5
War das wirklich erst gestern gewesen, als er das Tor zu Sunrise für Emily geöffnet hatte? Seither war so viel geschehen, und dabei hatte er noch nicht einmal einen Blick auf Solitaire, den Grund
seines Hierseins, werfen können. Er stoppte, um das Tor wieder zu schließen, und als er auf den Fahrersitz zurückglitt, gab Turner plötzlich einen gequält klingenden Laut von sich: »Das Fohlen«, murmelte er.
Eric wandte sich um. Mit Sicherheit hatte Turner von der Geburt des kleinen Hengstes nichts mitbekommen. »Welches Fohlen?«
Turner öffnete ein Auge und wischte sich mit einer fahrigen Bewegung übers Gesicht. »Oh, Eric, du bist's.« Er sprach undeutlich. »Wo sind wir? Wie spät ist es?«
»Es dämmert. Ich bringe Sie nach Sunrise zurück.« Er war nicht sicher, ob Turner ihn überhaupt hörte, fragte aber noch einmal: »Welches Fohlen meinen Sie?«
Turner legte sich etwas bequemer zurecht. »Nach Sunrise zurück ...«, murmelte er, und dann, wie in einem Nachgedanken, »Solitaires Fohlen.«
Eric erstarrte: »Solitaire ist tragend?«
Er rüttelte Turner, aber der war schon wieder
zurückgedriftet in die Nebel seiner
Whiskybewußtlosigkeit.
Eric umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen, bis die Knöchel
weiß wurden, bot alle Willenskraft auf, um nicht auf das Steuer
einzuhämmern. Eine verstörte, trächtige Stute! Na, wunderbar! Mit
einem tiefen Atemzug stieg er aus. Er brauchte jetzt Luft. Viel
Luft, und vor allem Bewegung und Ruhe. Gütiger Gott, sie war
trächtig! Wütend trat er gegen einen Baumstumpf. Ein verängstigtes,
verstörtes Pferd mit einem neuen Leben in seinem Leib! Wenn
Solitaire so schlimm dran war wie – na, wie zum Beispiel Lance
damals, würde es nicht ausbleiben, daß sie sich massiv wehrte. Das
war in der Anfangsphase einer Behandlung, während der er ein Gespür
für das Pferd entwickeln mußte, immer ein schwer einschätzbares
Risiko: wie weit ging die Bereitschaft des Pferdes, sich selbst zu
verletzen, nur um von den Menschen fortzukommen? Er hatte Pferde
kennengelernt – und Lance gehörte dazu –, die eher bereit waren,
sich sämtliche Knochen im Leibe zu zerschlagen, als sich noch
einmal auf Menschen einzulassen; genau wie ein Fuchs in der Falle
bereit ist, sein eigenes Bein abzubeißen. Die meisten Menschen
reagieren darauf mit Zwang und Brutalität. Und natürlich wandten
die Pferde, die schon viele Schlachten geschlagen hatten, die ihnen
aufgezwungenen Maßstäbe zunächst einmal auf alle Menschen an. Es
dauerte seine Zeit, bis sie wirklich glauben konnten, daß es anders
geht. Es war ein langwieriger Lernprozeß; und es blieb einfach
nicht aus, daß es in seiner Anfangsphase zu massiven Reaktionen des
Pferdes kam, die seine Gesundheit, im schlimmsten Fall sein Leben,
gefährdeten.
Und nun war Solitaire zu allem Überfluß auch noch trächtig! Es
konnte nur eine Entscheidung für ihn geben. Er würde Solitaire erst
betreuen, nachdem sie gefohlt hatte. Er wollte nicht riskieren, daß
sie ihr Fohlen verlor.
Das Tageslicht schrumpfte zusammen. Irgendwo über den dichten
Laubkronen der Buchen und Birken glitt die Sonne gen Westen. Er sah
den Sonnenuntergang nicht, aber er tappte schließlich durch eine
kaum mit den Blicken zu durchdringende Dunkelheit zum Wagen zurück.
