10

Ein grauer Schimmer war vor seinen Augen, die er nicht öffnen mochte, aber er wurde sich seines Körpers bewußt und fühlte, daß er sich nicht bewegen konnte. Er zappelte und zerrte – da

waren mechanische Widerstände. Er riß die Augen auf und schloß sie sofort wieder, weil ihm selbst das weiche Licht eines sinkenden Tages weh tat. Aber er hatte doch einen Blick auf die breiten leinenen Gurte erhascht, die Beine, Oberkörper, Hals und Arme umspannten. Er hielt die Augen fest geschlossen und preßte die Zähne aufeinander, daß ihr Knirschen in seinem schmerzenden Schädel widerhallte, während sich sein Körper gegen die Fesseln wehrte – was fiel denen ein, ihn festzubinden, er war schließlich kein gewalttätiger Geistesgestörter –, da kam eine Stimme heran, eine Gestalt verdeckte das schmerzhafte Licht, und er konnte die Augen öffnen, ohne daß ihm schier der Schädel platzte, aber alles war immer noch verschwommen. Er konnte die Worte immerhin verstehen, denn sie waren leise genug gesprochen, um sein überempfindliches Gehör nicht zu betäuben. »Sie müssen sich ruhig verhalten, Eric«, sagte die Stimme. »Sie dürfen sich nicht anstrengen.« Er blinzelte und fixierte mit einiger Mühe die Gestalt einer Frau mit einem dunklen Gesicht und ergrauenden Haaren unter ihrer weißen Schwesternhaube. »Sie ... sind piktischen Ursprungs, nicht, Madam?«

Sie sah auf ihn nieder. »Ich werde Dr. Mercury holen.« Sie wollte sich abwenden, aber dann kam sie wieder zu seinem Bett zurück. »Pikten? Was meinen Sie?«

»Pikten und Kelten – die Völker, die die Urahnen des schottischen Volkes sind. Die Pikten waren dunkel, und die Kelten hellhäutig und hellhaarig.« »Ich hole Dr. Mercury.«

Wieder sank er in ein Meer von Dunkelheit, doch nicht so tief wie zuvor. Die leichte Berührung einer Hand auf seinem Arm holte ihn an die Oberfläche. Er hob langsam die Lider, aber er sah nicht mehr als einen weißen Kittel. »Machen Sie das weg, Doktor. Sie müssen mich nicht fesseln. Nehmen Sie es weg, oder ich werde dieses Bett umwerfen und Ihnen eine Menge Ärger machen.«

Geschickte Hände lösten die demütigenden Gurte. »Wollen Sie sich selbst verletzen?«
»Hugh?«
»Ja, ich bin's, Hugh. Dr. Mercury hat Sie gründlich untersucht. Wollte unbedingt hier sein, wenn Sie aus der Narkose erwachen, aber es gibt 'ne akute Appendizitis auf Station II. – Ich mußte Sie lahmlegen, Eric, ich konnte nichts riskieren. Sie hätten eine Schädelfraktur haben können. Es tut mir leid.«
»Es tut mir leid.« Etwas Ähnliches hatte er zu Lance gesagt, als er ihm die Betäubungsspritze hatte geben müssen. Er versank erneut in Dunkelheit.

