11

Als er zurückkam nach Sunrise, waren die hübschen weißen Blumen schon längst verblüht. Das Laub der Buchen und Birken hatte die dunkle Tönung des Hochsommers angenommen und seine

Zartheit verloren. In höheren Lagen würde es bald seinen Saft verlieren und beginnen, die Farben des Herbstes anzunehmen. Der Wald wirkte, wie er es an jenem ersten Tag vorausgesehen hatte, dunkler, beinahe düster, aber es störte ihn weniger, als er vermutet hatte. Er war gut erholt, sein rechter Arm hatte Kraft und Beweglichkeit zurückgewonnen, und von einem gelegentlichen kleinen Schwindel abgesehen war auch sein Schädel wieder in Ordnung.

Er hatte Dr. Mercury auf Ehre und Gewissen versprechen müssen, daß er sich für einige Zeit noch schonen würde. »Ich warne Sie, Mr. Gustavson«, hatte sie lächelnd gesagt und ihren Arm um Claires Schulter gelegt: »Mrs. Hickman und ich haben einen Pakt geschlossen – sie wird mir berichten, wenn Sie sich nicht an Ihr Versprechen halten.«

»Und wenn ich ein böser Junge bin – kommen Sie dann und legen mich übers Knie?«
»Lassen Sie es lieber nicht darauf ankommen.«
Claire hatte eifrig eingeworfen: »Wir würden uns freuen, wenn Sie uns mal besuchen kämen. Ich möchte ein Festessen für Sie geben.«
»Lassen Sie sich das nicht entgehen, Dr. Mercury. Claire ist die beste Köchin der Welt.« Die Pies und kalten Brathühnchen und all die Süßigkeiten, die Claire ins Krankenhaus geschleppt hatte, waren stets der Höhepunkt seines Tages gewesen.
»Nun, wir werden sehen, ob der Dienstplan es zuläßt. Aber ich würde schon sehr gerne annehmen, Mrs. Hickman, vielen Dank.«
»Ob sie es ernst gemeint hat, daß sie uns mal besuchen kommen will?« fragte Claire versonnen vom Rücksitz aus. Eric brauchte nicht zu fragen, wen sie meinte. Elaine Mercury hatte einen sehr tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Das Lächeln, das ein reizendes Grübchen in ihre rechte Wange zauberte, würde nicht das einzige sein, was er vermißte.
»Sie hat sicher viel um die Ohren.« Er dehnte und streckte sich. Es war herrlich, wieder einen Körper zu haben, der ihm gehorchte. Als sie die Anhöhe halb heruntergerollt waren, bat er David, ihn aussteigen zu lassen. »Muß mich wieder an meine Beine gewöhnen.« Der Anblick der vom Wind gezausten Gräser machte ihn unternehmungslustig. »Aye.« David stoppte. »Sie rufen am besten an, wenn Sie hier fertig sind, dann hole ich Sie ab. Es ist ja Samstag, ich werd den ganzen Tag im Haus herumwerkeln, wenn wir vom Einkaufen zurück sind.«
»Und Eric –« Claire blickte eindringlich zu ihm auf.
»Sicher, Claire. Ich sehe mich vor. Ganz großes Ehrenwort.« Er zwinkerte, winkte ihnen zu und ging langsam die Steigung hinunter. Als er sich dem Stall näherte, dachte er an den ersten Tag, als er mit Lance ausgeritten war. Lance war wirklich ein wenig rundlich geworden. Er hatte natürlich nicht viel Bewegung in dem kleinen Garten gehabt, und Claire hatte es mit dem Füttern etwas zu gut gemeint. Er hatte ihn heute morgen zu Billy auf die Koppel mit dessen Pferden gebracht, damit er herumtoben konnte. Seltsam nahm sich dieser glatte seidige wohlgenährte Aristokrat neben den wetterharten Ponys aus. Maudies kleiner Hengst war inzwischen tüchtig gewachsen; an seinen schmalen dunklen Beinen wurde das Haar schon länger. Bald würde er richtige Behänge haben wie die ausgewachsenen Pferde.
Gott, es war ein gutes Gefühl, auf den eigenen zwei Beinen einhermarschieren zu können, das Gras unter seinen Stiefeln zu spüren und den Wind im Gesicht, und die Augen ohne Schmerzen gegen den blaßblauen Himmel zu richten! Kein Rollstuhl mehr für Eric Gustavson, nein, Sir! Dieses Vehikel, von einem Pfleger oder einer Schwester geschoben, war seine Fortbewegungsmöglichkeit in der Klinik gewesen, und er schüttelte sich. – Nun, das war vorbei, er hatte es geschafft, und soweit würde es diesmal nicht kommen. Heute Abend würde er Lance reiten, und nichts und niemand und ganz gewiß nicht Solitaire würde ihn davon abhalten.