Als er seine Hand auf das kalte Metall der Wagentür legte, hatte er
zu einer klaren Entscheidung befunden. Ein leichter Wind streifte
die Baumkronen, und das Rascheln und Wispern der Bewegung setzte
sich nach unten fort.
Als er auf Sunrise anlangte, stürmte ihm Louise entgegen.
»Wo waren Sie so lange? Alles war bereit für Sie, und Sie haben
einfach einen Tag Urlaub genommen! Wie können Sie es wagen! Meine
Mutter bezahlt Ihnen die Zeit – und Sie verschwinden einfach, Sie
kümmern sich nicht um Ihre Verpflichtungen!«
»Hören Sie, Louise ...«
»Nein! Keine Ausflüchte! Sie sind ein Scharlatan! Mutter war krank
vor Sorge!«
»Hören Sie, ich mußte einen Platz für Lance suchen, und dann gab es
unten im Dorf eine schwierige Geburt, ich mußte helfen.«
»Ach, Lügen, nichts als Lügen!«
Sie stand unmittelbar vor ihm, im Schein der Lampen der
Frontterrasse sah er ihr Gesicht. Wie haßverzerrt es war!
»Sie spielen sich gerne auf, nicht wahr?« Er trat einen Schritt
näher zu ihr, die Hände hinter dem Rücken zusammengelegt. Sie wich
langsam zurück, plötzlich bleich und mit aufgerissenen
Augen.
»Ich habe da eine Frage, Miss Fargus.«
Er hatte sie bis an das Geländer der Freitreppe gedrängt, ohne sie
auch nur zu streifen; es war einzig seine schiere körperliche
Präsenz, die Kraft und der schweigende Zorn, die von ihm ausgingen,
die sie Schritt für Schritt vor ihm herschoben. »Nur eine
Frage.«
Sie starrte ihn an. Trotz des Lichts von der Terrasse waren ihre
Pupillen so weit, daß ihre blauen Augen beinah schwarz wirkten.
»Bleiben Sie mir vom Leib! Gehen Sie!«
»Ich gehe, junge Lady, und liebend gern. Aber vorher will ich eine
Antwort.«
»Wo ... worauf?«
Plötzlich schwang die Tür zu Sunrise-House auf, und das aus der
Halle flutende Licht zeichnete Emilys Silhouette scharf nach. Ihre
Stimme klang hart, als sie fragte: »Was geht hier vor?!«
»Oh, Mama, ich bin so froh, daß du da bist! –« Louise wandte sich
von Eric ab und stürzte die Stufen der Freitreppe hinauf in die
Arme ihrer Mutter. Emily herzte sie und schickte sie dann ins Haus.
Louise sandte ihm einen haßerfüllten Blick über die Schulter, bevor
sie verschwand.
»Mr. Gustavson – was ist hier vorgefallen?«
Eric richtete sich auf. »Warum hat mir niemand gesagt, daß
Solitaire trächtig ist? Das ist alles, was ich von Ihrer Tochter
wissen wollte. Ich weiß nicht, warum sie einen hysterischen Akt
daraus machen muß.«
Ihr Blick veränderte sich. Langsam kam sie die Treppe hinunter und
blieb schließlich auf der letzten Stufe stehen. In dem weichen
Licht wirkte sie um mindestens zehn Jahre jünger. Er fühlte ihre
Anziehungskraft. Sie war schön. Sie trug ein taubengraues, seidig
schimmerndes Kleid, das ihre Schultern freiließ und ihre zarte
Figur zur Geltung brachte. »Eric.« Ihr Kopf hob sich graziös in den
Nacken, damit sie ihm ins Gesicht sehen konnte.
»Bitte, Emily, antworten Sie mir. Warum haben Sie mir nicht gesagt,
daß Solitaire tragend ist?«
Emily spürte, daß der Augenblick, in dem sie ihn in die Hand hätte
bekommen können, für jetzt vorüber war. Ruhig erwiderte sie: »Aber
das ist sie nicht, sie ist viel zu jung!«
»Wie kann dann Turner von Solitaires Fohlen sprechen?«
»Lassen Sie ihn uns erst einmal ins Haus bringen, Eric.«
Warum wich sie ihm aus?
