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Die bedeutsamste Lektion moderner Einsteinscher Physik war der Umstand, daß Raum sich pathologisch verhalten konnte.

Vor Einstein war die Welt ein Raum von Billardkugeln, unbarmherzig voraussagbarer Bahnen und heiterer Gewißheit. Kein Physiker kann sich heutzutage ohne einen Schauer von Erregung des Augenblicks entsinnen, als er diese wüstenhafte Newtonsche Landschaft verließ und in eine Welt eintrat, die an Lewis Carroll gemahnte, wo die Zeit eine vierte Dimension war, der Raum sich schwindelerregend krümmte, und Wissenschaftler sich in aller Aufrichtigkeit fröhlich über die einfachsten Fragen, was wo und wann geschah, streiten konnten. Einstein verband den Raum mit der Materie, die er enthielt, und gab der Physik eine Tiefe und ein Geheimnis zurück, das sie verloren hatte.

Indem er das Universum zu einem Partner in der Konstruktion seiner eigenen Geometrie machte, räumte Einstein die Möglichkeit ein, daß es Fallgruben, Sackgassen und phantastische Stellen enthielt. Sobald er gezeigt hatte, daß die Materie die Raumzeit krümmen konnte, ergab sich die Möglichkeit, daß die Krümmung grenzenlos sein könnte, unendlich. Ein Partikel, das sich durch solch eine Region der Raumzeit bewegte, mußte jenseits einen Punkt finden, über den es nicht hinaus konnte, eine Stelle, wo seine eigene Existenz endete – eine Singularität.

»Gut«, sagte Claire, »Singularität ist ein anderes Wort für Schwarzes Loch, richtig?«

»Beinahe«, antwortete John. »Es könnte andere Formen von Singularität geben, aber die eine, von der jedermann weiß, ist das Schwarze Loch.«

»Aber Schwarze Löcher sind Sterne. Oder waren es.«

»Richtig. Ich denke, wir haben hier etwas, was wie ein Schwarzes Loch ist, nicht identisch.«

»Es gibt Strahlung ab. Schwarze Löcher tun das nicht – deshalb sind sie schwarz.«

»Nicht doch. Ein Loch zieht Materie an, die in einer Art Spirale hineinfällt. Nehmen wir an, es handle sich um eine Staubwolke oder was immer, die im Anziehungsbereich eines Schwarzen Loches kreist. Hier, ich kann es skizzieren. Teile der Staubmassen werden nähergezogen. Das ergibt eine diskusförmige Scheibe von Materie, die immer rascher um den Anziehungspunkt kreist. Die Abflachung zu einer Scheibe geschieht durch einfache Reibung. Dadurch verliert die Materie Energie und wird noch näher herangezogen. In der Nähe des Loches erfährt sie eine starke Verdichtung und beginnt sich noch mehr an den benachbarten Materieteilchen zu reiben. So erhitzt sie sich durch Reibung. Unmittelbar bevor das Loch sie schluckt, sendet diese erhitzte Materie Wärme und Röntgenstrahlen und so weiter.«

»Also sind Schwarze Löcher nicht schwarz«, sagte Claire zweifelnd.

»Nicht wenn es in der Nachbarschaft Materie zu schlucken gibt. Der beste Beweis dafür ist die Kernregion der Galaxis, wo es massenhaft Sterne aufzuzehren gibt. Diese Skizze könnte zeigen, wie es dort aussieht. Schwarze Löcher, wirklich große, schlucken Sterne und geben enorme Mengen Strahlung ab. Sie sind auffallend hell. Das ist wahrscheinlich, was man unter Quasaren versteht.«

Claire runzelte die Stirn. Sie rang mit der ausgefallenen Idee. »Gut, ich verstehe nichts von Quasaren. Aber dieses Ding, das wir hier haben, ist klein.«

»Richtig. Es gibt keine Grenze für die Größe eines Schwarzen Lochs. Sie können winzig sein. Kleine leben nicht lang, aber es ist möglich, daß eines gebildet wird und nun dasitzt und fleißig versucht, seine Umgebung in sich hineinzuziehen.«

»Und eins soll in dem Würfel drin sitzen?«

»Es könnte sein. Wie willst du sonst die Strahlung erklären?«

Claire zog ein Gesicht, weil ihr die Schlußfolgerung nicht gefiel. »Aber es ist… es ist verrückt.«

»Allerdings«, sagte John amüsiert.

 

Abe lauschte ihrem Gespräch mit offenem Unglauben. Sie alle hatten Verpflichtungen anderswo, und der Tag neigte sich dem Ende zu, und so ging John, erleichtert und froh, daß er seine Bombe hatte platzen lassen. Was er den anderen nicht erzählt hatte, war der Umstand, daß er über die Physik Schwarzer Löcher nur unvollkommen im Bilde war und Zeit brauchte, etwas darüber zu lesen.

Er arbeitete die nächste Nacht durch und erschien am Morgen übernächtig und mit geröteten Augen in der Halle.