Er wurde in Sunrise-House bereits erwartet. Grandpa hatte ihn vom Fenster des Salons aus gesehen und kam ihm jetzt entgegengehumpelt. »Tage der Wiederkehr!« Herzhaft schüttelte er Eric die Hand. »Gestern ist Sir Simon hier wieder eingeflogen, nach so was wie einer Odyssee. Aber das kann er Ihnen selbst erzählen. Kommen Sie, mein Junge, kommen Sie.« Er hinkte neben ihm her und warf ihm immer wieder kleine Seitenblicke zu; fragte sich offensichtlich, ob Eric eine Entscheidung hinsichtlich der Gestütsleitung getroffen hatte, wagte jedoch nicht direkt zu fragen. »Wie fühlen Sie sich, Eric? Sie sehen gut aus, bloß ein bißchen blaß um die Nase, aber 's ist ja kein Wunder.« Eric strich sich über sein glattes Kinn. Eines der besten Dinge war, daß er sich wieder rasieren konnte. Anfangs hatte man darauf verzichten müssen, weil sein Schädel und vor allem sein Kinn ganz wund gewesen waren; er hatte sich kaum wiedererkannt, als er in den Spiegel geblickt hatte. Vorbei, sagte er sich wieder. Vorbei. Turner kam auf ihn zugestürmt und bremste sich gerade noch: »Du bist doch in Ordnung? Siehst aus wie Puderzucker!«

»Kann schon wieder was vertragen, Sir Simon.«

Darauf gab es eine bärenartige Umarmung und einige kräftige Klapse auf seinen Rücken. »Hörte gestern erst, was mit dir passiert ist, Junge. Üble Sache.«

