24
» You took your life as lovers often do but I could have told you, Vincent, this world was neuer meant for one as beautiful as you.«
Vier hohe schlanke Kerzen erleuchteten Elaines Wohnzimmer, eine in jeder Ecke. Elaine kam herein und kniete hinter Eric nieder, der bei ihrer Stereoanlage kauerte. Sie umarmte ihn von hinten und schmiegte ihr Gesicht an seine Schulter. »Es ist schön, nicht wahr«, flüsterte sie. »Wenn es nur nicht so traurig wäre.« Die leise Klage für Vincent van Gogh klang aus. »Such doch etwas anderes aus«, bat sie. »Traurige Musik ist nicht die richtige Untermalung für einen stimmungsvollen Abend, und wir haben doch immer so wenig Zeit füreinander. Warum spielst du nicht Henry?«
Sie sah, daß er etwas aus seiner Tasche nestelte, aber bevor sie erkennen konnte, was es war, sagte er: »Mach einen Moment die Augen zu, ja?« Lächelnd gehorchte sie.
Sie kannte das Lied nicht, das gleich darauf erklang, aber die Geschichte berührte sie, und ein unerklärliches Beben breitete sich in ihren Muskeln aus, als sie den Refrain hörte: »Some of God's Greatest Gifts ... Are Unanswered Prayers.« Fragend blickte sie ihn an.
»Ich bin nicht sehr begabt dafür, jemanden auf die Folter zu spannen«, sagte er und strich über ihre Wange. »Schon gar nicht jemanden, den ich liebe.«
Leise, stockend, berichtete er von dem Gespräch
mit Mr. Sims und der Entscheidung, die er getroffen hatte.
Fassungslos starrte sie ihn an. »Aber es war das Wichtigste in
deinem Leben«, hauchte sie. »Was hat dich dazu gebracht, deine
Meinung zu ändern?!«
»Was hat dich dazu gebracht, deine zu ändern?«
Sie führte seine Hand an ihre Lippen. Tränen glitzerten in
ihren Augen. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich will nicht, daß du ein so großes Opfer für mich bringst. Es ... irgendwann würdest du es bedauern und mir dann vielleicht die Schuld geben. Selbst wenn du niemals auch nur ein Wort sagen würdest ... ich würde es wissen und mir Vorwürfe machen, und ich würde leiden, weil ich wüßte, daß du leidest, und weißt du, ich –«
Er mußte schlucken, bevor er sagen konnte: »Komm, kleine Fee.« Er ließ sich der Länge nach zu Boden gleiten und zog sie mit sich. »Ich will versuchen, es zu erklären. Ich meine, ganz verstehe ich es selbst nicht. Das macht es nicht einfacher. – Es ist ... plötzlich ist es weg. Ich wollte dieses Gestüt, so lange ich denken kann; – so sehr, daß es zuweilen richtig weh tat.«
Verlegen streifte seine Hand kurz über seine linke Brustseite. »Ich habe die ganze Zeit gegrübelt, seit ich von Sims weggefahren bin. Ich glaube, dieser Wunsch nach einem Gestüt war wie Mutter und Vater für mich, tröstete mich über alles hinweg ... wann immer etwas schiefgegangen war, flüchtete ich zu ihm, wie ein Kind in die Arme der Mutter. Und als du gesagt hast, wie sehr du dich deiner Heimat verbunden fühlst... und ich konnte fühlen, daß sie dir so viel bedeutet wie mir mein Traum – als ich glauben mußte, daß es keinen Sinn hat mit uns beiden, da verbiß ich mich noch mehr. Wenn ich schon nicht mit der Frau Zusammensein konnte, in die ich mich verliebt habe, dann wollte ich diesen Traum verwirklichen, und zwar so schnell wie möglich. Nicht einmal meine Gefühle für David und Claire hätten mich daran hindern können.«
Schweigend und nachdenklich hatte sie ihm zugehört, den Kopf an seine Schulter geschmiegt. Jetzt richtete sie sich ein wenig auf. »Die beiden lieben dich wirklich sehr, weißt du. Vielleicht mehr als ihren eigenen Sohn.«
»Und ich ... liebe sie auch. Immer habe ich mir
Eltern wie sie gewünscht. Aber –«
Er runzelte die Stirn, zögerte. Es war nicht leicht, die richtigen
Worte zu finden. Elaine half ihm. »Kinder verlassen nun mal das
Elternhaus.«
»Ja«, sagte er, erleichtert, »so wird's wohl sein.«
»Aber du warst noch nicht fertig. Ich hab dich aus dem Konzept
gebracht.«
»Nein, kleine Fee.« Er zog sie wieder dichter an sich und spielte
mit ihrem Haar.
