9

 

Claire starrte auf das schmutziggraue Wasser des inneren Hafens hinab. Sie erinnerte sich, daß bei einem Schiffsuntergang immer gemeldet wurde, Suchflugzeuge oder Hubschrauber hielten nach einer Öllache Ausschau. Nun, das war hier kein Problem; die ganze Bucht schien unter einem dünnen, bläulichschillernden Ölfilm zu liegen. Darin schwammen Plastikflaschen von Orangeade, Waschmitteln, Packmaterial, tote Fische, braunes, mit Wasser vollgesogenes Treibholz, rostige Kanister – sogar etwas wie eine bleiche Schlangenhaut, die sie schließlich mit einem angeekelten Schaudern erkannte.

Sie kehrte dem Anblick den Rücken und lehnte sich an die Reling. Sie waren an Bord eines großen, flachbodigen Fahrprahms, auf dessen Deck sich Taucher- und Schleppausrüstungen stapelten. Männer arbeiteten zwischen dem Gerät. Der Hafen war für normale Transporte abgesperrt, und gelegentlich knatterte ein von Presse oder Fernseher gemieteter Hubschrauber über sie hin, nur um durch Leuchtsignale abgewiesen zu werden. Im Umkreis mehrerer Meilen suchten Motorboote, Barkassen und Kutter aller Typen in einem regelmäßigen Muster die graue Wasserfläche ab. Taucher kamen herauf, machten ihre Meldungen und tauchten wieder. Eine träge Dünung hielt den Prahm in langsamer Bewegung. Es war Nachmittag, und ein schneidender landseitiger Wind machte Claires Augen tränen. Sie zog die Daunenjacke, die einer von Carmodys Leuten ihr gegeben hatte, enger um sich. Sie war gerade eben ausreichend.

Sergio Zaninetti kam über das Deck gewankt, obwohl es nicht schlingerte. Er sah elend aus.

»Hoffentlich finden sie es bald«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Sie werden Ihre Seebeine schon noch bekommen«, erwiderte sie.

»Niemals. Ich fliege immer, nie auf dem Seeweg.«

»Sie suchen die ganze Bucht ab, es wird Zeit erfordern.«

»Als Carmody mich anrief, kam ich ohne Überlegung. Nach einer Stunde bin ich erschöpft. Wie geht dieses Sprichwort über die Seekrankheit? Zuerst fürchtet man, zu sterben, dann fürchtet man, nicht zu sterben?«

»Ja. Was passiert, wenn wir es finden?« fragte Claire, den Kopf gegen den scharfen Wind geneigt.

»Carmody glaubt eine Möglichkeit zu wissen. Er sagt, die Taucher schließen die Öffnung mit einer besonderen plastischen Substanz.«

»Und wenn die Singularität aus dem Block entwichen ist?«

Er hob die Schultern. »Dann wird man versuchen, sie in irgendeiner Weise einzufangen.«

»Das Problem scheint Sie nicht sonderlich zu beunruhigen.«

»Doch, doch, es ist nur die Übelkeit.« Er brachte ein dünnes, gequältes Lächeln zuwege. »Diese Dinge sind jenseits meines Faches. Ich kalkuliere die Feldtheorie, die möglichen Bindungszustände, das ist alles.«

Eine Gruppe von Männern machte einen Fischkutter für die Suche klar. Die Winsch senkte ein Grundschleppnetz auf das Heck des Kutters herab. Ein Schiffsdiesel blubberte. »Was ist das für eine Schwierigkeit, die Sie und John haben?«

»Ein Detail, denke ich, aber lästig. Wir bekommen Lösungen, die diese kubische Merkwürdigkeit an sich haben. Sie ergibt sich nur, wenn das Partikel eine Art verborgener Masse besitzt. Die neue Kraft, die wir haben, gleicht die Masse aus. Gut. Das steht in Übereinstimmung mit dem Umstand, daß der Würfel kein hohes Gewicht hatte. Verstehen Sie?«

»Ich glaube schon, auf der Ebene dessen, was John die laienhafte Annäherung nennt. Die Schwerkraft zieht beide Teile an, aber diese neue Kraft, Mode oder was immer genannt, hält sie auseinander.«

»Ja, gut. Das ist das Bild, das man aus einer ungefähren Berechnung gewinnt. Ich bin in einigen dieser mathematischen Kniffe jedoch etwas schneller und bin mit einer besseren Feldtheorie weitergekommen, einer, die nicht soviel Gefuchtel enthält.«

»Gefuchtel?«

»Wenn wir sprechen, statt zu rechnen. Die Italiener sollen besonders gut darin sein, si?« Er gestikulierte dramatisch und grinste trotz seiner Blässe. Claire erkannte, daß er sich bemühte, galant und unterhaltend zu sein; sie lächelte zurück, um ihm zu helfen, seine Übelkeit zu vergessen.