»Wie geht es ihm? Wird er wieder gesund? Ganz gesund?« Claire Hickman schoß auf Dr. Mercury zu, sobald sie den
Raum verlassen hatte. Die anderen umstanden sie gleich
darauf, schweigend, aber ebenso begierig auf ihre Antwort
wartend.
Dr. Mercury blieb stehen. Sie war an Aufregung gewöhnt.
»Wir haben ihn gründlich untersucht. Er hat eine schwere
Gehirnerschütterung und viele Quetschungen, und eine
Lähmung in seinem rechten Arm. Aber wenn er sich ruhig
verhält, wird er bald wieder ganz der alte sein.«
»Können wir zu ihm?« fragte Claire. Sie setzte sich
drängend über die Distanz hinweg, die die ruhige Stimme und
die unnahbar scheinende äußerliche Erscheinung von sterilem
Weiß und Stethoskop schaffen sollten. Die junge Ärztin
blickte sich unter ihnen um. »Keinesfalls alle«, entschied sie.
»Er schläft jetzt, und er muß Ruhe haben, mehr als alles
andere. Mehr auch als Medikamente.«
Dr. Mercury war in der kleinen Klinik in dem kleinen schottischen Ort Kirkrose bekannt für ihre unorthodoxen Entscheidungen: »Eine Nähe kann ich schon verantworten.« Ihr Blick schweifte noch einmal kurz und blieb an Claire hängen. Zwischen der kleinen Frau und dem jungen Mann in seinem Krankenbett schienen ihr unsichtbare Bande zu bestehen. »Sie sind nicht seine Mutter, nicht? Ihr Name ist
Hickman, und seiner Gustavson.«
»Er wohnt bei uns. Und – und wir haben ihn ins Herz
geschlossen wie einen Sohn. Er ist viel mehr als ein
Logiergast. Nicht, David?«
»Aye, Frau Doktor, das stimmt. Er ist ein feiner Junge, und
viel mehr als ein Gast für uns.« David Hickman richtete sich
hinter der kleinen Gestalt seiner Frau auf. »Er hat niemanden,
es gibt keine Familie.«
»Außer Ihnen beiden, will mir scheinen.«
In diesem Moment wandte sich Emily um und fand sehr
aufrecht gehend den Ausgang. Sie hatte kein Recht, hier zu
sein. Sie konnte ihm nicht geben, was diese beiden ihm
gaben. Sie verlangte zu viel. Und sie verlangte etwas, das
seine Anständigkeit nicht geben wollte. Sie hatte ihn
getäuscht. Nie wieder würde sie seinen innersten Kern
erreichen können, wie es ihr zum Beginn ihrer Begegnung
fast gelungen war. Ein guter Anfang war es gewesen. Sie
allein hatte ihn durch die Täuschung verdorben.