»Und dann, an diesem Tag auf dem Weihnachtsmarkt, als ich endlich
begriff, daß es dir ernst ist –« Eine Ewigkeit schien seither
vergangen; dabei waren es nur einige wenige Tage, aber seine ganze
Welt hatte sich seit diesem Tag völlig verändert, »als ich das
begriff, Elaine, Fayre Elaine... du warst so bezaubernd... und ...
ich werde nie vergessen, wie du mich angesehen hast –«, die
Erinnerung überwältigte ihn für einen Augenblick, »weißt du, ich
habe nie Zugang zu Menschen finden können, wie es bei den Tieren
möglich ist – «
»Weil du Angst vor ihnen hast – hattest?« ergänzte sie
hoffnungsvoll.
»Ich weiß nicht«, sagte er wahrheitsgemäß. »Ich will dich nicht
anlügen; ich weiß es einfach nicht.«
»Aber vor mir doch nicht?!«
»O nein! Das wollte ich eben sagen – als ich das begriffen hatte,
schien eine Mauer einzustürzen, die bislang zwischen den Menschen
und mir gestanden hatte.« Seine Arme schlossen sich fester um
sie.
»Dieses Lied, das du mitgebracht hast«, sagte sie schließlich
leise,»Unanswered prayers ... es hat
mit deiner Entscheidung zu tun, nicht?« Langsam, zaghaft noch,
gewöhnte sie sich an die Vorstellung, daß er nicht gehen würde, daß
sie nicht gehen mußte, um ihn nicht zu verlieren.
»Manchmal«, sagte er versonnen, »beten Menschen um das Falsche. Als
Kind betete ich um dieses Gestüt, und später setzte ich alles
daran, um es zu bekommen. Wirklich alles. Und mit einem Schlag
erkannte ich, daß ich bereits viel mehr habe, als mir das Gestüt
geben könnte. Mein Leben ist so reich –« Er neigte sich über sie
und streichelte ihr Gesicht. »Ich habe jetzt eine wundervolle
kleine Fee in meinem Leben
–« Für lange Sekunden verlor sich sein Blick in ihrem, dann fuhr er
ein wenig mühsam fort, »... und ich habe ... ja, denk nur«, sagte
er, und es klang ganz erstaunt, »Elaine, ich habe Eltern.
Sechsundzwanzig ist vielleicht ein etwas ungewöhnliches Alter, um
sich Eltern zuzulegen, aber ich bin dankbar, daß es sie gibt. Ich
habe mich noch nie so ... gefühlt.«
»Geborgen?«
»Ja ... geborgen gefühlt.« Er küßte ihre Nasenspitze. »Du findest
immer die richtigen Worte, kleine Fee.«
»Du sagst niemals >meine<, so wie andere Männer.«
Er sah erstaunt aus. »Wie könnte ich? Du gehörst mir nicht. Kein
Geschöpf kann einem anderen gehören. Das ist wider die Natur. Ich
sage vielleicht manchmal, >meine Pferde< oder >mein
Hund<, aber eigentlich nur, um die Sache nicht zu
verkomplizieren, und dann auch nur, wenn ich genau weiß, daß die
Geschöpfe bei mir bleiben wollen. Aber was ich eigentlich sagen
wollte, weißt du, was das Lied anbetrifft – ich habe außer
Menschen, die ich liebe und die mich lieben, einen wunderbaren
Beruf, und ich bin in einem Land, wie ich es mir schöner nicht
vorstellen könnte – worum mehr könnte ich Gott bitten? Unerhörte
Gebete können manchmal wirklich die größten Gaben sein.«
Sie hatte nicht zu hoffen gewagt, jemals Worte wie diese von ihm zu
hören.
»Du meinst das ganz ernst?« Ihre Stimme war vorsichtig. Er durfte
nicht hören, wie wichtig ihr die Antwort war.
»Ich habe jetzt mehr, als ich je hätte, wenn ich einsam auf meinem
Gestüt sitzen würde«, wiederholte er.