»Sie wollen was messen?« Abe verzog den Mund in einer geringschätzigen Grimasse.

»Die Schwerkraft. Gibt es hier ein Gerät?«

Sie mußten das Gravimeter vom geologischen Fachbereich aus einem anderen Gebäude holen. Es wurde auf der Suche nach möglichen Ölvorkommen zur Untersuchung von Verwerfungen und Massenverschiebungen verwendet. Die Ölsuche hatte zu einer enormen Verfeinerung der Technik geführt, und so konnte John den größten Teil der Arbeit selbst durchführen. Abe war nicht interessiert, seine Zeit mit einem solch wenig erfolgversprechenden Unternehmen zu verbringen, und beschäftigte sich mit seinen eigenen Messungen. Er hatte noch keine Erklärung für den Inhalt des Würfels, tat Johns Vorschlag vom vergangenen Tag jedoch als Wunschtraum ab. Die Idee der radioaktiven Anomalie sagte ihm noch immer zu, doch war das nicht nachlassende Vakuum ein Umstand, den zu ignorieren er einstweilen vorzog. John hatte Verständnis für seine Skepsis. Abe war mit zu vielen phantastischen Ideen auf einmal konfrontiert worden. Er brauchte Zeit, sie zu verdauen.

Das Gerät, das John in der Halle herummanövrierte, war eine spindeldürre Angelegenheit aus Stäben und Spulen, und besaß die Fähigkeit, Abweichungen sowohl in der Stärke als auch in der Richtung der lokalen Schwerkraft mit einer Genauigkeit von eins zu einer Million zu messen. John arbeitete langsam damit, weil ihm das Gerät unvertraut war und seine Übermüdung ihn träge machte, doch blieb er beharrlich bei der Sache. Am Vormittag kam Claire, um zu helfen. Nach dem Mittagessen gewannen sie ihr erstes größeres Ergebnis.

Aus einer Distanz von fünf Metern gab es eine winzige Abweichung zum Würfel. Ging man näher heran, so nahm die Ablenkung rasch zu. Claire konnte wegen der langen Balancierstange am Rahmen das kurze Ende des Detektors nicht näher als zwei Zentimeter an den Block heranbringen, aber schon dort war die Wirkung enorm – nahezu ein Prozent der Schwerkraft.

»Das erklärt«, sagte Claire, »dieses komische Gefühl, wenn du mit der Hand über die Oberfläche streichst.«

»Ja… ich habe es auch bemerkt.« John starrte angestrengt auf die Skala des Gravimeters. Er hatte das Gerät auf der anderen Seite des Würfels aufgestellt.

»Was gibt es?«

»Die Skala. Hier gibt sie eine andere Ablesung.«

»Du meinst, die Beschleunigung ist von der anderen Seite verschieden?«

»Scheint so. Sie ist nur ungefähr halb so stark.«

»Ich dachte, die Schwerkraft sei in allen Richtungen dieselbe.«

»Ja. Wir nennen es sphärische Symmetrie.«

»Aber diese Schwerkraft vom Würfel ist es nicht?«

»Anscheinend nicht. Und sie ist so stark…«

»Nur ein Prozent der Erdschwere, das ist nicht so viel.«

»Um die örtliche Schwerkraft auch nur um ein Prozent zu verändern, brauchst du… – laß mal sehen.« Er stand bei den röhrenförmigen Anordnungen des Gravimeters, sorgsam bedacht, nicht die Balancierstangen zu berühren, und rechnete im Kopf. »Dazu brauchtest du ungefähr zwei Kubikkilometer Fels.«

»Deine Idee… von einer Singularität…«

»Ein ganzer Berg! Das kommt nahe an die Masse heran, die ein Schwarzes Loch brauchen würde, um vom Anbeginn des Universums zu überleben.«

»Du glaubst, dies könnte eins sein?«

Er schüttelte den Kopf. »Wo ist die Masse? Die Masse, die derjenigen eines ganzen Berges gleichkommt! Mit diesem Gewicht würde das Ding durch den Boden fallen, als ob der Beton aus Spinnweben wäre.«

»Du hast den Würfel wieder gewogen?«

Er nickte. »Angenommen, es ist ein ziemlich großes Loch da drin, dann wiegt die Singularität vielleicht fünfzig, hundert Kilo.«

Er stand eine Weile in Gedanken verloren. Schließlich fragte sie: »Willst du noch etwas anderes messen?«

»Wie? O ja, gewiß. Ich möchte feststellen, wie diese Beschleunigung aus anderen Winkeln aussieht. Eine dreidimensionale Karte davon machen.«

»Dann kann ich das hier abbauen…« Sie machte sich daran, den Gravimeter zwischen den Kabeln und elektronischen Meßinstrumenten herauszubugsieren.

»Claire?«

Sie blickte auf, vor Konzentration schwitzend und auf die Unterlippe beißend, eine Haarlocke in der Stirn. Er lächelte und sagte: »Nur weil etwas verrückt ist, bedeutet es nicht, daß es falsch sein muß.«

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