Sein scheues Lächeln leuchtete auf. »Claire.«
»Schschsch.« Sie kam leise zu seinem Bett und legte ihre
kleine harte Arbeitshand auf das weiße Laken – suchte seine
Nähe und wagte nicht, ihn anzurühren. »Nicht sprechen«,
hauchte sie. »Ich werd auch ganz leise sein. Dr. Mercury
sagt, ich darf Sie kurz sehen, aber Sie sollen sich nicht
anstrengen. Sagen Sie also lieber nichts. Wir müssen Ihren
Kopf schonen. Sie können ja mit den Augen sprechen, ja?« Eric zwinkerte seine Zustimmung. Dann ruhte sein Blick
auf der kleinen dunklen Hand, und seine Linke bewegte sich
langsam darauf zu und umfaßte sie leicht und fühlte ein
heftiges antwortendes Pressen.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, den rechten Arm so gar nicht bewegen zu können; nicht schmerzhaft, nicht einmal unangenehm – da war einfach nichts, so, als gehöre dieses Glied gar nicht zu ihm. Claire umfaßte seine linke Hand ganz fest, und er sah einen feuchten Schimmer in ihren Augen. »Nicht«, sagte er heftig und wollte sich aufrichten, »nicht
doch, Claire!«
»Ach, tut mir leid, mein Junge. Seien Sie nur ruhig.« Sie
wischte sich heftig über die Augen. »Ich bin's ja auch. Es ist
wohl der Schreck – David hatte wie verabredet auf Sie
gewartet, und als Sie nicht kamen, fuhr er runter zum Haus.
Der alte Fargus erzählte ihm, was passiert war, und daß Mrs.
Fargus mit zum Krankenhaus gefahren war. Er war sehr
aufgeregt und besorgt und hatte eigentlich mitfahren wollen,
aber Emily meinte, das wär nicht gut für ihn. David kam dann
nach Hause und holte mich ab, und seitdem sind wir hier, seit
gestern Abend.«
Erics Augen huschten erschrocken zum Fenster. Das Licht
wurde blau. Hugh mußte ihm eine ganz hübsche Portion
verpaßt haben, wenn er jetzt erst aufgewacht war. Er bewegte
sich unruhig. Lance – er haßte es, seinen Verpflichtungen
nicht nachkommen zu können. Als habe sie seine Gedanken
gelesen, sagte Claire: »Ich habe Billy angerufen. Er versorgt
Sir Lancelot mit Futter und Wasser.« Sie sah seinen
erschrockenen Blick und streichelte beruhigend seine Hand:
»Ich hab ihm gesagt, er soll die Eimer einfach durch die Tür
schieben und gar nicht erst versuchen, in den Stall zu gehen.
Und morgen kann ich mich wieder um Prince Charming
kümmern. Aber ich konnte nicht von hier weggehen ohne zu
wissen, wie's um Sie steht.«
Prince Charming! Es schien Ewigkeiten her zu sein, seit
sie Lance zum ersten Mal so genannt hatte. Zwischen diesem
Augenblick und dem Jetzt lag die Erfahrung, daß jede Regel
ihre Ausnahme hat. Er dachte an die Wolke aus Haß und
Unzugänglichkeit, die um Solitaire gewesen war, als sie auf
ihn zuraste und ihn angriff. Ihn schauderte: Er hatte keine
Möglichkeit, sie zu erreichen. Zum ersten Mal begriff er, daß
bei allen Pferden, mit denen er je zu tun gehabt hatte, immer
noch, und sei er nahezu unauffindlich verborgen, ein winziger
Schimmer von Hinwendung gewesen war, so wie ein Fünkchen Glut unter der toten Asche glimmen kann. Bei
Solitaire war nichts.
Sie war, recht betrachtet, nur eine von vielen, und ein
einzelnes Pferd war es nicht wert, daß er sein Leben für seine
Heilung riskierte. Er mußte an die anderen denken, die ihn
brauchten und denen er helfen konnte. Es war eine harte,
schmerzliche und sehr bittere Erkenntnis. Irgend etwas oder
irgend jemand hatte Solitaire zerbrochen. Ihre innere Welt
lag in Splittern. Darum hatte er sie nicht erreichen können.
Darum würde es ihm nie gelingen. Scherben lassen sich
wieder zusammenfügen, Splitter aber nicht. Er hätte nicht
gewußt, wo er anfangen sollte.
»Danke, Claire«, murmelte er als Antwort auf ihre letzten
Worte.
»Schschsch – nicht sprechen.« Geradezu schuldbewußt