»Ich verstehe.«

»Die Mathematik zeigt, daß Johns ›Verzerrungen‹ paarweise auftreten. Aber sie ziehen einander an und sollten einen Klumpen bilden.« Er schlug die Hände zusammen. »Das ist die Schwierigkeit.«

»Könnte das Ding in dem Würfel nicht der Klumpen sein?«

»Vielleicht, aber ich weiß nicht, von welcher Art die stabilen Eigenschaften sind. Wie kommen die Verzerrungen zusammen? Es ist Energie gespeichert, die also frei werden muß.«

»Sie meinen, die Singularität im Würfel sei allein?«

»Das ist in Johns erster Arbeit gut beschrieben. Diese Lösung, die er gefunden hat, scheint in Ordnung zu sein. Aber warum ist solch ein Partikel frei? Es sollte sein Gegenstück finden.«

»Vielleicht wird es daran gehindert?«

»Ah, Sie haben diese Idee von John. Ja, es mag sein, daß eine andere Art von Kraft die Vereinigung dieser Teile verhindert. Dennoch muß ich sagen, daß ich eine solch komische Kraft nicht finden kann. Etwas stimmt da nicht.«

Claire war beunruhigt. »Dann kann es eine potentielle Bombe sein? Sie sagten Carmody so etwas.«

»Si, das glaube ich. Es ist schwierig zu sehen, wie zwei von diesen Verzerrungen eine stabile Bindung eingehen könnten. Sie müssen Energie abgeben, wenn sie zusammenkommen.«

»Aber eine von ihnen steckte Jahrtausende sicher in diesem Würfel.«

Zaninetti schürzte die Lippen. »Eben das kann ich nicht verstehen. Es gibt hier soviele Ungewißheiten…«

Hinter ihr sagte Johns Stimme: »Wissenschaft ist nicht Gewißheit, Sergio, sondern nur Wahrscheinlichkeit.«

Er war von einem Gespräch mit Carmody in der schmierigen Kajüte des Prahms zurückgekehrt. Er trug eine Seemannsjacke von einem der Besatzungsmitglieder, und sie war ein wenig überrascht, daß er darin ganz natürlich aussah, als habe er sein Leben mit all diesen anderen verbracht. »Er sagt, deine ersten Lösungen seien… äh…«

»Irreführend«, sagte John freundlich. »Ich glaube aber noch immer, daß wir hier einen Zugriff auf die grundlegenden Eigenschaften haben. Schließlich habe ich die Dynamik so konstruiert, daß sie mit den Eigenschaften dieses Artefakts übereinstimmt. Ich habe ihm sein Gesetz gegeben.«

Die Diskussion schien Zaninetti zu beleben; wahrscheinlich war sie eine wirksame Ablenkung von seinem Elend. »Sie können nicht mit der Kraft dazwischen argumentieren! Capisce? Die Kraft ist unabhängig von der Entfernung zwischen beiden Zentren, also können enorme Energien gespeichert werden. Die Vereinigung beider Zentren müßte mit einem gewaltigen Knall erfolgen.«

»Kommen Sie, hier auf dem offenen Deck kann man nicht Mathematik treiben«, sagte Claire mit Entschiedenheit. »Besorgen wir uns Kaffee!«

Dieser Vorschlag ließ Zaninetti erbleichen. Claire bemerkte, daß John wider Willen über die mißliche Lage seines Kollegen lächeln mußte. Sie waren Freunde, aber immer auf der Suche nach einem Vorteil. Eine immerwährende Rivalitätsmaschine.

Der Kaffee, ausgegeben in einer hastig aufgebauten Behelfsküche am Bug, war schwarz und bitter. John tat drei Päckchen Zucker in seinen und umwanderte das Deck. Zaninetti saß auf einem wackligen Stuhl und blickte verlangend nach Westen, wo Boston und das sichere Festland lagen. Nach einer Weile schloß er die Augen.

