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Der Renntag in Ascot war vorüber. Lionheart trug an seinem Halfter die Auszeichnung des Siegers. Mr. Williams, sein Besitzer, wollte gerade eine Decke auf den Rücken des Hengstes legen, als

Eric auf sie zukam. »Meinen Glückwunsch, Junge. Ich hatte die Hoffnung aufgegeben, bevor Turner mich auf Sie aufmerksam machte. Ich hätte es nicht für möglich gehalten.«

Eric zeigte kein Lächeln, trat näher zu ihnen und strich über Lionhearts Hals. Mr. Williams beobachtete ihn.
»Na, wollen Sie noch einmal zu den Anfängen zurückkehren, ehe Sie sich von ihm verabschieden?«
Ihre Blicke trafen sich. Eric nickte und nahm Lionheart den Halfter ab. Als Eric sich auf seinen bloßen Rücken gezogen hatte, setzte er sich federnd in Bewegung. Er sog die feuchte Luft ein und warf freudig den Kopf auf. Mr. Williams wich zurück an den Rand der Rennbahn und ließ seinen Blick mit leiser Wehmut auf dem Paar ruhen, das einem Zentaur glich, so sehr schienen Mann und Pferd verschmolzen, als sie sich im leichten Rhythmus des Galopps wiegten.
Noch einmal zu den Anfängen zurückkehren ... Williams' Worte gingen Eric nicht aus dem Sinn. Ganz am Anfang, gleich nach dem Sturz, war Lionheart unfähig gewesen, sich zu bewegen. Obwohl Muskeln, Knochen, Sehnen intakt geblieben waren, blieb er flach in seiner Box liegen. Man hatte ihm gut zugeredet, versucht, ihn mit Leckereien auf die Beine zu locken. Schließlich hatten sie Besenstiele in seine Kruppe gestoßen, Peitschen geschwungen, an seinem Halfter gezerrt und auf ihn eingebrüllt.
Dann aber war da auf einmal einer unter all denen gewesen, der ein kleines Licht in diesem Dunkel entzündet hatte. Von ihm hatte er zum ersten Mal wieder Nahrung angenommen, mit jedem Tag hatte er der Berührung mehr getraut. Diese Hände und diese Stimme – sie wurden der Inbegriff von Verständnis und nie endender Geduld. Sie hatten ihn schließlich auf die Beine gebracht, hatten ihn aus der Box gelockt. Vor dem hellen Tageslicht war er zurückgewichen, nachdem er so lange Zeit im Dunkel gewesen war. Deshalb hatte Eric ihn zunächst nur nachts aus seiner Box gebracht. Er war mit ihm spazierengegangen, hinunter zum Fluß und hinauf zu den Hügeln, wo sich die Büsche und die hohen Halme der Gräser schwarz und seltsam starr vom Glitzern des Sternen übersäten Himmels abhoben. Und schließlich war er mit ihm zur Rennbahn gegangen, hin zu dem Zaun, wo Lionheart gestürzt war. Immer häufiger wurde diese Stelle ihr Ziel, bis Lionheart sich nicht mehr schüttelte vor Entsetzen, sondern beinahe gleichmütig den Geruch der Holzbohlen einsog, an die Eric ihn heranführte.
Eines Nachts drängte er den Hengst dann gegen einen schmalen, niedrigen Stein, wie er für die Abgrenzung von Abreiteplätzen manchmal verwendet wird, stieg darauf und legte ihm behutsam die Hände auf den Rücken. Lionheart zitterte, aber er stand, beruhigt durch das warme Murmeln der Stimme. Eric lehnte sich gegen seinen Rumpf und ließ beide Arme leicht über seinen Rücken hängen. Lionhearts Körper spannte sich. Als die Spannung unerträglich wurde, entlud sie sich in einer heftigen Bewegung, die Eric von dem Stein abrutschen ließ. Sein Oberkörper wurde gegen Lionhearts Rumpf gedrückt – Lionheart spürte plötzlich das Gewicht des Mannes! Als Eric die Hand nach ihm ausstreckte, bekamen die mächtigen Kiefer die Hand zu packen, dann war der Geschmack von Metall auf Lionhearts Zunge. Er roch Blut. Kein Schrei, nur die leise Stimme und heftige Atemzüge.