»Aber du wärst ja nicht allein«, wandte sie gegen ihr heftiges
Wünschen ein. »Ich wäre ja auch da.«
»Aber ich will ja gar kein Gestüt mehr.« Es war ihm wirklich ernst.
Sie konnte es nun in seinen Augen sehen. Sie war sich dessen
sicher, weil sie seiner Liebe sicher war.
Eric lehnte sich gegen die behaglich feste Stütze der Couch und hielt Elaine in seinen Armen. Wolf streckte sich zufrieden zu ihren Füßen. Manchmal hob er den Kopf, blickte zu ihnen hin, wedelte und streckte sich wieder aus. Sein Schäferinstinkt war ruhig. Wenn diese beiden zusammen waren, war er immer ruhig. Aber es war gut, nach dem Erwachen aus einem mehr oder weniger abenteuerlichen Traum sicher zu gehen.
Elaine lehnte ihren schmalen Rücken an Erics
Brust und nippte an ihrem Weißwein.
Abende wie dieser waren kostbar. Abende, an denen sie Zeit
miteinander verbringen konnten: Oft wurde sie sehr lange im
Krankenhaus festgehalten, oder er mußte die halbe Nacht in Kälte,
Schmutz und Blut zubringen.
Sie hatten es sich angewöhnt, einander anzurufen, wenn sie
aufbrachen. Eric hatte jetzt zwei Heime: und wenn es sich irgend
einrichten ließ, verbrachten sie die Nacht gemeinsam in Elaines
Wohnung. Abende wie der heutige waren selten und würden es auch
bleiben. Abende ohne das Klingeln des Telefons, ohne das
aufdringliche Quiecken des Piepers.
»Weißt du«, sagte sie, »ich habe heute kurz mit Claire telefoniert.
Ich wollte wissen, wie es ihr geht.«
»Ich weiß schon«, sagte er leise. »Davy.«
»Glaubst du das? Daß er über die Feiertage nicht kommen kann, weil
er sich um seine Freundin sorgt, die im Krankenhaus
liegt?«
»Vielleicht hat er eine Freundin. Aber daß sie im Krankenhaus
liegt, glaub ich nicht.«
»Es wird wohl kein schönes Fest für die beiden werden, wenn ihr
Sohn sich unter einem fadenscheinigen Vorwand davor drückt, es mit
ihnen zu feiern.«
»Zumindest wird es ihren unterschwelligen Groll nicht mindern. –
Ich verstehe diesen Burschen nicht. Wer so wunderbare Eltern hat,
sollte jede Gelegenheit nutzen, um mit ihnen –«
Ein zarter Finger verschloß ihm die Lippen. »Du solltest ihn nicht
zu hart beurteilen, Eric. Er ist nicht anders als viele, die hier
aufwachsen. Du kennst das Land jetzt. Es ist einsam. Es bietet
einem lebenshungrigen, auf Vergnügungen bedachten jungen Menschen
nicht das, was er will. Das weißt du.«
»Aber ich verstehe nicht, daß es ihm nicht gefällt. Ihm, und den
anderen. Ich meine, Diskotheken und so sind doch wirklich
scheußlich –«
»Schließen Sie nicht von sich auf andere, Dr. Gustavson.«
»Nun ... hm ... ja, richtig. Aber davon abgesehen .. wie kann er
Claire und David das antun? Er muß doch wissen, wie sehr es sie
verletzt.«
»Vielleicht verletzt es ihn noch mehr, zurückzukommen und sich
wieder in die Tage seiner Kindheit zurückversetzt zu fühlen. Davy
und die anderen, die gegangen sind, wollen eben einfach mehr, als
es hier gibt. Und wenn sie es haben, wollen sie es nicht mehr
aufgeben, nicht einmal für ein paar Tage. Ich glaube, es ist nicht
so sehr die Zeit, die sie hier verbringen würden. Es sind vor allem
die Erinnerungen.«
»Ich glaube, ich weiß, was du meinst. – Aber ich verstehe es
nicht«, wiederholte er.
»Das mußt du nicht. Aber weißt du, ich dachte, es wäre nett, wenn
wir vier Weihnachten hier verbringen würden. – Oh, entschuldige,
Wolf. – Wir fünf, sollte ich sagen.« Sie beugte sich über den
plötzlich erhobenen Kopf des Hundes. »Ich habe dich natürlich nicht
vergessen, Lieber. Das darfst du nicht denken.«
»Hier bei dir?« fragte Eric erfreut. Ihre Hände trafen sich in
Wolfs Pelz.