»Gerade ist ein Taucher mit Trümmern heraufgekommen«, sagte John, als er wiederkam, in der Rechten den Kunststoffbecher mit Kaffee, die Linke in der Tasche seiner Seemannsjacke. »Es sieht komisch aus – angesengt.«

»Unter Wasser verbrannt?«

»Richtig. Als ob es erhitzt worden wäre aber nicht Feuer gefangen hätte.«

»Wo war es?«

»Am Grund verstreut. Altes, vollgesogenes Holz, nicht von Kontos’ Boot.«

»Also bewegt sich der Würfel dort unten umher.«

»Carmody geht davon aus, daß das Artefakt ein Loch durch seine Kiste und dann durch den Rumpf brannte. In kürzester Zeit.«

»Dann könnten die Strömungen…«

»Es ist ausgeschlossen, daß sie einen so schweren Gegenstand bewegen könnten.«

»Dann müßte der Würfel irgendwo in der Nähe des Wracks sein.«

»Gewiß. Nur ist er es nicht.«

»Was bewegt ihn?«

»Keine Ahnung.« Er blickte hinaus zu den suchenden Kuttern, die ihre Schleppnetze zogen.

»Ich frage mich, ob er in der Bucht bleiben wird.«

»Sicherlich. Einstweilen.«

Sie gingen zu einer Gruppe von Männern, die sich mit Schleppnetzen abmühten. Einige gehörten zur Hafenwache; es war Carmody gelungen, innerhalb von Minuten das gesamte Personal zu mobilisieren. Es waren kräftig aussehende Männer, die unverdrossen an der Arbeit waren. Bis auf die Zurufe von Fragen oder Anweisungen verhielten sich die Arbeitstrupps bemerkenswert still und ernst. Claire beschirmte die Augen gegen die schräg einfallenden Sonnenstrahlen und blinzelte zur Kajüte des Prahms. Dort waren einige Männer der anderen Art versammelt, die meisten in dreiteiligen Nadelstreifenanzügen und Mänteln, mit glänzend geputzten Schuhen und ausdruckslosen, wachsamen Gesichtern.

Arditti, noch in seiner Taucherausrüstung, kam auf John zu und sagte: »Östlich von hier haben wir ein bißchen was gefunden.«

»Was?«

»Komische Strömungen, wie Sie sagten.«

Auf Claires verständnislosen Blick sagte John: »Carmody fragte mich nach Kennzeichen oder Merkmalen, nach denen man Ausschau halten sollte, und ich sagte, sie sollten auf Unregelmäßigkeiten im Strömungsverhalten des Wassers achten.«

»Warum hat er mich nicht gefragt?« sagte Claire.

John hob die Schultern. »Es ist eng in der Kajüte. Er…«

»Strömungen? Wieviel Wasser kann durch ein Loch von sechs oder sieben Zentimetern Durchmesser?« fragte sie streng.

»Vielleicht genug.«

»Wäre es nicht besser, nach radioaktiven Spuren zu suchen?«

»Auch das tun wir«, sagte Arditti.

»Und?«

»Auch davon gibt es Spuren, ja.«

»Gut.« Besänftigt ging sie mit ihnen zur Kajüte mitschiffs, wo Carmody zu den Männern in Nadelstreifenanzügen sprach.

»… eine Gruppe von sechs Tauchern ausreichend sein, während wir einen Greifer in Position bringen. Jeder von den Leuten trägt einen Geigerzähler und gibt alle zwei Minuten eine Ablesung durch. Ich möchte keine unnötigen Strahlenrisiken. Vorwärts!«

Die Männer gingen auseinander; einige kehrten zurück zu einem transportablen Sender, der auf der Achterplattform des Prahms installiert worden war. Claire fand ihre Schnelligkeit und Gewißheit entnervend; als ob man ihnen in der Ausbildung jedes Zögern wegtrainiert hätte.

Abe stand bei Carmody, und als er Claire sah, sagte er: »Haben Sie gehört? Man hat Kontos’ Unterschrift bei einem Motorbootverleih unten beim Columbus Park entdeckt. Nur zwei Kilometer südlich vom Strand.«

»Also hat er sich an Land retten können«, sagte Claire.

»Ja, und vier weitere, sagte der Verleiher. Er war fuchsteufelswild, weil sie ihm das Boot nicht zurückgebracht haben.«

Claire blickte zum Ufer hin. Polizei hatte die Kais abgesperrt, und sie sah Streifenwagen mit ihren kreisenden Lichtern alle Zufahrten blockieren.

