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Die Sonntagsstille in den Straßen, die John nur während geschäftiger Wochentage kannte, war seltsam beunruhigend. Sie ließen den Wagen auf einem kleinen, mit Ketten eingegrenzten Parkplatz und gingen drei Häuser weit die Vassar Street hinunter. Wolken verhüllten die Sonne, und vom Charles River blies ein schneidender Wind herauf. Die Stille schien um sie zu schweben, ein unsichtbares Stoßpolster gegen das Summen der Stadt jenseits. Sie nahmen eine Abkürzung zwischen zwei anonymen Gebäuden, und John sperrte mit dem Schlüssel, den Abe ihm überlassen hatte, einen Seiteneingang des Gebäudes 42 auf. Sie gingen einen kurzen Korridor mit kleinen Büroräumen entlang und um eine Ecke zur Halle. John mußte die Seitentür aufsperren. Er drückte die Tür auf und trat vor Claire ein.
Fünf Meter vor ihm stand Unteroffizier Petrakos und blickte sie an. John blieb wie vom Donner gerührt stehen. Claire, die nichts sehen konnte, prallte auf ihn.
Sein Blick ging an der Frau vorbei und nahm eine in Unbeweglichkeit erstarrte Szene wahr… Zwei Männer in Blue Jeans waren gerade dabei, den Würfel mit Hilfe der Laufkatze in seine Kiste zu manövrieren. Kontos hielt das Kabel mit der Steuerung und starrte erschrocken herüber. Ein weiterer Mann arbeitete am anderen Ende der Halle, wo die Bahn der Laufkatze endete, am Schloß der großen vertikalen Hubtür. Alle trugen Blue Jeans und einfache billige Hemden, und hatten die Jeans in ihre Militärstiefel gesteckt. Sie waren natürlich dieselben, die am Freitag dagewesen waren und sich ein Bild von den örtlichen Verhältnissen gemacht hatten.
Kontos fluchte. Unteroffizier Petrakos preßte die Lippen zusammen und nahm wie eine Gestalt aus einem Film Verteidigungshaltung an – die Füße rechtwinklig zueinander in einer Art T-Stellung, und die Arme zu einem weiteren T gewinkelt, den linken hoch und horizontal, den rechten darunter und vertikal, mit offenen Händen. John sah, daß diese Hände dick und schwielig waren.
Keiner rührte sich. Der Würfel hing an seinen Ketten, umgeben von der Polsterung, beinahe schon in der Kiste verschwunden. John faßte sich und sagte in die Stille: »Sie hätten es auch mit Diplomatie zurückgewinnen können.«
Kontos sagte: »Von Ihrem System? Es würde uns berauben. Vorwände erfinden. Wie die Engländer mit den Parthenon-Skulpturen.«
»Die Zeiten haben sich geändert.«
»Sie selbst haben es gestohlen – Sie und dieses Weib!«
»Gerettet trifft die Sache besser.«
Unteroffizier Petrakos machte ein leise zischendes Geräusch, als sie den Atem durch die zu einer dünnen, blutleeren Linie zusammengepreßten Lippen stieß.
Claire trat zur Seite, sprachlos. Kontos streifte sie mit einem Blick. »Ich dachte, Amerikaner gingen um diese Zeit zur Kirche. Oder schliefen ihren Rausch aus.«
John öffnete den Mund, etwas zu erwidern, und Unteroffizier Petrakos trat zwei rasche, präzise Schritte vor und versetzte ihm einen geschickten Tritt in die Hoden.
Er hatte noch nie mit einer Frau gekämpft, war seit seiner Schulzeit nicht einmal in etwas Ernstes verwickelt gewesen, und sie überraschte ihn vollständig. Eine Welle jäher Übelkeit schoß aufwärts durch seinen Leib, und der nachfolgende Schmerz, so betäubend er war, stieß ihn in eine blitzartige Bewußtheit seiner Lage. Er hatte ein fast unwiderstehliches Verlangen, sich zu krümmen und den Teil von ihm zu umklammern, der ihn jetzt mit taumelnder, elender Qual und bodenloser Schwäche erfüllte. Er war beim Rugbyspiel dreimal in dieser Weise getroffen worden. Das Schlimmste war die Gemeinsamkeit von stechendem Schmerz und schwächerer Übelkeit, verbunden mit der schrecklichen Furcht, die wie ein Blitz über einen schwarzen Himmel zuckte und einen krümmte, wieder zum kleinen Jungen machte.