wandte sie sich zu der Tür um, durch die ein weißer Kittel
trat – blendend, schmerzhaft weiß für Eric. Er schloß die
Augen. »Ich weiß, Dr. Mercury«, hauchte Claire. »Zeit zu
gehen.« Sie neigte sich ein wenig über Eric und blendete das
schmerzhafte Weiß aus. Dankbar sah er sie an.
»Morgen komme ich wieder, ja?«
Wenn Menschen freundlich zu ihm waren, hielt Eric es im
allgemeinen für Höflichkeit oder Berechnung. Doch in
Claires Augen las er, daß er wichtig für sie war, er, Eric
Gustavson, selbst in seinem erbärmlichen Zustand, halbnackt
und geschwächt, und er dachte an den gestrigen Morgen
zurück und sah in seiner Erinnerung wieder den Ausdruck von
Davids Augen, bevor eine dicke Rauchwolke sie verschleiert
und dann zum Blinzeln gebracht hatte; es war ganz der
gleiche Ausdruck gewesen, der jetzt in Claires Augen lag;
und seine Kehle war plötzlich eng und sehr trocken.
»Danke, Claire«, flüsterte er. Er war beinah ohne Atem vor
der eben gewonnenen Erkenntnis, daß diese beiden ihm mehr
als Freundlichkeit entgegenbrachten. Ihre ineinander
ruhenden Hände fühlten diesen Strom, der sich gegen jedes
Hindernis Bahn geschaffen hatte. Claire neigte sich über ihn:
»Ceud mìle faìlte – in unserem Leben. Es wäre so viel ärmer
ohne dich. Komm bald zurück. Wir vermissen dich.« Ihre
rauhe Hand strich über seine Wange: »Bis morgen, Lieber«, dann drückte sie einen kleinen Kuß auf seine Schläfe und war
fort.
Dr. Mercury hatte still an der Wand gestanden und
beobachtet, die Hände in die Kitteltaschen gegraben. Als
Claire den Raum verlassen hatte, trat sie zu dem Patienten.
»Mein Name ist Mercury. Elaine Mercury.« Sie hatte eine
hübsche Stimme, ganz weich und melodisch. Irgendwann
einmal, in seinen Träumen, hatte er diese Stimme schon
gehört. Seine Lippen bewegten sich, aber es gab keinen Laut.
Er war sehr bleich und sah erschöpft aus.
»Was haben Sie gesagt, Mr. Gustavson?«
»Fayre Elaine.«
»Fayre Elaine?!«
»Steinbeck. Meine Reisen mit Charly, erstes Kapitel.« »Ich bin Ihre Ärztin. Ich muß weitere Untersuchungen
vornehmen, jetzt, da Sie wach sind.«
»Sie passen überhaupt nicht ins Bild«, murmelte er,
während sie tastete, Lichtstrahlen in seine Augen fallen ließ,
seine Wirbelsäule abklopfte: »Sagen Sie, wenn es weh tut.« –
»Ja, Dr. Mercury.« Sie überprüfte seine Reflexe. »Alles
soweit in Ordnung. Der Arm wird auch bald wieder
funktionieren. – Was meinten Sie, ich passe nicht ins Bild?« »Ach, Unfug, ging mir nur so durch den Sinn.«
»Ich habe Interesse an Unfug. Sagen Sie's?«
»Na, wie Sie aussehen – helle Haut und rotes Haar wie
eine Keltin und dunkle Augen wie eine Piktin. Wie geht das
zusammen?«
»Interessiert Sie das denn?« Rosie, die umfängliche
grauhaarige Schwester, hatte gesagt, der Junge könne nicht
ganz bei Sinnen sein, er rede so wirr. Dr. Mercury zwinkerte
schelmisch und sagte: »Ich bin eben eine Mischung. Unseren
Familienstammbaum habe ich nie erforscht, aber es scheint so
zu sein, daß weder die Pikten noch die Kelten sich für sich
gehalten haben.« Der junge Mann war schon ganz richtig,
dachte sie, nur bestürzt über die Tatsache, daß er geschlagen
worden war. Er hätte sich ja auch in groben Beschimpfungen
Luft machen können, sie hätte das nicht zum ersten Mal
erlebt, doch er nahm Zuflucht zu angelesenem Wissen. Rosie
mochte das erschüttern, weil einer von »da draußen« mehr wußte als sie; aber Elaine Mercury entwickelte eine Art
Hochachtung.
Die tiefblauen Schatten um seine Augen wurden innerhalb
weniger Minuten noch dunkler, sein Körper wurde schnell um
mehrere Grade kälter. Kurz bevor er das Bewußtsein wieder
verlor, murmelte er beinah unhörbar: »Es sieht aus, als ob –
ich denke, Sie sind eine sehr schöne Mischung.«