»Na, es ist vorbei. – Sie sind ein bißchen herumgewandert, sagte Mr. Fargus.«
»Tja, ich wollte nicht lange wegbleiben, aber ich fand einen netten Gasthof nicht weit von hier und ruhte ein bißchen, und dann dachte ich, es wär gut, zu Hause auf dem Gestüt nach dem Rechten zu sehen, ich stieg also in den nächsten Zug ... Jetzt habe ich aber meinen Wagen mitgebracht. Mrs. Fargus sagte, du willst es noch mal mit Solitaire versuchen, aber falls sie ein ähnliches Ding drehen sollte, würdest du doch wohl vernünftig sein und dein Leben nicht wegen eines einzigen Pferdes aufs Spiel setzen, oder?«
Er schüttelte Erics Schulter. »Die sechs, die du in Arbeit hast, sind natürlich schon wieder ein bißchen verwildert, also, nun ja, es wird Zeit, daß ihre Schulung weitergeht. Du weißt, daß ich sie auf der Herbstauktion verkaufen möchte. Ich will ja nicht drängen«, setzte er etwas gemäßigter hinzu, »und natürlich kannst du nichts dafür, daß du wochenlang im Krankenhaus warst, aber –«
Eric bemerkte, daß Emily und Grandpa Fargus unruhige Blicke wechselten. Er mußte ihnen sobald wie möglich sagen
–, aber in Ruhe, nicht so wie jetzt –, daß er ihre »Bitte« nicht erfüllen würde. Wenn er sich etwas Eigenes aufbauen wollte, brauchte er Leute wie Turner und Mr. Williams, die ihm viel Geld für die Wiederherstellung eines Pferdes zahlten. Allein die Arbeit mit diesen sechs, die er neben Lance behandelte, brachte ihm mehr als das halbe Jahresgehalt eines Verwalters ein.
Aber Solitaire – er mußte es versuchen. Emily hätte keinen stärkeren Anreiz finden können, als ihm ihr erstes Fohlen in Aussicht zu stellen. Es war unwiderstehlich. Dauernd hatte er seither gerechnet – das Fohlen würde in etwa einem Jahr zur Welt kommen. In zwei weiteren Jahren könnte es der Grundstock zu seinem Lebenstraum sein. Er würde Land kaufen in einer guten, fruchtbaren Gegend und gelegentlich ein wirklich gutes Fohlen. Und in ein paar Jahren konnte daraus ein kleines, aber rentables Gestüt werden.
»Es wird sich schon eine Lösung finden, Sir Simon.«
»Ich bewundere Ihre Geduld und Ihren Mut, mein Junge«, sagte Grandpa. »Aber ich versichere Ihnen, daß dieses Pferd heute seine letzte Chance bekommt. Bevor sie dazu kommt, noch ein einziges Mal zuzuschlagen, werde ich –«
»Vater! Sie ist mein Pferd!«
»Mein Sohn hat dieses Pferd von meinem Geld gekauft!« donnerte Grandpa. »Ich bestimme, wie mit ihr verfahren wird. Ich sagte schon einmal, ich dulde kein Pferd auf dem Gestüt, das Menschen angreift! Hätte ich nicht Rücksicht auf deinen Ehrgeiz genommen, dann wäre dieses Monstrum schon längst beim Abdecker!«
Emily barg ihr Gesicht in den Händen und lief aus dem Raum.
»Besser, wir fangen gleich an«, sagte Eric leise und verlegen. Er fühlte sich immer verlegen, wenn Fremde sich in seiner Gegenwart von ihren Gefühlen hinreißen ließen. Sehr ruhig wandte er sich an Grandpa. »Ich halte es offen gestanden für besser, wenn Sie nicht mitkommen, Sir. Es wird vielleicht ein langer, anstrengender Ritt, bis wir die Herde gefunden haben. Und auch Mrs. Fargus sollte hierbleiben. Sie scheint ziemlich überreizt.«
»Das sind wir alle«, murmelte Grandpa und sank umständlich auf die Couch. »Ich werde mich bei ihr entschuldigen müssen.« Er streckte die Hand nach Tumbler und Whiskyflasche aus, um sich zu stärken. »Hätte mich zusammennehmen sollen.«
»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«
Müde schüttelte er den Kopf. »Nay, mein Junge, das werd ich selbst ausbaden. Ich gehe zu ihr, sobald ich das hier ausgetrunken habe.«
»Ja, Sir.«
Eric verließ den Salon, dicht gefolgt von Turner, der ihn neugierig bedrängte. »Scheint, du hast einen Plan.«
»Im Krankenhaus hatte ich genug Zeit zum Überlegen.«
»Na – sag schon, wie willst du das Teufelsweib kriegen?«
»Ich bin abergläubisch. Ich will nicht vorher darüber reden.«
»Du bist nicht abergläubisch!«
»Stimmt. Aber ich will meine Energie nicht damit verschwenden, was zu erklären, das vielleicht überhaupt nichts bringt; und für Erklärungen ist hinterher Zeit. Wenn Sie's interessiert, kommen Sie mit.«
»Darauf kannst du wetten!«
Als sie aus dem Haus traten und Eric zum Himmel blickte, sah er nach einiger Zeit einen sehr blassen Halbmond da oben. Er kannte den Mond und seine wechselnden Gesichter zu jeder Tages- und Nachtzeit, seit er Verstand genug besaß, um ihm einen Namen zu geben. Wahrscheinlich hatte er ihn schon vorher gekannt und zu ihm aufgeblickt als etwas Wunderbarem, Gottähnlichen; einem Leitstern eben. Er blinzelte ihm mit einem Auge zu.
Es war ein gutes Gefühl, endlich wieder ein Pferd aus der Box zu holen, es zu striegeln, ihm die Hufe auszukratzen, es zu satteln und zu trensen. Peach war die Stute, die er reiten wollte, eine hohe, schlanke, seidige Schönheit von hellem Rot. Turner hatte sich für Margravine entschieden, und Edward, der dringend darum gebeten hatte, mitgenommen zu werden, wollte Garnet reiten.
So waren es drei Füchse, die vom Herzstück des Anwesens aufbrachen, und über Peachs Sattel hing ein Sack mit Hafer, der rhythmisch im schwungvollen Trab des Pferdes schaukelte. Eric verließ sich auf den Instinkt der Stuten. Es war ihr natürlicher Wunsch, die Herde wiederzufinden, hineinzulaufen in diesen warmen, lebendigen Strom, in diese Nähe und Geborgenheit. Ihr Instinkt war der abgewetzten Metallpfeife vorzuziehen.

