorkam. John sah, daß Zaninetti dies bereits erraten hatte. Der Mann dachte schnell.
»Sie werden bald veröffentlichen?«
John war verdutzt. Dann verneigte er sich zu Abe. »Das hängt von dem Mann mit den Daten ab«, sagte er höflich.
»Ich möchte absolut sicher sein«, sagte Abe.
»Aber selbstverständlich«, erwiderte Zaninetti. »Ich achte Ihre Vorsicht.«
»Die interessante Frage ist, wo man veröffentlichen soll?« sagte John.
Zaninetti und Abe runzelten die Stirn. »Ich meine«, fuhr John fort, »handelt es sich hier um ein physikalisches Problem? Oder sollten wir uns mit der archäologischen Rolle des Würfels befassen? Dabei wird Claire mitreden wollen.«
Abe sagte: »Nun, ich weiß, was Sie denken, aber das spaltet sich in zwei Probleme, nicht wahr.« Es war keine Frage.
»Diese Sache hat eine archäologische Seite«, sagte John. »Wir können mit dem Ding nicht nach Belieben experimentieren.«
»Natürlich werden wir den Würfel nicht zerstören«, sagte Abe. Er lächelte Zaninetti an. »Schließlich schirmt uns das Gestein gegen die Gammastrahlen ab.«
»Gewiß, aber Sie müssen mit der Universität Boston und den anderen verhandeln.«
»Keine Sorge«, erwiderte Abe mit Überzeugung. »Sobald allgemein bekannt ist, was wir hier haben, wird es seitens der Universität Boston keine weiteren Schwierigkeiten geben. Heute früh habe ich wieder mit dem Präsidenten gesprochen, und glauben Sie mir, er steht auf unserer Seite. Vorbehaltlos.«
John nickte. Abe war auf den bürokratischen Ebenen ein fähiger Stratege. Vielleicht sollte er die Politik einfach vergessen und sich auf seine Mathematik konzentrieren. Zaninetti hatte die Möglichkeit sofort gesehen.
Tatsächlich, dachte er plötzlich, hatte Zaninetti vielleicht sogar die stillschweigenden Folgerungen gewittert, die sich aus dem Datenmaterial ergaben, an dem er arbeitete. Er konnte nicht annehmen, daß es Zaninetti einfach entgangen sei.
Die Dinge waren jetzt in Bewegung geraten. Zu schnell.
Er verließ die Halle und ging geradewegs zu seinem Büro, ohne zu Mittag zu essen. Es gab mathematische Wege, denen er folgen mußte, sich gabelnde und verzweigende Möglichkeiten, durch die er nur mit Geduld und Intuition finden konnte. Zaninetti hatte ihn jovial behandelt und ein paar Scherze gemacht, hatte tatsächlich seinem Ruf als mitteilsamer und bisweilen überschwenglicher Mensch Ehre gemacht und Abe im Handumdrehen für sich gewonnen. Zaninettis frühe Laufbahn hatte sich auf dem Gebiet der Elementarteilchenphysik abgespielt, wo er das Geschick erlernt hatte, wortkargen Experimentatoren und lakonischen Assistenten benötigtes Datenmaterial abzuringen. Eine Studie der Nationalen Wissenschaftsstiftung hatte einmal gezeigt, daß theoretische Physiker die verbal Geschicktesten der gesamten naturwissenschaftlichen Gemeinde waren, und man hatte daraus die Folgerung gezogen, daß dies in irgendeiner Weise ihre mathematischen Fähigkeiten überlappe. Mathematiker waren eher gut in Musik, aber – so wurde in der Studie argumentiert – die theoretische Physik war eine Art Mittelding, bedurfte mathematischer Geschicklichkeit und physikalischer Intuition. Vielleicht korrelierten diese mit Wortgewandtheit, mutmaßten die Autoren des Berichts. Die Studie hatte freilich nicht die Möglichkeit in Erwägung gezogen, daß gute Redner erfolgreicher waren, weil sie es leichter hatten, Gegner für sich zu gewinnen und benötigte Information zu erhalten.