Carmody sah hier draußen im Sonnenschein älter aus, das pockennarbige Gesicht wie Pergament, und Claire erinnerte sich an ein bekanntes Zitat: Ab fünfzig ist jeder für sein Gesicht selbst verantwortlich. Unvermittelt fragte sie: »Wen repräsentieren Sie, Mr. Carmody?«

Er blickte säuerlich zurück zu ihr und John und Abe, die in einer Gruppe beisammenstanden. Er steckte die Hände tief in die Manteltaschen, saugte eine Weile an den Zähnen und sagte dann unwirsch: »Nationale Sicherheitsagentur.«

»Sie kümmern sich um Notfälle?«

»Schlimme, ja.«

»Wem machen Sie Meldung?« fragte John.

»Dem Nationalen Sicherheitsberater.«

»Und er?«

»Dem Präsidenten.«

»Ich wunderte mich schon, warum alle hier so herumspringen«, sagte Claire.

»Nicht bloß hier«, versetzte Carmody ein wenig herablassend. »Ich habe mit Thorne vom Caltech und Sherman von Berkeley telefoniert. Sie stimmten Ihren Ergebnissen zu, jedenfalls im Prinzip, sagten sie.«

»Wie haben sie es so schnell herausgefunden?« fragte John.

»Ich ließ von Zaninetti eine Zusammenfassung schreiben. Die haben wir gestern abend ausgesendet.«

»Um uns zu überprüfen.«

»Selbstverständlich. Unglücklicherweise sind die Leute, die wir fragen wollten, nicht alle amerikanische Staatsbürger. Ich durfte ihnen nicht alles sagen. Also mußten wir uns hauptsächlich nach Ihren Schätzungen richten.«

Ein Hubschrauber knatterte über den Prahm hinweg, wie um ein Beispiel zu geben, welche Kräfte Carmody aufbieten konnte. »Thorne sagte etwas über die Energievoraussetzungen dieser Singularität«, fuhr Carmody fort. »Er sah keinen Zusammenhang mit kosmischen Strahlen, wie Sie andeuteten, Dr. Bishop.«

»Nun, die benötigte Energiemenge ist gewaltig, das ist richtig. Deshalb sind sie gefährlich – wenn die Kräfte einen natürlichen Ausgleich suchen, kann es fatale Folgen haben. Sie werden sicherlich nicht häufig entstehen.«

»Wie viele wird es geben?«

John zuckte die Achseln. »Dies ist die erste Singularität, die jemals entdeckt worden ist. Es kann nicht viele geben, oder wir wären früher schon auf eine gestoßen. Aber wenn wir annehmen, daß die Erde von einem energiereichen Partikel getroffen wird, so könnte es sehr tief eindringen; möglicherweise gibt es tief im Erdinneren mehr davon. Sie würden nicht notwendigerweise zur Oberfläche wandern.«

Carmody verzog den Mund zu einer halb skeptischen, halb besorgten Grimasse. »Sie meinen, diese könnte aus der Tiefe emporgedrungen sein?«

»Also, das würde ich für abwegig halten«, warf Claire ein. »Vergessen wir nicht, daß es im Innern eines alten Artefakts war. Die mykenischen Griechen bearbeiteten den Kalksteinblock, in dem die Singularität steckte.«

»Aber vorher?«

»Irgendwo müssen die Griechen sie gefunden haben«, meinte John. »Vielleicht in einem Steinbruch. Claire meint, der Umstand, daß es ein würfelförmiger Block sei, könne kein Zufall sein. Das optische Erscheinungsbild ist kubisch. Vielleicht bohrten die alten Griechen hinein, sahen etwas Helles, Strahlendes darin und bearbeiteten das Artefakt als eine Art Behälter.«

Claire sah ihre Chance. »Darum ist die möglichst unversehrte Erhaltung des Steinartefakts notwendig. Wir müssen seine Geschichte verstehen. Man kann das nicht vom physikalischen Aspekt abkoppeln.«

Zu ihrer Überraschung schien Carmody den Gesichtspunkt zu akzeptieren. »Dr. Sprangle hier meint, die Singularität könne noch immer im Inneren des Gesteinsblocks sein.«

»Ja, das meine ich«, bekräftigte Abe. »Vergessen wir nicht, daß diese Singularität sich langsam herausfraß. Kontos kann sie durch unvorsichtigen Umgang mit dem Block angestoßen und das prekäre Gleichgewicht gestört haben.«

»Wobei Ihre Versiegelung durchbrannte?« sagte John.