Die Herde war näher beim Haus als bei der ersten Begegnung. Excalibur war schon von weitem auf dem höchsten Aussichtspunkt der Gegend zu erkennen, und Eric ließ seine Stute laufen. Als sie schnell die Steigung erklomm, wirbelte der Hengst herum und kam ihnen entgegen. Für ihn war dies zunächst nur eine Stute, die lange von der Herde getrennt war
– wie roch sie? Wurde sie bald rossig? Er umkreiste sie und trieb sie zu den anderen. Eric verhielt sich ruhig, ließ sich dann aus dem Sattel gleiten und stand still inmitten der Pferdeleiber. »Hast du mich vergessen, mein Junge?«

Beim Klang der Stimme blieb der Rote stehen, als seien seine Hufe festgenagelt. Ungläubig hob er den Kopf und witterte intensiv. Seine Vorderhand scharrte ungeduldig, und seine Mähne flog, als er den Kopf in alle Richtungen wandte, um den Geruch seines Freundes über dem der Masse von Stuten, des lockenden, verspielten Atlantikwindes und dem der Erde einzuziehen. Er hob sich ungeduldig auf die Hinterbeine, sein Schweif peitschte seine Flanken, während seine Ohren spielten und seine Nüstern sich suchend weiteten. Eric hatte sich durch die unruhigen Stuten geschoben. »Excalibur! Junge! Ich könnt beinah glauben, daß du mich vermißt hast.«

Da war der Geruch von Hafer in seinen Nüstern, den Eric ihm auf der ausgestreckten Hand anbot; aber da war auch diese leichte und so viel wichtigere Berührung auf seinem hohen Widerrist, da war die warme dunkle Stimme, da war – endlich – sein Freund! Er bestand nur noch aus hohen Wölbungen, als seine Hufe leise tanzten und er seinen Kopf in Erics Arme schob. Die Haferkörner fielen aus der hohlen Hand, der Hafersack rauschte seinen Inhalt heraus, den naschhafte Pferdemäuler rasch auflasen. »Du hast mir gefehlt, mein Junge. Du hast mir wirklich gefehlt –«

Lance hatte sich bei ihrem Wiedersehen genauso wie Excalibur verhalten. Die Freundschaft der Tiere – er war bereit, auf alles zu verzichten, nur nicht darauf.