»Hier bei uns«, korrigierte sie sanft. Nie zuvor hatte sie einem
Mann den Schlüssel zu ihrer Wohnung gegeben: Dies war ihre Burg.
Niemand konnte hinein, wenn sie es nicht wünschte. Nicht einmal
Alan besaß einen Schlüssel.
»Mein Truthahn ist vorzüglich«, sagte sie lockend. »Claire wird er
gefallen, und wenn er ihr gefällt, werdet ihr, du und David, ihn
auch mögen. Und dazu geschmorte Pilze und ...«
»Hör lieber auf. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.
– Das wird ein schönes Fest.«
Doch Erinnerungen verdüsterten plötzlich seine Augen: Weihnachten
war immer so kalt gewesen. Die Ruhe auf den Straßen. Die
vorbeihuschende, so ganz und gar nicht alltägliche Freundlichkeit
der Menschen – die nichts mit ihm zu tun hatte. Er stand
ausgeschlossen, er hatte keinen ihm nahstehenden Menschen, zu dem
er eilen konnte.
Es gab die Pferde. Sie wußten nichts von dem Fest, aber er gab
ihnen eine zusätzliche Futterration und redete mit ihnen. Es war
gut, die sich ihm zuwendenden Köpfe zu sehen, die intelligenten
Augen in den schönen Gesichtern, die aufmerksamen Ohren, die feinen
Nüstern, die in ihr Futter schnoberten. Er hatte die Erinnerung an
diese Wärme und Zufriedenheit sorgfältig in seiner Seele verwahrt
und mit nach Hause genommen, damit sie ihn wie eine zusätzliche
Decke einhüllte. Manchmal hatte er es sogar vorgezogen, im Stall zu
schlafen; wenn die Erinnerungen an die zankhaften Weihnachtsfeiern
im Waisenhaus zu lebhaft waren.
Er erinnerte sich auch an brennende Tränen, die er als Vierjähriger
tief in der Nacht in seinem Bett vergossen hatte: niemand wollte
ihn haben. Gerade zur Weihnachtszeit gab es viele Adoptionen: Babys
um ihn herum wurden adoptiert, und die Erwachsenen, die das kleine
Bündel in Empfang nahmen, sahen so unbeschreiblich glücklich aus.
Ältere Kinder als er wurden adoptiert. Er wurde von vielen
kritischen Augenpaaren gemustert, aber niemals zeigte jemand
Interesse. Das Waisenhaus blieb sein Heim. – »Du bist anders als
andere Kinder«, wurde ihm gesagt. »Du hast etwas an dir, das in
Menschen Ablehnung hervorruft.«
Wie ein Feuermal waren diese Worte gewesen. Tiere lehnten ihn nicht
ab. Und er hatte diese Vorliebe für Pferde. Es bedurfte nur eines
einzigen Fotos eines Pferdes, und bis tief in die Nacht zeichnete
er Pferdeköpfe mit langen Mähnen, schlanke Pferdebeine in
graziöser, kraftvoll voranschnellender Bewegung. Er folgte Kutsch-
oder Reitpferden, denen er in der Stadt oder in der ländlichen
Umgebung begegnete, über viele Meilen zu ihrem Heim. In ihrer Nähe,
wenn sie versorgt worden waren, gab es Ruhe, Geborgenheit,
Zuneigung; ganz, wonach er sich sehnte. – So hatte er begonnen, sie
verstehen zu lernen. Er hatte begriffen, was für sie wichtig
war.