John wußte genug, um sich eine Weile von allem Gerede und aller Spekulation fernzuhalten. Er brauchte Zeit, um auf einen leeren Schreibblock zu starren und allmählich zu sehen, wohin die verworren scheinenden Implikationen der Gleichungen führten, auf der Suche nach gültigen Mustern, die hinter der komprimierten, täuschend einfachen Niederschrift lagen. Die Gleichungen der Physik waren nicht in der Form kompliziert; tatsächlich waren sie verlockend einfach; ihre komplexe Natur verbarg sich in der geheimnisvollen Notierung.
Die Mandarine der Physik waren jene, die nach den grundlegenden Gesetzen suchten, eine Suche, die sie nach innen zu dem sehr Kleinen oder nach außen zur gewaltigen Kosmologie führte. Die wirkliche Lösung der Gleichungen in ihren Myriaden von Anwendungen war ein Problem, das der Masse der Mathematiker und Physiker zu lösen blieb. Obgleich die grundlegenden Gleichungen zur Beschreibung der Sonne, um ein Beispiel zu nennen, seit einem Jahrhundert bekannt waren – Mexwells vier Beziehungen, plus Newtonsche Mechanik –, waren die magnetischen Bogen, die heftigen Ausbrüche und Stürme an der Sonnenoberfläche noch immer kaum verstanden.
Im Zusammenhang mit dem Würfel gab es zwei entscheidende Fakten. Erstens wog er nur ungefähr eine Tonne. Mit so wenig Masse war sein eigenes Schwerefeld sehr, sehr gering. Aber der zweite Umstand – die vierpoligen Schlingen des Schwerefelds – schien dem zu widersprechen. Wie konnte so wenig Masse in ihrem Umkreis ein starkes, kompliziertes Feld erzeugen?
Das war der entscheidende Hinweis, dachte John und kratzte sich abwesend die Oberlippe – diese täuschend schwache Anziehungskraft, wenn man mit der Hand über den Stein strich.
In der menschlichen Erfahrung war Schwere immer einfach. Sterne und Planeten waren sphärisch. Das Sonnensystem und die Milchstraße waren Scheiben, aber das lag daran, daß ihre Rotationsbewegung das Zusammenfallen zu einer großen runden Masse verhinderte. In allen Himmelskörpern verdichtete eine sphärisch wirkende Kraft die Materie.
Das Artefakt verhielt sich nicht so lehrbuchfromm. Es bewies, daß ein Partikel komplizierte Schwerefelder erzeugen konnte. In der Sprache des Mathematikers bedeutete dies, daß in den grundlegenden Gleichungen nichtsphärische Lösungen lauern mußten.
Während der letzten Tage, seit er die zweite Tatsache entdeckt hatte, war John mit Einsteins klassischen Gleichungen für die Schwerkraft beschäftigt gewesen. Alle Welt hatte immer sphärische Lösungen – Sterne, Scheiben – für diese Gleichungen als selbstverständlich angesehen. Selbst das Universum als ganzes wurde sphärisch und symmetrisch gesehen.
Weil es die bequeme Lösung war, dachte John. Wenn man nicht von sphärischer Symmetrie ausging, waren die Einsteinschen Gleichungen ein Durcheinander. Er schrieb die allgemeinere Form aus, eine, die Einstein nie untersucht hatte. Lange starrte er auf das beschriebene Blatt, hörte kaum die entfernte Stimme von jemand, der draußen im Korridor vorbeiging. Hier gab es Möglichkeiten…
Um ein verzerrtes Feld zu erhalten, mußte man Lösungen finden, welche die Raumzeit wie eine stehende Welle verformten. Die Analogie, die ihn dazu führte, waren die großen, langsam sich bewegenden Anschwellungen von Wassermassen, die manchmal in Kanälen und Flüssen beobachtet werden. Er hatte eine solche Flutwelle einmal in einem kleinen Flußlauf nahe der Golfküste gesehen, kurz vor einem Unwetter. Es war eine unheimliche Anschwellung von Wasser, die an der Oberfläche des Flüßchens landeinwärts gewandert war. Er war damals vierzehn gewesen, und der Anblick hatte ihn aufs Höchste beunruhigt, da ihm irgendwie etwas Bösartiges eigen schien. Seitdem hatte er solche Naturerscheinungen studiert; sie wurden ›Solitone‹ genannt. Anders als gewöhnliche, winderzeugte Wellen hatten sie nur Kämme, keine Täler.