»Das ist eine Vermutung«, sagte Abe.

Carmody blickte mißmutig über das Wasser hinaus.

»Rote Boje!« rief jemand.

Einen knappen Kilometer entfernt tanzte ein roter Ball auf dem Wasser. »Sie haben das Ding«, sagte Carmody.

»Ziemlich weit östlich«, bemerkte John. »Es muß sich wenigstens drei Kilometer vom Wrack entfernt haben.«

Carmody eilte davon. Arditti stand bei der Sendeanlage und lauschte über Kopfhörer den Gesprächen der Taucher. Als er fertig war, ging Claire hinüber und sagte: »Ist es, was wir suchen?«

»Ja, es ist die Kiste.«

»Sie können es sehen?«

»Einer unserer Leute kam nahe heran. Sagt, es strahle einen starken blauen Lichtschein aus.«

»Der Würfel?« fragte Claire.

»Das wird wahrscheinlich gedrosselte Strahlung sein«, sagte Abe.

»Von Gammastrahlen?« fragte John.

»Sie werden im Wasser ziemlich rasch aufgehalten.«

»Dann ist der Würfel noch in der Kiste?« fragte Claire.

Arditti nickte. »Offenbar ist die Verpackung ziemlich stabil. Das Ding schleppt die Kiste mit sich.«

»Wie eine Schnecke ihr Haus«, sagte Claire.

»So ungefähr.« Arditti war ein nüchterner, unumwundener Mann, dem diese Jagd offensichtlich gefiel. Seine Leute behandelten ihn mit Respekt. »Sie fanden das Ding, indem sie einer Furche am Grund folgten. Eine gerade Linie, sagten sie.«

John merkte auf. »In welche Richtung?«

»Das sagten sie nicht. Aber ich muß gehen.« Arditti ließ sie stehen. Claire spürte die gesteigerte Geschäftigkeit ringsum. Sie war die einzige Frau an Bord, und die prickelnde Erregung auf Deck hatte etwas spezifisch Maskulines an sich.

Carmody schien die allgemeine Erleichterung nicht zu teilen. »Wird es in die Luft fliegen?«

John schüttelte den Kopf. »Nein, ich sehe keinen Grund. Aber was die Taucher wahrgenommen haben, ist harte Strahlung, die Geigerzähler werden es ihnen gezeigt haben. Hoffentlich sind sie vorsichtig.« Er begann zu erklären, daß das einströmende Wasser die Singularität wahrscheinlich daran hinderte, durch das enge Loch, das sie geöffnet hatte, zu entweichen. Es gab der Singularität auch eine kräftige neue Treibstoffinjektion für seinen zentralen »Motor« – was möglicherweise drastische Folgen haben konnte. Claire hoffte, er habe recht mit seiner Annahme, daß sie im Würfel bleiben werde.

Der Prahm drehte sich langsam vor den Wind und hielt auf die Stelle zu, wo nun drei rote Plastikbojen trieben. Motorboote umringten die Stelle, schaukelnd in den kurzen Wellen, die der stürmisch auffrischende Wind vor sich hertrieb. Taucher sprangen aus den Booten und formierten sich zu Gruppen. Von allen Seiten kamen die Suchfahrzeuge zusammen, und aus der Sendeanlage auf der Heckplattform drang ein quäkendes Durcheinander von Funksprechverkehr. Eine Tauchergruppe manövrierte Transportbehälter mit Materialien zur bezeichneten Stelle, löste die Auftriebskörper und versank mit ihren Lasten in der Tiefe.

»Das sind die Flicken, mit denen sie das Loch verschließen wollen«, sagte John.