Er beugte sich vornüber und wußte, daß Unteroffizier Petrakos ihm noch übler mitspielen würde, wenn er nichts unternahm. Er hatte es in ihren Augen gesehen, dem entschlossenen Mund – Erwartung, Bereitschaft für etwas, was ihr Spaß machen würde.
Er spürte, daß sie ihn schlagen, wahrscheinlich mit Handkantenschlägen bearbeiten würde, wenn er sich aufrichtete. Sein linker Fuß war vorgestellt, um sein Zusammenbrechen abzufangen. Er zog den rechten Fuß nach und blieb gebeugt, den Kopf unten, bis er sein Gleichgewicht und etwas Vorwärtsbewegung hatte. Dann kam er mit einer schnellen Bewegung hoch, sah Petrakos nahe, zu nahe vor sich, wie sie mit zufriedenem Ausdruck auf ihn blickte. Seine linke Hand faßte ihre Schulter, stieß sie seitwärts, und ihr Gesicht nahm einen überraschten Ausdruck an.
Ehe sie reagieren konnte, hatte er die Rechte nachgezogen und versetzte ihr einen betäubenden Kinnhaken, der allerdings sein Ziel ein wenig verfehlte, so daß er abglitt und sie nicht mit voller Wucht traf. Sie hatte die Rechte zu einem Handkantenschlag auf seine Halsseite gehoben, er erkannte die Gefahr im letzten Augenblick, verlagerte sein Gewicht etwas schwerfällig nach links und versuchte wie jemand auszusehen, der das Gleichgewicht verloren hat. Dann kam sein rechter Haken hoch und über ihre Abwehr und landete massiv an ihrer Kinnlade. Sie fiel rücklings auf den Betonboden und schlug mit dem Kopf auf.
John richtete sich auf und fühlte, wie der Schmerz einer Flutwelle gleich über ihn kam. Vergeblich suchte er seine Gedanken davon loszulösen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Unteroffizier Petrakos war betäubt, aber nicht bewußtlos; immerhin würde sie in der nahen Zukunft nicht herumspringen. Er freilich auch nicht. Sie hatte die vernichtendste Eröffnung gebraucht, die es gegen einen Mann gibt, aber dann hatte sie die Wirkung beobachtet, statt gleich reinen Tisch zu machen. Bei vielen Männern hätte es gewirkt, aber nicht bei einem Abwehrspieler, der nur zu oft von zweihundertfünfzigpfündigen Gegnern gerempelt und zu Boden gestoßen worden war, selbst wenn er nur zweitklassig und nicht einmal ein Anfeuerungsgeschrei von den Zuschauern des eigenen Colleges wert gewesen war.
Es war ihm klar, daß es noch eine Menge zu tun gab, aber als es ihm gelang, sich wieder auf das Geschehen zu konzentrieren, kam Kontos mit einer automatischen Pistole in der Rechten durch die Halle. John lehnte sich gegen die Wand, die Arme auf der Brust, atmete tief und versuchte das Nachlassen des Schmerzes durch Willenskraft zu beschleunigen. Claire sagte etwas zu ihm und schrie Kontos an.
Dann sprang sie auf ihn zu, ohne die Pistole zu beachten. Jähe Angst krampfte John das Herz zusammen. Sein Blick ruhte wie gebannt auf der Pistole. Kontos ließ die Mündung sinken, holte mit der anderen Hand aus und gab Claire eine harte Ohrfeige mit der Rückhand. Sie quiekte zornig und überrascht und taumelte zurück. Kontos fluchte und schlug noch einmal zu. Statt zurückzuweichen, sprang sie wieder auf ihn zu und schlug ihm auf die Nase. Ein Mann packte sie von hinten bei den Armen und riß sie zurück. Kontos wandte sich zur Seite, den Kopf vorgebeugt und eine Hand unter der Nase, um die Blutstropfen aufzufangen. Aber mit der anderen brachte er die Pistole in Anschlag, und sein Gesicht war rot.
Er fluchte auf griechisch. Sein Blick war kalt, die Lippen zusammengepreßt. Die Pistole zielte auf Claires Herz.
»Kontos! Wir geben auf!« rief John.
Kontos hielt inne, schien sich zu besinnen. Er wischte sich die Nase, zog eine Grimasse und ließ die Waffe sinken.