Er hatte einige Soliton-ähnliche Lösungen für Einsteins Gleichungen gefunden, aber sie hatten beunruhigende Eigenschaften. Als er sie nun betrachtete, fühlte er wieder das Unbehagen der Jugendjahre, ein leises Prickeln der Nackenhaut beim Anblick von etwas aller Erfahrung völlig Entgegengesetztem.
Die Solitone benötigten bestimmte mathematische Formen, um überhaupt eine stabile Lösung zu haben. Dies legte den Gedanken nahe, daß eine andere Kraft ins Spiel gekommen war, ein Feld, das in einem extrem kleinen Bereich auftrat. Allein würden Solitone sehr wie gewöhnliche, winzige Schwarze Löcher aussehen. Sie brauchten sich nicht wie Wassersolitone zu bewegen. Sie konnten stillstehen.
Aber zwei Schwarze Löcher zusammen würden einander augenblicklich anziehen, verschmelzen und ein etwas größeres Schwarzes Loch von einem Gewicht bilden, das wenigstens so groß war wie das eines Berges. Das war offensichtlich nicht, was im Mittelpunkt des Würfels war, sonst wäre niemand imstande gewesen, ihn von der Stelle zu bewegen.
Plötzlich sah er den Ausweg.
Die neue Kraft löste dieses Rätsel. Anders als die Schwerkraft, war sie abstoßend. Sie hinderte die Schwarzen Löcher daran, eine gemeinsame Schwere auszubilden, indem sie sie getrennt hielt und keine Verschmelzung zuließ.
Es war eine sehr eigentümliche Kraft. In der Sprache des Mathematikers war sie vom nicht-Abelschen Typ, ähnlich den Kräften, die subnukleare Partikel wie Quarks regulierten. Die einzigen sichtbaren Lösungen waren nicht die punktförmigen Singularitäten, die der gewöhnlichen Feldtheorie vertraut waren. Sie waren etwas Fremdartiges, mehr wie Windungen in der Raumzeit als Punkte.
In der Partikelphysik war es üblich, Lösungen mit Quantenzahlen zu etikettieren und diesen Zahlen Namen zu geben, wie »Farbe« und »Zauber«. Gute Terminologie war selten; heutzutage gebrauchte man sogar »Stil« und »Substanz«, um obskure mathematische Aspekte zu beschreiben. John beschloß diese neue Kraft »Mode« zu etikettieren, nur um eine Spur von ironischem Zweifel zu injizieren. Es war schließlich denkbar, daß dies alles durchaus falsch war.
Die Partikel, die er Einsteins Gleichungen abgerungen hatte, waren massiv, aber die Abstoßungskraft zwischen ihnen kompensierte diese Masse beinahe vollkommen. Fein. Tatsächlich könnte er genausogut die Konfiguration von zwei benachbarten Löchern nehmen und sie ein Partikel nennen, da das alles war, was existieren konnte. Er beschloß, sie Verzerrungen zu nennen. Verzerrungen in der Raumzeit.
Er hatte bis zum Spätnachmittag gearbeitet, unbeweglich auf seinem altmodischen, gepolsterten Drehsessel aus Walnußholz. Schließlich stand er auf, reckte die steifen Glieder und blickte zum Fenster hinaus, wo die Schatten ineinander flossen und zum ersten Mal hörte er das Brausen des Verkehrs vom Memorial Drive. Er hatte etwas, aber er wußte nicht, was es bedeutete. Oder ob es zufriedenstellend beschrieb, was in Abe Sprangles Halle stand.
Er begann auf und ab zu gehen. Er wußte, daß er für diesen Tag verbraucht war; niemand konnte einen ermüdeten Verstand zwingen, anstrengende höhere Mathematik zu treiben. Der Verstand verlor einfach seine Schärfe, seine Fähigkeit, logische Ketten zu überblicken und eine Möglichkeit nach der anderen zu durchdenken. Als an seine Tür geklopft wurde, erschrak er, war aber nicht ärgerlich über die Unterbrechung.
Claire kam mit dem gleichen Elan hereinmarschiert, den sie bei ihrer ersten Begegnung gezeigt hatte. Sie trug ein konservativ geschnittenes, aber modisch rostbraunes Kostüm, aus dem eine rüschenbesetzte, eierschalenfarbene Bluse hervorsah. Ihr Nagellack paßte zur Farbe des Lippenstifts, und sie bewegte sich, als ob sie eine Million Dollar wert wäre. Er hatte das Bild vor Augen, wie sie damals bei ihrem ersten Besuch auf ihn zugekommen war, und es überraschte ihn, als er sich vergegenwärtigte, daß es erst vor ein paar Monaten gewesen war. Es kam ihm wie eine halbe Lebenszeit vor.