Und dann war da Ted gewesen: der erste Mensch, der ihm das Gefühl
gab, etwas wert zu sein: »Kleiner, du bist was Besonderes. Viele
Kinder wollen Pferde tätscheln und reiten lernen, aber wenn sie
erst mal herausfinden, welch harte Arbeit es ist, reiten zu lernen
– ein Pferd zu führen, statt es zu zwingen! – geben sie auf. Oder
sie werden zu harten Reitern, und dann gibt's keine Verbindung mehr
zwischen Pferd und Reiter – gib mir mal deine Hände!«
Der alte Mann hatte seine kleinen Bubenhände ergriffen und war mit
erstaunlich zarten Fingerkuppen über deren dünne Innenflächen
gefahren. »Du hast gute Hände, Junge. Feine, aber starke Sehnen,
und dünne Haut. So was nennt man sensible Hände. Versuche nie, die
Kraft dieser Hände – und sie werden einmal sehr stark sein – gegen
ein Pferd einzusetzen. Am Anfang magst du siegen, doch Pferde
lernen sehr schnell, und bevor du dich versiehst, wird das Pferd
einen Trick aufgetan haben, um sich deiner Kraft zu entziehen. Sie
sind viel stärker als Menschen. Wenn du sie grob behandelst, geht
der Schuß mit Sicherheit nach hinten los.«
»Ich weiß.«
»Ja, du weißt. Ein seltsames kleines Kerlchen bist du. – Nutze die
Empfindsamkeit in deinen Händen. Laß diese Haut«, erneut rieb er
kurz über die dünnen Innenflächen der Kinderhände, »laß sie niemals
rauh und hart werden. Trag Handschuhe, wann immer es sich
einrichten läßt. Keine Wolle, hörst du? Niemals Wolle. Leder.
Einfaches, dünnes Leder. Nach zwei Minuten hast du schon wieder den
Kontakt mit dem Pferdemaul, als würdest du mit bloßen Händen
reiten
– und es schützt. Es gibt nichts Besseres als Leder. Es war einmal
lebendig. In Leder ist immer noch ein bißchen Seele drin. Und du
brauchst jedes Quentchen Seele, das du bekommen kannst, wenn du es
mit einem wirklich schwierigen Pferd zu tun hast.«
Sanftmut, unendliche Geduld und Sensibilität für die Tiere waren
die Werkzeuge, die Ted in ihm verfeinert hatte bis zur
Vollendung.
»Eric!« Elaine sprach ihn zum dritten Mal an und fühlte sich
bereits besorgt angesichts dieser starren Augen und des bleichen
Gesichts.
»Eric!« Sie packte seinen Arm und schüttelte ihn.
»Ja?« Er blinzelte und war wieder bei ihr. »Du, du hast gesagt, daß
wir alle Weihnachten feiern sollten, nicht?«
»Ja.« Sie umarmte ihn, um mit ihrer Körperwärme wieder Farbe in
sein entsetzlich blasses Gesicht zu bringen. »Das wäre schön«,
murmelte er. Ein Weihnachtsfest im Kreis der Lieben – so ähnlich
hieß es doch? Und zum ersten Mal in seinem Leben begann er zaghaft,
sich darauf zu freuen.
»Weißt du, wann ich mir klar darüber wurde, daß ich dich liebe?« Er stellte sein Glas nieder, ergriff ihre Rechte und liebkoste die Hand mit den Lippen.
»Und habe ich dir schon gesagt, daß du mir so noch besser gefällst als früher?« Sie zupfte an der dunklen Haarwelle, die ihm zwischen die Brauen fiel.
»Tatsächlich? Und ich wollte das Ding
abschneiden. Ich hab's nur immer wieder vergessen.«
»Tu das nicht«, bat sie. »Hugh wäre auch ein guter Friseurmeister
geworden. Aber als Krankenpfleger ist er mir lieber. Er ist
wirklich unentbehrlich für unser Haus.«
»Aber du wolltest doch nicht über Hugh sprechen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich«, begann sie zögernd,
»eigentlich hätte ich an diesem Abend ... in dieser Nacht längst
Feierabend haben sollen. Aber ich konnte nicht gehen, ich mußte
einfach wissen, wie es mit ihm weitergehen würde. Es war im Herbst,
ein junger Mann, der schwer von einer Heumaschine verletzt worden
war. Nach der Operation war er natürlich noch lange bewußtlos, und
ich hätte eigentlich schlafen sollen. Ich war so erschöpft, daß man
mich in irgendeine Ecke hätte stellen können, und ich wäre