Claire zappelte und wand sich in den Händen des Mannes, der ihre Oberarme wie mit Schraubzwingen hielt. »Sie…«
»Claire, laß es sein!« sagte John.
Sie schnauften alle, starrten einander mit blassen Gesichtern an, waren sich dessen bewußt, was um ein Haar geschehen wäre.
John holte tief Atem. Seine Knie zitterten. Nun, in Ordnung, dachte er. Das Spiel war aus, keine Verlängerung. Kleinere Verletzungen, ein wenig aufgerüttelt. Einfach atmen und abwarten.
»Das ist albern«, sagte John mit Bitterkeit. Er und Claire waren in dem kleinen Büroraum, wo der Datenanschluß stand, auf zwei Stühle gefesselt. Kontos hatte Unteroffizier Petrakos damit beauftragt, sie zu binden, und die Frau hatte die Knoten mit offensichtlichem Vergnügen festgezogen.
»Kontos, damit kommen Sie nicht durch!« rief Claire.
Durch die Glaswand konnten sie den Würfel sehen, wie er, in seiner Kiste vernagelt, auf die Ladefläche eines blauen Ford-Kleinlasters herabgesenkt wurde. Es hatte die Griechen weniger als zehn Minuten gekostet, zu entscheiden, wie sie mit Claire und John verfahren sollten, die Kiste versandfertig zu machen, die Stahltür am Ende der Halle zu heben und ihr Fahrzeug rückwärts hereinzusteuern. Sie arbeiteten reibungslos und mit einem Minimum an Worten zusammen. John mußte ihre Tüchtigkeit bewundern; die gesamte Operation würde, die Unterbrechung mit eingerechnet, weniger als eine Stunde erfordern.
Kontos kam ins Büro, überprüfte Unteroffizier ›Petrakos‹ Arbeit und nickte anerkennend. »Ich nehme an, daß man Sie bald entdecken wird«, sagte er. »Aber nicht zu bald. Bis dahin werden wir abgeflogen sein.«
»Sie werden das Ding nie durch den Zoll bringen«, sagte Claire.
Kontos schnupfte. »Bloß Papierkram. Ich habe auch die Aufzeichnungen hier aus dem Laboratorium an mich genommen. Sie werden mich bei Prof. Sprangle dafür entschuldigen. Er trägt keine Schuld an diesen Dingen, aber er muß darunter leiden.«
»Hören Sie«, sagte John, »all dieses Räuber-und-Gendarm-Spielen ist gut und schön, aber es handelt sich nicht mehr um Archäologie, Kontos, es ist wichtiger. Dieses…«
»Unser nationales Erbe zählt zum größten und bedeutendsten, was es auf der Welt gibt. Wir werden für seine Erhaltung kämpfen.«
»Sie reden wie eine Presseveröffentlichung. Ich…«
»Sie sind derjenige, der vor der Presse Erklärungen abgeben wird. Es wird unfreundliche Fragen geben.« Nun, da er gehandelt hatte, gab Kontos sich wieder würdevoll, obwohl ein wiederkehrendes kaum merkliches Lächeln verriet, daß er seine Freude an der Situation hatte.
»Dieser Würfel ist auch aus physikalischen Gründen wichtig«, sagte John. »Sie sollten wissen, daß er gefährlich werden könnte.«
»Nur für Leute, die ihn stehlen«, sagte Kontos mit seinem sparsamen Lächeln.
»Wie Sie?«
»Wir holen zurück, was unser ist. Auf ausdrücklichen Befehl unserer Regierung.«
»Wenn wir mit den Messungen fertig sind…«
»Das war eine offensichtliche Taktik, eine sehr durchsichtige. Sie würden warten und erklären und eine Million Gründe für weitere Verzögerungen finden.«
»Donald Hampton muß Ihnen erklärt haben…«, fing Claire an.