»Alles aufgeräumt«, bemerkte sie fröhlich.
»Ah, ja«, murmelte er mit schwerer Zunge.
Sie strahlte und setzte sich auf die Schreibtischkante. »Gewöhnlich hast du hier ein wüstes Durcheinander.«
»Ich habe gerechnet. Ich sorge immer für Ordnung in meinen Papieren, wenn sie etwas bedeuten könnten.« Er lehnte sich gegen das Bücherregal und sah zu, wie sie eine der dunkelbraunen Zigaretten mit dem goldenen Mundstück anzündete. Sie kleidete sich immer gut, aber er erkannte die Zeichen von Unsicherheit; innere Gewißheit war umgekehrt proportional zur Menge des Make-up. »Was gibt es?«
Sie verzog das Gesicht. »Hampton hat eine Akte über mich angelegt.«
»Um dich wegen Fehlverhaltens entlassen zu können?«
»Wenn er mich nicht vorher strecken und vierteilen lassen kann.«
»Die Universitätsverwaltung wird sehen, daß er voreingenommen ist.«
»Und? Sie sind auf seiner Seite. Einer von ihnen nannte mich heute einen Affront der Universität.«
»Komm her!« Sie kam, fast widerwillig. Sie umarmten sich, und John schloß die Augen, ließ die Ermüdung des Nachmittags heraus und atmete den Duft ihres Haares. Es waren nicht die Augenblicke, wenn er den Puls in den Schläfen pochen hörte, die ihm am besten gefielen, sondern Augenblicke wie dieser, wenn sie so kostbar und tief schien, daß er niemals ihr innerstes Wesen vermeinte ergründen zu können. Allmählich kam eine nachgiebige Weichheit in sie, und sie schmiegte sich an ihn. Der lange Augenblick zog sich hin, dann küßten sie einander und lösten sich. Sie drückte ihre Zigarette aus.
»Wenn ich nur wüßte, was ich tun sollte«, sagte sie unbestimmt.
»Gegenstoß.«
»Wie?«
»Hampton ist an die Öffentlichkeit gegangen, hat im Globe alles ausgebreitet. Du tust das gleiche.«
»Ich soll sie anrufen und bitten, mich zu interviewen?«
Er schnalzte mißbilligend. Nördliche intellektuelle Steifheit. »Du mußt machen, daß sie zu dir kommen. Das pflegte General Lee immer so zu halten.«
»Gettysburg war ein Versehen?«
»Eine geniale Strategie, die scheiterte.«
»Wie soll ich sie dazu bringen, daß sie geschnüffelt kommen?«
»Du hältst einen Vortrag. Mit Dias vom Artefakt.«
»An der Universität? Das würden sie verhindern.«
»Wäre anderswo nicht besser? Mehr im Blickfeld der Öffentlichkeit?«
»Mal überlegen… Wie wär’s mit dem Museum?«
»Wo ist das?«
»Du bist nie im Museum gewesen?«
»Ich bin ein Fachidiot, vergiß das nicht. Ein ungebildeter, antihumanistischer Wissenschaftler.«
»Ach ja, aus dem Land der Philister. Ich hatte es vergessen.« Sie schritt mit erneuerter Energie im Büro auf und ab. Er bemerkte mit Genugtuung, daß das rostbraune Kostüm ziemlich anliegend geschnitten war. »Das könnte klappen, weißt du… Das Museum veranstaltet gelegentlich öffentliche Vorträge. Aber wieviel sollte ich sagen?«
»Die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.«
»Wirklich?«
»Ja, du solltest mit allem herauskommen.«
»Abe Sprangle könnte Einwände erheben.«
»Wir werden mit ihm reden.«
»Vieles davon ist seine Arbeit; die Veröffentlichung muß er sich vorbehalten.«
»Nicht die archäologischen Aspekte.«
»Ich weiß nicht. Ich habe nie so für die Öffentlichkeit gespielt.«
»Wird Zeit, daß du es lernst.«