Das Leben im Krankenhaus war eine neue Erfahrung für Eric. Er, der früh erwachsen geworden war und seit langem schon für sein Wohlergehen sorgte – der aß, wenn er hungrig war, schlief, wenn es sich einrichten ließ –, wurde entmündigt. Es gab für alles festgelegte Zeiten: für die Hygiene, die Mahlzeiten, die Untersuchungen. Er unterdrückte einen Wutausbruch, als ihm nicht erlaubt wurde, unter die Dusche zu gehen. Hugh wusch ihn im Bett, nachdem er eine gummierte Unterlage auf die Matratze gelegt hatte, und er war sehr gründlich, aber Eric hatte dennoch das Gefühl, nicht sauber zu sein. »Jetzt noch die Haare.« Ein fahrbares Becken wie beim Friseur, nur niedriger, wurde herangezogen, und Hugh legte vorsichtig seinen Nacken in die dafür vorgesehene Mulde. Der Wasserstrahl rann sanft über seine Kopfhaut. »Ist die Temperatur okay?«

»Ja, ist sie«, kam es zwischen zusammengebissenen

Zähnen hervor. »Aber verflucht, ich kann das selbst!« »Können Sie nicht. Es geht nach Dr. Mercury, und ihre
Order lautet, Sie dürfen nicht länger als fünf Minuten auf den
Beinen sein.« Eric schnaufte ärgerlich, und Hugh ließ ein
kleines Lachen hören, während er ihm den Kopf gründlich
schamponierte: »Seien Sie froh, daß sie Ihnen wenigstens
fünf Minuten zugestanden hat, da können Sie immerhin aufs
Klo gehen und müssen nicht auch noch die Bettpfanne in
Kauf nehmen!«
»Ich werde mit ihr reden.«
»Das können Sie tun, aber es wird nichts nützen.« Hugh
fing seinen widerwilligen Kopf mit einem dicken Handtuch
ein. »Ich hab's noch nie erlebt, daß Dr. Mercury eine
Anordnung widerrufen hat. Und zu Recht. Sie ist eine verflixt
gute Ärztin.«
»Sie sieht aus wie ein Teenager. Nicht älter als siebzehn.« »Legen Sie neun Jahre drauf, dann stimmt's. Sträuben Sie
sich nicht so, Eric. Vertrauen Sie ihr. Dr. Mercury versteht
ihre Sache.«
»Aber – dieses Waschen!«
»Wie geht's Ihrem Kopf? Beklagt er sich?«
»Nein!«
»Wirklich nicht?«
Eric mußte die Augen schließen, weil sich alles drehte.
»Na, ein bißchen grummelt er schon.«
»Ich werd Sie jetzt nicht bitten, sich vorzustellen, wie Sie
sich fühlen würden, wenn Sie herumliefen und versuchten,
alles selber zu tun.« Hugh erwartete keine Antwort. Er griff
zum Fön und ließ den warmen Luftstrahl gegen das kurze
Haar des Patienten wehen.
»Wann lassen Sie mich aufstehen, Dr. Mercury?« verlangte
Eric bei der Visite.
»Wenn ich es verantworten kann.«
»Aber ich bin in Ordnung! Was macht schon ein bißchen
Schädelbrummen!«
»Wie viele Finger sehen Sie?«
»Vier ... nein, warten Sie, drei. Drei Finger. Ich sehe drei
Finger.«
Dr. Mercury klappte Zeige- und Mittelfinger zur Faust
zurück: »Ich erlaube Ihnen aufzustehen, wenn ich es
verantworten kann.«
Ein Ausdruck von Hetze und tiefer Unruhe glitt über sein
Gesicht.
»Eric! Haben Sie Geduld mit sich! Was Ihnen passierte, ist
keine Kleinigkeit, Sie brauchen Zeit, um sich zu erholen. Sie
können Ihre Besserung nicht erzwingen. Sie sind Tierarzt;
Ihnen muß ich nicht erklären, was geschieht, wenn ein
Schädel derart traktiert wird wie Ihrer. Dieses Pferd hätte Sie
umbringen können. Also verhalten Sie sich ruhig und folgen
Sie den Anweisungen.«

Er folgte den Anweisungen. Er unterdrückte die heftigen Anflüge von Rebellion. Sein wunder Körper, nun da ihn der rastlose Geist nicht mehr trieb, verlangte nach Ruhe: er schlief lange erholsame Stunden während des Tages, und sobald das Licht sank, war er für die Welt nicht mehr zu haben. Es schien, als habe sich über die Jahre seines anstrengenden Lebens eine Müdigkeit angesammelt, die er jetzt wegschlief. Wenn er wach war, wollte er gern lesen, aber die kleinen Buchstaben verschwammen ihm immer wieder vor den Augen. Selbst das Radio konnte er nicht ertragen: Claire hatte ein kleines Gerät gebracht, aber auch die niedrigste Einstellung verursachte Schmerzen in seinem Kopf. Er war noch immer überempfindlich, aber unleugbar auf dem Weg der Besserung.

Nach zwei Wochen erhielt Emily Fargus die Erlaubnis, ihn zu besuchen. Sie kam auf ihn zu, zierlich und schön, gefolgt von Dr. Mercury.

»Eric, es tut mir sehr leid.« Emily wirkte völlig deplaziert auf dem kleinen Schemel, den sie sich an sein Bett gezogen hatte, in ihrem dunkelgrauen Kostüm und den seidig schimmernden Strümpfen und den Schuhen mit den hohen Absätzen. Er hoffte, sie werde nicht noch näher herankommen, denn er war davon überzeugt, ganz schrecklich zu riechen. »Es tut mir sehr leid, und ich hoffe, daß Sie Solitaire nicht in Bausch und Bogen verurteilen.«

»Es gilt immer noch, was ich zu Mr.Fargus sagte – es war meine Entscheidung. Niemand hat mich gezwungen, es mit ihr zu versuchen.«

»Sie müssen sich jetzt ausruhen. Dr. Mercury hier sagte mir, daß Sie sehr gut mitarbeiten, und daß Sie vielleicht bald mit der Physiotherapie anfangen können. Und dann – vielleicht –« Sie schwieg, als ihr Blick seinen fand.