»Es ist nicht zu glauben«, sagte Turner, der sein Pferd neben Edward auf der gegenüberliegenden Hügelkuppe hielt. »Sehen Sie sich das an, mitten zwischen diesen Wildlingen, und dieser rote Drache ist ihm gegenüber sanft wie ein Zwergpinscher! – Ich werd es nie verstehen! Ich weiß nicht, wie der Junge das macht!«

»Ja, Sir. Ist mir auch ein Rätsel.« Edward klang respektvoll, doch dann schlüpfte in seine Stimme eine Note von Ungläubigkeit: »Oh, Sir, er tut es wieder! Er besteigt dieses rote Ungeheuer! Ich hab ihn ja nur auf Excalibur eintraben sehen, aber dies – ...«

Turner lachte und wendete seine Stute. »Beeilen Sie sich, Eddy, oder Sie verpassen den Spaß!«
Es war eine wilde Jagd hinter den Stuten her. Als Turner merkte, daß es nicht in die von ihm angenommene Richtung ging, nicht auf Sunrise-House, auf die Ställe zu, lenkte er Margravine in Erics Nähe: »Was ist los?« schrie er über den Donner der Hufe. »Wo willst du hin?«
»Zum Meer!« Die Stimme des Jungen klang jubilierend. »Los, kommen Sie!« Der gewaltige Rote und er schienen auf den Schwingen des leichten Windes zu fliegen; sie waren fort in einem Augenblick. Turner drückte seiner Stute die Unterschenkel in die Seiten, aber sie bewegte sich wie Blei im Vergleich zu dem Zentaur, der schnell seinen Blicken entschwand.
»Zum Meer! – Zum Meer?!«
Mann und Hengst kamen zurückgeprescht auf einer der Runden, die die Stuten beieinanderhielten, und ehe er sich's versah, war Margravine eingekeilt in eine trommelnde Flut von tobenden, wiegenden, schnaubenden Leibern, und er mit ihr. Kein Entkommen möglich; jetzt galt es, im Sattel zu bleiben, denn die Stute hatte sich mit der Willigkeit ihres Naturells der Kontrolle des Hengstes völlig untergeordnet und war unzugänglich für seine Befehle. Gütiger Himmel, dies war um einiges rasanter als die waghalsigste Steeplechase, die er je geritten war!
Endlich kam die Herde auf einer sich lang in den Atlantik streckenden Landzunge zur Ruhe, und mit ihr Margravine. Turner wollte jetzt nichts mehr riskieren, ließ sich aus dem Sattel fallen, warf der Stute die Zügel über den Hals und führte sie resolut von den anderen weg. »Keine Mätzchen mehr, mein Schatz. Solange du Sattel und Trense trägst, gehorchst du mir!« Er sah jetzt, daß Peachs Steigbügel hochgeschnallt und ihre Zügel auf dem Hals verknotet waren: Der Junge hatte dieses Rennen vorausgeplant. Und er sah, sehr zu seinem Erstaunen, daß er seine Kleidung abstreifte. »Was ist jetzt los? Soll das heißen, du hast diesen ganzen Zirkus nur veranstaltet, um ein Sonnenbad in großer Gesellschaft zu nehmen?!«
Eric war nackt bis auf die Badehose. »Keine Spur. Es geht um Solitaire.« Die Idee war ihm gekommen, als Hugh ihm die Haare gewaschen hatte. Seltsam, wie Gedanken sich mitunter verknüpfen, und dann ist auf einmal die Lösung des Problems in greifbare Nähe gerückt.
»Oh, denkst du, der Anblick deines Götterleibes wird sie anderen Sinnes werden lassen?«
»Drücken Sie mir lieber die Daumen, statt dumme Witze zu machen.«
»Meinen Segen hast du. Aber was hast du vor?«
»Sie werden's schon sehen – wenn's so geht, wie ich's mir denke.«
Er wandte sich um und ging auf Excalibur zu, der mit hochgewölbtem Kopf seine Stuten in Schach hielt. Einzelne begannen schon, das magere Gras auf diesem kargen Landausläufer zu rupfen.