Zaninetti, durch die Zuspitzung der Ereignisse aus der Teilnahmslosigkeit seiner Seekrankheit gerissen, lehnte matt bei ihnen an der Reling. »Die Taucher sollten sich nicht länger als unbedingt erforderlich in der Nähe aufhalten«, sagte er zu Carmody. »Selbst Wasser kann auf zu kurze Distanz die Partikelstrahlung nicht bremsen.«

Minuten vergingen. Claire atmete die salzig schmeckende Luft und lauschte dem Gequäke des Funksprechverkehrs. Die Meldungen der Taucher waren unverständlich wie die Antworten, aber sie spürte die wachsende Spannung. Die Taucher konnten sich unten im kaffeefarbenen Hafenwasser nur durch Zurufe verständigen. Der Prahm drehte sich, bis der Bug von der Fundstelle abgewandt war, und alles strömte zum Achterdeck und spähte über Bord, versuchte zu verstehen, was die Taucher taten. Von Zeit zu Zeit kam einer an die Oberfläche und tauchte wieder hinab, aber Claire schien alles ziemlich chaotisch.

Plötzlich rief der Mann an der Sendeanlage: »Es hält! Sie haben es!« und überall wurden Hochrufe laut. Es herrschte ein Eifer, der sie an die Rugbyspiele von Collegemannschaften gemahnte, wo sie sich trotz ihrer festen Überzeugung, daß solche Spiele im Grunde sinnlos waren, zu Beifall hatte hinreißen lassen.

»Alles nach vorn zum Bug!« dröhnte Carmodys Stimme aus dem Bordlautsprecher.

Sie folgten der Aufforderung, und als Claire bei der Kajüte wartete, sah sie den Grund. Das dicke Stahlkabel lief bereits über die Trommel und senkte die Greifer am Heck des Prahms ins Wasser. Taucher gingen mit hinunter. Aus der Sendeanlage erklang wieder unverständliches Gebabbel, das sich zu heiseren Ausrufen steigerte.

Der Dieselmotor unter Deck begann zu rattern. »Ist festgemacht!« rief eine Stimme. »Sie haben ihn am Haken!« Wieder klang Beifall auf.

Das Kabel straffte sich, spritzte Wasser in die Luft. Der Dieselmotor dröhnte angestrengt, die Winsch drehte sich und wickelte das Kabel auf. An Deck wurde es still; alles starrte wie gebannt nach achtern.

Carmody gab den Motorbooten und Kuttern Befehl, sich aus dem Umkreis zu entfernen. Die Boote nahmen Fahrt auf. Die Taucher, die sie aufgenommen hatten, standen schweigend und blickten zurück.

Arditti kam zu Carmody und machte Meldung: »Wir haben einen Mann mit einer Überdosis.«

»Schlimm?«

Arditti nickte. »Kam zu nahe. Fühlt sich unwohl.«

»Da ist nicht viel zu machen, aber er muß sofort ins Krankenhaus.«

Es dauerte Minuten, bis das Bergungsgut die ölige Oberfläche durchbrach. Kabelschlingen und Haken hielten den Klotz auf allen Seiten, und Claire konnte sehen, daß die Kiste teilweise noch vorhanden war. Eine Seite war vollständig bedeckt mit dem weißlichen Material des Flickens, der auf die anderen Seiten überlappte. Die Kiste war aufgebrochen, hielt aber noch zusammen und schützte offenbar den größten Teil des Artefakts. Es war zu hoffen, daß ein großer Teil des Würfels erhalten geblieben war.

Nun kam die Last von der Wasseroberfläche frei. Die Männer an Deck standen schweigend. Der Würfel sah ziemlich ungefährlich aus, wie er triefend in der Luft baumelte, ein wenig eindrucksvolles Etwas aus schlammigem, durchnäßtem Holz.

Dann sagte John etwas, wiederholte es mit erhobener Stimme, und Claire fragte sich, was so dramatisch sein könne. Die Kiste hing sicher am Kabel – aber nein, sie hing nicht gerade herab. Sie beschrieb einen Winkel gegen die Vertikale.

»O Dio!« rief Sergio Zaninetti. »Ich sagte es Ihnen! Bloß haben wir nicht berechnet…«

»Die Separation!« fiel John ein. »Die beiden Komponenten müssen nicht beisammen sein. Es ist ein gebundener Zustand zwischen ihnen, aber was ist die bindende Länge?«

»Wovon redest du?« fragte Claire.

»Siehst du das? Es hängt nicht gerade herunter, weil etwas anderes eine Kraft darauf ausübt.«

»Und es seitwärts zieht, meinst du?«

John strahlte. »Ja! Die Mathematik ist richtig. Es müssen zwei Komponenten sein, die aneinander gebunden sind. Nur nicht so nahe, das ist alles.«

»Und?«

»Es muß eine zweite Singularität geben.«

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