Dieses Pferd ist wahnsinnig, ihm ist nicht zu helfen. Ich kann es nicht erreichen, weil es wirklich wahnsinnig ist. Wahnsinnig, verstehen Sie? Wahnsinnig! Sein Geist ist verschoben. Und der Versuch, ihn geradezu biegen, könnte mich das Leben kosten. Ich habe Pläne, die ich verwirklichen will. Und mich um ein irrsinniges Pferd, das Menschen angreift, um sie zu töten, zu kümmern und am Ende erneut zu verlieren, gehört nicht dazu.

Emily erblaßte und fingerte nervös an ihrem Handtäschchen. Sie hatte seine stumme Botschaft sehr wohl begriffen. »Sie ist jetzt wieder bei den anderen. Nur deswegen ist sie noch am Leben. Wäre sie nicht geflohen, hätte Vater sie erschossen. Er bringt nicht die Kraft auf, die Herde zu suchen, und ich habe mich geweigert, sie mit dem Wagen aufzuspüren.«

Beim beherrschten Klang ihrer Stimme zog sich etwas schmerzhaft in ihm zusammen bei der Vorstellung von Grandpa Fargus, der wie ein weißmähniger Recke auf einem der Hügel mit angelegtem Gewehr stand und geduldig wartete, bis Solitaire vereinzelt stand, um dann abzudrücken; und er sah Solitaire nach dem scharfen trockenen Knall zusammenzucken, einen kurzen Luftsprung machen und ins Gras fallen wie ein totgeschossenes Kaninchen. Er wußte, daß diese Vision Emily Tag und Nacht quälte, seit sie Solitaire wieder verloren hatten. Ach, er hätte warten sollen, bis er ein wenig besser beisammen gewesen wäre! Sie hätte ihn nicht so austricksen können, wie sie es getan hatte, wäre er so beweglich wie gewöhnlich gewesen! Und sie war überdies die Perle, die beste aus der ganzen Herde, dazu ausersehen, dem Gestüt durch ihr Blut neues Ansehen, neuen Glanz und Wohlstand zu verschaffen – sie war die Verkörperung von Everetts Traum. Eric war nicht der Mann, den Traum eines anderen gering zu achten. Er wußte, was träumen heißt, wußte, wie es ist, wenn man alles für die Erfüllung eines Traumes herzugeben bereit ist. Er dachte auch an Solitaires Schönheit, an den graziösen dunkelgrauen Leib und das fließende Mondlichthaar, an die feine Form des Kopfes und das dunkle Gold ihrer Augen, und daran, daß sie als Fohlen sanft und lenkbar gewesen war. Emily sagte etwas sehr Unerwartetes in seine Gedanken. »Vater und ich haben miteinander gesprochen. Wir bitten Sie, die Leitung des Gestüts zu übernehmen, sobald es Ihnen besser geht, Eric.«

Er blinzelte und wischte sich über die Stirn, als helfe ihm das, seine plötzlich ineinanderschießenden Gedanken zu ordnen. Emily fuhr stockend fort: »Diese Bitte hat nichts mit Solitaire zu tun. Es ist – auch wegen Excalibur. Ich könnte ihn nie so handhaben, wie Sie es tun, und Vater gab mir sehr eindringlich zu verstehen, wie viele Vorteile es hat, wenn der Zuchthengst und der Leiter des Gestüts miteinander und nicht gegeneinander arbeiten. Es tun sich ganz neue Möglichkeiten auf – wir haben bis jetzt immer davon Abstand genommen, unsere Hengste als Beschäler auch für fremde Stuten einzusetzen –, keiner konnte ja mit ihnen umgehen. Sie aber – wenn Sie die Aufsicht hätten, wäre das anders. Eine Beschälung würde dann ebenso geordnet vor sich gehen wie das Einbringen der Stuten, und es ist ein einträgliches Geschäft, Eric. Was sagen Sie dazu?«

Was konnte er dazu sagen? Dieses Angebot, diese »Bitte«, wie sie es nannte, bedeutete das, wonach er sich immer gesehnt hatte – Land und Pferde. Land, über das er verfügen konnte, Pferde, die ihm nicht weggenommen wurden. Er könnte das Gestüt straffer und effizienter organisieren. Die Fohlen konnten von ihm zu Poloponys oder Jagdpferden ausgebildet werden und würden auf den Auktionen gute Preise bringen. Vielleicht ließen sich Rennpferde züchten – Excalibur war edelsten Blutes, von einnehmender Schönheit und sehr schnell, und Solitaire, mit ihrer hervorragenden Abstammung und ihrem bildschönen Wuchs, war wie geschaffen für die Zucht hoffnungsvoller Rennpferde, die hohe Gewinngelder einbringen würden. Ja, all das war möglich, das, und noch vieles mehr.