»Daß wir warten müssen, ja. Donald ist ein vertrauenswürdiger Mann. Aber für die amerikanische Regierung gibt es zahlreiche Gründe, ein solch schönes und seltenes Stück zu behalten. Sie beleidigt uns dadurch, daß sie es uns vorenthält, und man kann sich denken, daß sie aus der Rückgabe noch etwas wird herausholen wollen, nicht wahr?« Seine Augen glitzerten. »Aber nicht jetzt.«
»In diesem Würfel«, erklärte John, »ist etwas, was wir nicht verstehen. Ich glaube, es könnte eine… eine neue Art von Partikel sein, potentiell instabil. Es sendet bereits eine Menge Röntgen- und Gammastrahlen aus und hat sich den Weg durch das Gestein gefressen – warten Sie, die Lichtsonde. Haben Sie die herausgezogen?«
»Den flexiblen Schlauch? Ja.«
Claire sagte: »Dann haben Sie es gehört. Das Vakuum.«
»Einer meiner Leute hat den Schlauch entfernt. Ich hörte nichts. Wo Sie eine Probe entnahmen, ist offenbar ein Siegel.«
»Das ist der selbstversiegelnde Verschluß, den Abe um die Lichtsonde gelegt hat«, sagte John. »Er wird das Loch ausfüllen. Aber es gibt eine gefährliche Strahlung…«
Kontos blickte ungeduldig auf die Armbanduhr und nickte Unteroffizier Petrakos zu. »Offensichtlich hat sie Ihnen nicht geschadet. Wir werden dieses Ding in Athen untersuchen. Wenn es für die Physik von Interesse sein sollte, um so besser. Am Freitag bemerkte Hampton mir gegenüber, daß dieser Fund uns berühmt machen könnte. Da ist er in Griechenland jedenfalls besser aufgehoben.« Er ging.
Kontos schloß die Bürotür hinter sich, um ihre Rufe zu dämpfen. Und sie riefen ihm beide nach, als er durch die Halle marschierte und umherblickte, ob er in Verbindung mit dem Würfel etwas übersehen haben könnte. Durch die Glaswand sahen sie den Lieferwagen hinausfahren und die Männer rasch das Stahltor herunterlassen, so daß es mit lautem Krachen am Boden aufschlug. Einen Augenblick später hörten sie rasch schwächer werdendes Motorengeräusch. Dann trat Stille ein.
»Scheiße«, murmelte John.
»Ich kann nicht glauben, daß er dazu imstande…«
»Nun, er hat es getan. Die Frage ist: Was tun wir?«
»Erinnerst du dich an Freitag, wie er so unberechenbar war? Ihr zwei gerietet wieder aneinander, aber die ganze Zeit sahen seine Leute sich um und überlegten, wie sie zurückkommen und einbrechen könnten…«
»Ich wiederhole: Was tun wir?«
»Versuchen, diese Stühle zum Schreibtisch zu rücken? Das Telefon herunterstoßen? Mit der Zunge die Polizeinummer wählen?« Claire schnaubte.
»Wir können nur hoffen, daß Abe frühzeitig kommen wird«, sagte John. Er versuchte die Hände zu bewegen, aber Unteroffizier Petrakos hatte sie ebenso fachmännisch wie rachsüchtig fest mit einer Nylonschnur gebunden.
»Gut möglich«, sagte Claire. »Die Polizei könnte diesen blauen Lieferwagen ausfindig machen.«
»Um so leichter, als ich das Nummernschild gesehen habe«, sagte John. »Es spiegelte sich in der Edelstahlverkleidung des Spektrometers – siehst du es da drüben?«
»Wunderbar! Ihr Flug kann nicht sofort abgehen. Der Versand so schwerer Luftfrachtgüter erfordert eine Menge Papierkram, selbst wenn sie manches vorbereitet haben. Ein Anruf bei Logan…«
»Was macht deine Zunge?«
»Gute Frage. Ich kann nicht mal diesen verdammten Stuhl bewegen.«
John seufzte. Seine Hoden schmerzten ihn noch immer, und auch die Übelkeit war noch nicht ganz gewichen. Er konnte die Füße nicht genug bewegen, um den Stuhl fortzuschieben. Alle Lösungen, die Kinodetektiven aus mißlichen Lagen halfen, schienen hier unbrauchbar. Vielleicht würde ein Wachmann auf seiner Runde in die Halle kommen, aber Sonntags waren die Rundgänge wahrscheinlich reduziert. Kontos hatte unzweifelhaft auch das herausgefunden. Er hatte Möglichkeiten.
»Ein Gutes hat die Sache«, sagte John.
»Was könnte an dieser Geschichte gut sein?«
»Du brauchst nicht mehr nervös zu sein. Kontos wird heute abend nicht zu deinem Vortrag kommen.«