eingeschlafen. Ich hätte daheim sein sollen. Aber in dieser Nacht
war es anders. Ich kauerte auf meinem Stuhl im Dienstzimmer und
hoffte, daß er überleben würde. Ich sagte mir, daß ich mein Bestes
getan hatte und daß ich schlafen müsse, aber es ging nicht. – Er
erinnerte mich so an ... dich – «
»Ja?«
»Er sieht ganz anders aus als du, er hat blondes Haar und helle
Augen ... aber er ist groß und jung und kräftig ... alte Patienten
machen mich schwach, aber junge Menschen schwer verletzt vor mir zu
sehen ist einfach furchtbar. Ich habe mir schreckliche Sorgen um
ihn gemacht, aber ich wußte, daß ich ihm nichts nützen könnte, wenn
es Komplikationen geben und ich übernächtigt an sein Bett treten
würde. Ich wollte so unbedingt schlafen, aber es ging nicht. Mir
war so sehr kalt, und elend ... bis ich mich erinnerte ...« Ihre
Stimme erstarb. Sanft sagte er: »Erinnerte.«
»Ja. Oh – ja! Ja – an den Tag, unseren Tag auf den marchairs. Und
ich stellte mir vor, daß du wieder die Arme um mich legst und deine
Wärme um mich ist. In Gedanken war ich bei dir, und es war so wie
jetzt ...« Sekundenlang schwieg sie und kostete dieses
unvergleichliche Gefühl tiefer, vertraulicher Geborgenheit mit
geschlossenen Augen aus, »und ich fühlte mich leichter, viel
leichter. Ich fühlte deine Arme. Und dann ... konnte ich
schlafen.«
Er schloß sie fester in seine Umarmung, und sie lehnte den
Hinterkopf an seine Schulter.
»Wie ging's weiter mit ihm?« fragte er leise.
»Nachdem ich ein wenig geschlafen hatte, war ich wieder ganz ruhig.
Und ich konnte ihn beruhigen, als er aufwachte. Er hatte Angst, daß
er vielleicht seine Hände nie wieder gebrauchen könnte; sie waren
wirklich schlimm zerschnitten gewesen, aber nach ein paar Tagen war
ich ganz sicher, daß sie wieder heilen würden. Er blieb einige Zeit
bei uns, und letztens sah ich ihn wieder, auf seiner Pflugmaschine,
fröhlich pfeifend. – Er hat sich kurz nach seiner Entlassung
überschwenglich bei mir bedankt ... als ich des Morgens kam,
standen in einer Vase dreißig Rosen auf meinem Tisch –«
»Rote?«
»Nein, keine roten. Verschiedene Rosatönungen und weiße, einige
pfirsichfarbene, und Schleierkraut. Ein wunderbarer Strauß. Ganz
zarte Farben, sehr geschmackvoll.« Sie blickte zu ihm auf, erst
jetzt verwundert. »Höre ich da etwas wie einen Anflug von
Eifersucht, Dr. Gustavson?«
Mit jäh verdunkelten Augen neigte er sich über sie. »Mehr als nur
einen Anflug, Dr. Mercury.« Er küßte sie ungestüm. – Zögernd nur
löste sie die verlangende Umschlingung um seinen Nacken und sah in
sein bleich gewordenes Gesicht, an dessen linker Schläfe die kleine
Ader zu pulsieren begonnen hatte. »Du bist eifersüchtig! – Eric, du
bist wirklich eifersüchtig!«
»Sehr!« erwiderte er hitzig.
»O je, da habe ich mich ja auf etwas Schönes eingelassen – einen
Othello!«
Er stand auf und hob sie hoch. Ganz leicht. Sie fand seine Kraft
noch immer ein wenig bestürzend.
»Nicht doch.« Ein zärtliches Lächeln nistete in seinen
Augenwinkeln. »Othello war ein armer, in die Irre geleiteter Tropf.
Yago war der eigentliche Mörder, Othello hörte ja nur auf seine
Einflüsterungen.«
»Und du?«
»Und ich?! Was meinst du?«
»Eric! Er war nur ein Patient für mich!«
»Und ... ich?!«
»Da haben wir's! Doch ein Othello.«
Unversehens wurde sie von der warmen Geborgenheit seiner Brust hoch
über seinen Kopf gehoben. »Du! ... Laß mich sofort runter!«
verlangte sie ungestüm, unterdrückte ein helles Auflachen und
strampelte ein wenig. Er ließ sie noch ein wenig zappeln und dann
sanft an sich heruntergleiten.
Sie war außer Atem. »Du .. du warst vom ersten Augenblick an etwas
Besonderes. Und sei nicht so dumm!« verlangte sie. »Als ob ich je
einen anderen als dich gewollt hätte!«