»Was hat er vor, Sir?« fragte Edward, der auf Garnet näher gekommen war. – »Keine Ahnung. Wie haben Sie's geschafft, daß der rote Drache Ihre Stute nicht ins Rudel drängte?« – »Ich weiß wirklich nicht, Sir. Vielleicht, weil ich ein bißchen weiter beiseite war als Sie.« Turner musterte ihn brütend, und Edward stammelte: »Was immer Master Eric vorhat, vielleicht ist es besser, seine Reitstute aus der Herde zu holen. Wenn Sie Garnets Zügel einen Augenblick halten könnten, Sir?«
Eric hatte sich währenddessen auf Excaliburs Rücken gezogen, nachdem er sich ausgiebig hatte beschnuppern lassen, damit der Hengst seine veränderte Erscheinung akzeptierte: »1.Akt, I. Szene. Es wird drei Hauptdarsteller geben, mein Junge – dich, Resistance und mich. Wenn die erste Szene glatt über die Bühne geht, wird es in der 2. Szene eine vierte Hauptperson geben, nämlich Solitaire. Bist du bereit?«
Excalibur drehte den Kopf in den Wind, der Erics nackte Haut erschauern und kleine Wellen der Erregung darüber laufen ließ.
»Wenn Resistance zurückscheut – und ich könnte ihr das nicht verdenken – dann mußt du die ganze Arbeit machen. Du mußt sie treiben wie noch nie. Sie müssen gehorchen.« Seine Hand fuhr über Excaliburs Hals. Excalibur verschmolz zu einer Einheit mit seinem Reiter. Er drang in dessen innere Welt und wurde zur ausführenden Instanz der Gedanken und Pläne und des Willens dieser Welt. Er setzte sich in Bewegung. Er trieb die Stuten. Seine Tritte waren hoch und zielstrebig wie die eines gut geschulten Dressurpferdes, sein mächtiger Körper wurde gesammelt zu einem Bündel von Energie: er schlug und biß nicht; er beherrschte die Herde einzig durch seine Präsenz – durch ihr Wissen um die potentielle Kraft und das Wissen, daß diese Kraft unvermittelt hervorbrechen würde, wenn sich nur der geringste Widerstand regte. Er trieb sie zum Meer. Die ersten stockten, als ihnen die kleinen, kaum mehr schaumgekrönten Ausläufer um die Fesseln leckten, doch der unüberwindliche Wille des Hengstes hing wie eine Wolke über ihnen allen und drängte sie voran. Dieser Wille legte unsichtbare Ketten um die Herde – keine Stute, kein Fohlen konnte diese Kette durchbrechen und scheuend das Weite suchen. Der Rote stand hoch aufgerichtet hinter ihnen, ohne sich zu rühren, und zwang sie vorwärts durch seinen stummen Befehl.
Resistance war die erste, die ihre Füße auf den nachgiebigen Kies setzte. Sie rutschte tiefer und quiekte, als das Wasser ihre Brust umspülte, riß den Kopf hoch und strampelte, als unversehens kein Grund mehr unter ihr war; aber dann, als sie Luft bekam, als der Schrecken schnell abflaute, fand sie Gefallen an dieser neuen, geradezu schwerelosen Art der Fortbewegung. Es war so ganz anders als zu Land, viel leichter – dieses nie erlebte Element schien sie zu tragen.
Als das Wasser Excalibur und ihn traf, war es Eric, als hätten sie eine Decke aus Eis durchbrochen und seien in die Fluten eines Polarsees getaucht. Er hatte nicht erwartet, daß das Wasser so kalt sein würde. Excalibur versank.
»Vorwärts, Junge! Es ist herrlich, findest du nicht?!«