Turner taumelte auf unsicheren Beinen zwischen ihnen; es war ein
gutes Stück Arbeit, ihn die Stufen hinauf in die Halle und dann
über die breite Treppe in das obere Stockwerk zu schaffen. Er warf
sich sofort aufs Bett, stieß ein Grunzen aus und war schon wieder
weggetreten. »Sie sollten ihm morgen früh eine Bloody Mary geben«,
sagte Eric und mühte sich ab, Turner die Jacke
auszuziehen.
»Sie könnten das auch tun, Eric.«
»Sie wissen so gut wie ich, daß ich morgen früh nicht hier sein
werde. Jedenfalls nicht, um seinen Kater zu verarzten.«
»Warum sind Sie gegangen, Eric?«
»Warum haben Sie mich das nicht heute Vormittag gefragt?«
»Ich genierte mich vor den anderen, und wir waren ja nicht allein,
außer ... als Sie im Bad waren. Und ... da dachte ich an
anderes.«
Er wollte an ihr vorbeigehen, aber sie legte ihm die Hand auf den
Arm. »Warum sind Sie gegangen?«
»Nun, Lance konnte wohl nicht gut hierbleiben. Und ich kann ihn
nicht allein lassen.«
Sie standen dicht beieinander in dem schwach erleuchteten Flur, und
Eric blickte auf sie nieder. Noch immer lag ihre Hand auf seinem
Arm, warm und feingliedrig, und die Schultern hoben sich glatt und
mädchenhaft aus diesem Kleid, das den Ansatz ihrer Brüste sehen
ließ. Er sah den leisen, gleichmäßigen Atem, und das Blut begann in
seinen Ohren zu sausen. Heftig wandte er sich um und eilte die
Treppe hinunter.
Sie folgte ihm langsam. »Man könnte meinen, Sie haben Angst vor
mir, Eric.«
Genau das, dachte er.
»Kommen Sie, lassen Sie uns ein Glas miteinander trinken, und dann
fahre ich Sie zu Ihrem Logis.«
Er zögerte. Emily blickte nach ihm zurück. Sie stand auf der
Schwelle zum Salon, und das weiche Licht des Raumes zauberte
Schatten über ihre Gestalt. Die schlanke Kurve ihres Halses, das
Strahlen der Augen; er konnte – seinen Blick nicht
abwenden.
»Kommen Sie, Eric, Sie haben unsere Gastfreundschaft bisher nur
sehr wenig in Anspruch genommen.«
»Ein Glas, okay.«
Sie trat zur Bar. »Was möchten Sie?«
»Gin Tonic.«
Er sah sich in dem großen, elegant, aber ziemlich düster
eingerichteten Raum mit den schweren, dunklen Möbeln um, während
Emily die Drinks mixte. Die Fenster waren von samtenen, purpurnen
Vorhängen verdeckt, die den Raum gegen die Welt abschotteten. Eine
leise Ahnung begann ihn zu beschleichen von der Einsamkeit, die
diese Frau zuweilen empfinden mußte, wenn sie hier allein saß, so
wie heute Abend.
»Sind Sie nie auf den Gedanken gekommen, wieder zu heiraten?«
fragte er, als er ihr seinen Drink abnahm.