»Ich schätze, es kann nicht mehr viel schlimmer kommen, außer, du willst mir sämtliche Knochen brechen und mich umbringen.«
In dieser Nacht hatte Eric Lionheart zum ersten Mal geritten, und der Hengst erinnerte sich an heiße, helle Tage, als sich seine Hufe in den glänzend-glatten Turf gegraben hatten. Sein Blut brannte, und das wiederentzündete Feuer warf ihn voran, der Weite entgegen, hinein in den geliebten Rausch, für den er geboren war. Sein Galopp wurde wieder geschmeidiger, seine Sprünge weiter. Für diese Nacht, diesen Ritt hätte Eric weit mehr gegeben als ein Stückchen Fleisch. Es machte ihm nichts aus, daß das Blut unaufhörlich aus seiner Fingerkuppe rann. Seine Augen brannten, ob vom Gegenwind oder von Tränen wußte er nicht, und es kümmerte ihn auch nicht: Lionheart rannte – mit einem Gewicht auf dem Rücken.
Es gab danach viele Nächte im Galopp auf der verwaisten Rennbahn, dann auch Runden bei Tag, zuerst allein, dann mit anderen Pferden, und schließlich bekam er einen anderen Reiter. Lionheart mochte diesen Jockey von Anfang an nicht, aber er wehrte sich nicht. Eric wünschte, daß er diesen Reiter trug, und sein Vertrauen in Eric war ohne Grenzen. Heute nun hatte der Hengst den letzten Schritt getan, und Erics Auftrag war erfüllt. Mit seinem überraschenden Sieg hatte Lionheart an seine Erfolge vor dem Unfall angeknüpft. Er hatte sein Löwenherz zurückgewonnen. Und er hatte Eric verloren.
Als Eric ihn durch einen leisen Zuruf und ein Zurücknehmen des Gewichtes verlangsamte und schließlich anhielt, spürte Lionheart auf einmal, daß etwas anders war als sonst. Und als Eric von seinem Rücken glitt und die Hand unter seine Mähne schob, drängte er sich gegen ihn und versuchte, sich ihm in den Weg zu stellen, indem er den Hals vorstreckte und ihn heftig gegen Erics Brust drückte. Da waren die Hände auf seinem Gesicht, die weiche Stimme, aber sie beruhigten ihn nicht.
»Okay, Junge.« Die Stimme klang gepreßt, wie er sie nie zuvor gehört hatte. »Du weißt es natürlich schon ... irgendwie, nicht wahr? Du bist jetzt stark genug, es ohne Hilfe zu schaffen. Du bist durch das Fegefeuer gegangen und hast es überwunden.«
Lionheart drehte Eric beide Ohren zu, so daß sie ganz schräg geneigt waren, und schnoberte gegen Erics Gesicht. »Also wirklich, Lion, du mußt mir schon zuhören, weißt du ... ach nicht! Nicht am Ohr kitzeln!« Er zerraufte Lionhearts lange Stirnlocke und sagte dunkel, damit der Hengst seine Spielerei ließ: »Du hast es geschafft, und du bist an dieser Herausforderung gewachsen. Nichts, niemand kann dir im Weg stehen.« Eric bemerkte nicht die Gestalt hinter ihnen, er hatte Williams völlig vergessen.
Er brachte Lionheart zu seiner geräumigen Box und führte ihn hinein. Seine Hände strichen über das seidige Fell, das er auf einmal nicht mehr sehen konnte. Es war nur ein kastanienfarbener Schimmer.
»Du bist ganz trocken«, murmelte er rauh, »hast dich nicht mal angestrengt bei unseren Runden.« Er preßte sein Gesicht gegen den Pferdeleib. Der Hengst wandte den Kopf und drückte sein Maul zwischen seine Schulterblätter.
»Ist gut, Junge. Ich werd' dich nicht belügen. Du wirst Rennen laufen und großartige Fohlen zeugen. Du wirst das tun, was dir schon immer bestimmt war, und mit noch größerem Mut. Vergiß nicht, was ich dir über das Fegefeuer gesagt habe. Du gehörst zu denen, die verstehen können. Vergiß nicht, die durch das Fegefeuer gehen, sind unbesiegbar. Nichts kann sie ängstigen, nichts kann sie aufhalten.«
Er nahm den zutraulichen Pferdekopf zwischen seine Handflächen und preßte einen Kuß zwischen die empfindsamen Nüstern. »Leb wohl, mein Freund«, murmelte er und bemühte sich, seine Stimme nicht anders klingen zu lassen als bei jedem Abschied. Er verriegelte die Box und schloß die Stalltür. Mr. Williams war zu ihm getreten, und nach einer Weile, in der sie schweigend durch den Dunst gegangen waren, sagte er leise: »Er wird Sie fürchterlich vermissen.«
»Nein, Sir, sicher nicht. Pferde wissen nichts von Abschied«, erwiderte Eric und starrte in die Nacht.
Ein dunkler Ruf drang zu ihnen. Eric drehte sich zum Stall um. Der bronzene Ruf erklang von neuem.