Aber wiederum wäre es nicht sein eigen. Die entbehrungsreichen Jahre seiner frühen Jugend hatten einen Hunger in ihm entstehen lassen, den nur eigener Besitz zu stillen vermochte. Selbst wenn er bei den Fargus' genau das tun konnte, wovon er immer geträumt hatte, und wenn er es für den Rest seines Lebens tun würde – niemals würde dieser Hunger dadurch gestillt werden.

Er wollte kein Arrangement. Er wollte eigenes Land und eigene Pferde. Er wollte nicht verwalten. Er wollte besitzen.
Er lag still, schwieg und starrte an die gegenüberliegende Wand. Dr. Mercury rührte sich. »Mrs. Fargus, Mr. Gustavson ist wohl noch nicht wieder so weit hergestellt –«
»Bitte, lassen Sie mich noch eines sagen. Ich – es fällt mir nicht leicht, aber ich bin schon so weit gegangen; Eric, wenn Sie es noch einmal mit Solitaire versuchten, wenn es Ihnen gelänge, sie einigermaßen fügsam zu machen – dann wird ihr erstes Fohlen Ihnen gehören.«
Eigentlich hätten jetzt die bronzenen Klänge von Big Ben erschallen müssen.
»Das Fohlen ist Mr. Turner versprochen. Er wollte mir sehr viel Geld dafür bezahlen. Aber sie wird weitere Fohlen haben – lenkbare Fohlen, wenn sie selbst wieder lenkbar ist. Sir Simon muß dann eben ein Jahr länger warten.«
Dr. Mercury kam etwas dichter an das Bett. »An Ihrer Stelle, Mr. Gustavson, würde ich mich diesem Pferd niemals mehr nähern. Es hat Sie beinahe umgebracht. Und mir scheint, daß es das wieder versuchen wird.« Eric sah zu ihr auf. Sie las die Zerrissenheit in seinem Blick. Sie ignorierte Emily und lehnte sich gegen die Matratze, die Hände in die Kitteltaschen geschoben. »Ich bin Humanmedizinerin, keine Tierärztin. Aber ich weiß, daß Pferde sehr empfindsame Geschöpfe sind. – Wenn Sie ein weiteres Mal vor dieser Stute stehen, werden Ihre Erinnerungen bei Ihnen sein – Entsetzen, Unglaube, Furcht. Sie wird es spüren. Sie wird Ihnen gegenüber von vornherein einen Vorteil haben, denn Sie werden unsicher sein. Niemand kann seine Erinnerungen ignorieren, Mr. Gustavson. Auch die Stute nicht. Sie wird sich erinnern, daß sie Sie schon einmal geschlagen hat.«
Emily maß sie mit einem flammenden Blick. »Es ist Erics Entscheidung, nicht Ihre!«
»Richtig. Aber ich kann sehen, daß Sie Mr. Gustavson gezielt an seinem empfindlichsten Punkt angreifen und dabei nicht erwähnen, daß Sie ihn auch darum bitten, sein Leben zu wagen.«
»Er weiß, was er wagen würde!«
Nach einer Weile sagte Eric mühsam: »Ich weiß es, Dr. Mercury. Ich muß darüber nachdenken.«
»Mrs. Fargus?« Elaine Mercury geleitete die Besucherin zur Tür. »Er braucht jetzt Ruhe, verstehen Sie. Wenn ich gewußt hätte, worüber Sie mit ihm sprechen wollen, hätte ich Sie bestenfalls in einem Monat zu ihm gelassen. Er ist noch nicht so weit, um weittragende Entscheidungen wie diese zu treffen. – Dies wird Ihr letzter Besuch für einige Zeit gewesen sein«, setzte sie in liebenswürdigem Ton und mit harten Augen hinzu. »Sie haben mir nicht die Wahrheit gesagt. Sie sagten, Sie wollten ihn nur sehen. Darunter verstehe ich nicht eine Achterbahnfahrt, wie Sie sie ihm gerade zugemutet haben. Der Patient braucht Ruhe, begreifen Sie das?!«
»Wann kann ich ihn Wiedersehen?«
»An dem Tag, an dem ich seine Entlassungspapiere unterzeichne«, kam es knapp und kühl zurück.