»Setzen wir uns?« Sie glitt in einen tiefen Sessel nahe beim Feuer,
legte langsam ihr rechtes Bein über das linke; das knöchellange, an
den Seiten geschlitzte Kleid gestattete für einen Moment den Blick
auf ihre vollkommen geformten schlanken Beine, dann sank der
schimmernde Stoff wieder verhüllend nieder. Hinter Erics Augen
begann es zu brennen. Sie lächelte, schob ihr Haar mit einer
anmutigen Geste zurück und hielt ihr Glas gegen die Flammen,
studierte die Tiefen der bronzefarbenen Flüssigkeit. »Warum fragen
Sie mich das?«
Er mußte sich räuspern. »Ich ... stellte Sie mir gerade vor, wie
Sie hier sitzen, allein mit Ihren Gedanken, Ihren Sorgen und
Wünschen.«
»Und mit meinen Rechnungen.« Sie nickte zu einem kleinen Tisch hin,
der, wie Eric jetzt sah, ganz mit Papieren übersät war. Sie
richtete sich auf und stützte den Rücken gegen die Lehne ihres
hohen Sessels, als wollte sie so ihr Rückgrat stärken. Emily war
beherrscht wie gewöhnlich, ein wenig kühl und sehr
vernünftig.
»Die Pferdezucht, Eric, ist kein einträgliches Geschäft. Die
Steuern sind erdrückend, und Sie wissen, wie selten es gelingt, ein
Pferd aufzuziehen, das durch seine Leistungen wirklich Geld
einbringt. Der Preis für Pferde, selbst Pferde wie die unseren,
fällt, während die Kosten steigen; Kosten für Futter, für den
Tierarzt, für die Ausbildung der Pferde...; wir finanzieren uns
durch die Rinder und Schafe, durch den Holzhandel und etwas
Landwirtschaft. Aber es gibt hier keine großen zusammenhängenden
Ackerflächen, wie Sie es aus England kennen. Das war immer der
Fluch der Schotten. Es gibt hier einfach zuviel Wasser und zu viele
Felsen.« Sie nippte an ihrem Glas. »Es braucht einen großen
Angestelltenstab, um ein Anwesen wie Sunrise in Gang zu halten; ich
mußte kürzlich sogar dazu übergehen, die Bewirtschaftung mit
Leiharbeitern und nur wenigen Festangestellten zu betreiben. Jetzt
werden uns die Cochans noch mehr Ärger bereiten können, aber ich
hatte keine andere Wahl.«
»Cochans?« fragte Eric und erinnerte sich an das, was Claire ihm
erzählt hatte.
»Sie haben das Land im Norden, über unserem, seit einigen Monaten
gepachtet. Seither gibt es immer wieder Unfrieden. Immer wieder
fehlen einige Schafe oder ein paar Kälber. Unsere Wächter können ja
nicht überall sein, und seit ich das Personal einschränken mußte,
sind sie überlastet, besonders nachts.«
»Sie meinen, die Cochans bestehlen Sie?« Dann hielt sich die
Familie Cochan jedenfalls nicht in dem Maße für sich, wie Claire
glaubte.
»Haben Sie eine andere Erklärung? Wir haben früher auch ab und an
mal ein Tier verloren, aber durch Unfälle – wir fanden es dann
irgendwann in einer Schlucht, oder den von Wildkatzen angebissenen
Kadaver; doch seit die Cochans hier sind, sind es keine
vereinzelten Verluste mehr.«
»Haben Sie nicht versucht, etwas dagegen zu unternehmen? Haben Sie
nicht die Polizei verständigt?«
»Gewiß doch. Die nächste Polizeistelle ist aber an die zwanzig
Meilen von hier entfernt, und bevor es denen gelungen war, einen
Mann für eine solche >Kleinigkeit< abzustellen, war auf dem
Hof der Cochans nichts mehr zu entdecken, was eigentlich zu Sunrise
gehörte. Ich vermute, sie schaffen die Tiere gleich in der Nacht
weg und verkaufen sie irgendwo, oder sie schlachten sie und
verkaufen das Fleisch oder verbrauchen es selbst. Aber ich habe
keine Beweise. Das wurde mir sehr deutlich zu verstehen gegeben;
ebenso, daß ich schon etwas mehr in der Hand haben müßte, damit
noch einmal ein Beamter hier herauskommt. Wir können uns solche
Verluste wirklich nicht leisten, Eric. Kürzlich verschwand ein
Bullenkalb, auf das ich große Hoffnungen als Zuchtbulle setzte –
einfach weg, und ich konnte nicht das Geringste tun: die Polizei
weigerte sich, mir noch einmal zu helfen, und die Cochans, ganz
beleidigte Unschuld, erwirkten sofort eine Verfügung, die mir
verbietet, ihr Land zu betreten.«
»Das klingt nach einer verdammt ernsten Sache.«
»Das ist es. Solange sie nicht auf frischer Tat erwischt werden,
habe ich nicht das Geringste gegen sie in der Hand. Und wie soll
das jemals gelingen, wenn sie immer gerade an einer Stelle
zuschlagen, die unbewacht ist?«
Eric stand auf und ging mit nachdenklich gesenktem Kopf und in die
Hosentaschen vergrabenen Händen vor dem Kamin auf und ab.