In Eric brannte wieder die alte Kraft – die großartigste, die Kraft, die die Welt herausfordert. Diese Kraft hat immer ein Ziel, und sie schnellt darauf zu wie der Pfeil auf das kleine schwarze Herz der Schießscheibe.
Sein Ziel war Solitaire.
Excaliburs Nüstern prusteten, aber er reckte den Kopf über die Wellen und trat das Wasser, um oben zu bleiben. Eric saß nicht mehr auf seinem Rücken, sondern berührte, neben ihm schwimmend, nur seinen Hals. »Wir müssen weit raus, Junge. Wirklich weit.«
Excalibur spürte die mitreißende Kraft und fand erneut Zugang zu den Plänen seines Freundes und trieb seine Herde, hinter ihm schwimmend, weiter hinaus ins Meer. Turner und Edward standen am Ufer und waren fassungslos. Turner verknotete die Zügel mit einer Hand. »Ist er verrückt oder was? Was soll das?«
»Ich habe keine Vorstellung, Sir.«
Als sie mehr als eine Meile vom Land entfernt waren, lenkte Eric den Hengst sacht in die Mitte der Herde, wo Solitaire schwamm. Es war typisch, daß sie sich in der Mitte hielt, wo sie geschützt war von den Körpern der anderen. Aber das schützte sie nicht vor ihm. Er glitt zu ihr heran und legte ihr die Hand auf den Hals. All ihr Sträuben und Kämpfen nützte ihr jetzt nichts: Sie versank im Wasser, wenn sie sich zu erbittert wehrte, und wenn sie wieder auftauchte, halb erstickt und zunehmend schwächer, war immer diese Nähe da, hassenswert und beängstigend – und doch –, diese Stimme war gütig und sanft und verständnisvoll ... sie erinnerte sich ... erinnerte sich an Stimmen aus den Tagen vor dem Schrecklichen – es war wie ein blendender Blitz – gab es vielleicht doch einen Weg zurück? Der Hengst trieb sie weiter hinaus. Sie fühlte die Tiefe unter sich. Rechts und links von ihr drehten die anderen Pferde ab und strebten wieder dem Ufer zu, aber sie wurde von dem Willen des Hengstes weitergetrieben; alles war Drohung – dieses fremde kalte Element, ihr natürlicher Gebieter, selbst der kalte blaue Himmel.
Eine Wärme gab es. Eine Quelle von Sanftheit und Ruhe in ihrer steigenden Panik. Leichte Hände und eine freundliche Stimme. Das war anders als die ihr aufgezwungenen Gewichte und die Gurte und das Schreien. Diese Stimme würde sie auch nicht des Nachts anschreien und ihre Ängste schüren wie die andere, nachdem sie entkommen war. Diese Stimme war wie ... früher, als es noch Wärme und Freude, Vergnügen – als es noch Licht in ihrem Leben gegeben hatte. Ein Hauch des fohlenhaften Vertrauens kam zu ihr zurück. Es gab einen Augenblick, da ihr Gedächtnis so weit zurückwanderte, daß sie vergaß, in welcher Lage sie sich befand, und unter die Oberfläche sank. Sie sank tief. Furcht um das nackte Leben packte sie. Und da war ein kräftiger Zug an ihrer Mähne, ein Kampf im Wasser um sie herum, eine Kraft, die sie nach oben zwang, zwei verschlungene Hände unter ihrer Kehle, die ihren Kopf über die glitzernde Oberfläche hielten, und eine weiche Stimme, die ein wenig atemlos murmelte: »Da habe ich dich tatsächlich buchstäblich an der Mähne herausgezogen aus deinem Sumpf. Hab jetzt keine Angst mehr, kleines Mädchen. Ich werd achtgeben auf dich.«
Sie ergab sich. Sie ließ zu, daß sich die Arme um ihren Hals legten, nicht, weil sie sich nicht wehren konnte, sondern weil sie es wollte und wünschte.