»Warum bringen Sie die Rinder und die Schafe nicht in den Stall,
wenigstens nachts? Er steht ja sowieso leer.«
»Oh, sie haben ihre Scheunen draußen; aber im Sommer lassen wir sie
nachts laufen.«
»Um Heu zu sparen?«
Sie wich seinem Blick aus. »Everett hat es immer so
gehalten.«
»Sie sollten es aber doch tun. Die Männer, die Wächter, können mit
ihren Hunden nachts im Stall bleiben und hätten die Übersicht über
die ganze Herde. Emily, selbst wenn Sie zum Winter Heu dazu kaufen
müßten – denken Sie nicht, daß das besser als der andauernde
Verlust von Tieren ist?«
Sie zögerte und senkte nachdenklich den Kopf; dann sah sie ihm ins
Gesicht. »Gut, ich werde das veranlassen. – Eric, sagen Sie Vater
niemals etwas von diesem Gespräch zwischen uns. Er weiß nichts vom
Verschwinden der Tiere, es würde ihn zu sehr aufregen. Er hat schon
einen Hirnschlag hinter sich; ich weiß nicht, was ein Ärgernis wie
dieses ihm antun würde. Wollen Sie mir das versprechen?«
»Natürlich.« Alle Last lag allein auf ihren Schultern. Sie konnte
nicht einmal mit Grandpa darüber sprechen und Louise ... Louise
wußte. Ihr hatte sich Emily offenbar anvertraut, aber konnte eine
Fünfzehnjährige eine Hilfe sein? Vielleicht machte sie ihrer Mutter
insgeheim sogar Vorwürfe, weil sie sie mit ihren Sorgen
belastete.
Emily sagte plötzlich hitzig: »Ja, ich werde es
veranlassen!
– Aber es ärgert mich! Und wie sehr es mich ärgert! Ich habe einen
solchen Ärger damit, daß ich nachts oft nicht schlafen kann, und
nun habe ich Verluste gehabt und werde noch weitere durch das Heu
haben, während diese Bande frech daherkommt und mir mein Vieh
stiehlt. Wenn ich's doch nur beweisen könnte, daß sie es
sind!«
Eben. Das war der Punkt. Und dieser Punkt ging ihn überhaupt nichts
an. Er war engagiert worden, um sich um Solitaire zu kümmern, und
nicht, um die übrigen Probleme des Gestüts zu lösen. Und doch
beschäftigte sich sein Geist bereits lebhaft mit dieser Situation.
Das also hatte Emily gemeint, als sie am ersten Tag gesagt hatte,
die Welt hier oben sei alles andere als harmonisch, und er dachte
wieder an Louises zornige Worte: »Was kann gut
sein, was von denen da oben kommt?« Wolf. Gehörte Wolf
dorthin, dann benutzten sie ihn vielleicht dazu, um ein paar Schafe
von Emilys Herde abzusondern und zu ihrem Gebiet zu treiben,
benutzten diesen feinen, grundanständigen Hund für ihre
Schurkereien. Ihm wurde schlecht vor Wut, er ballte die Fäuste,
bezähmte sich mühsam. Es geht dich nichts
an, sagte er sich. Es ist nicht deine
Sache. Emily hielt sein Schweigen offenbar für Verlegenheit
oder Desinteresse; sie fuhr ruhiger fort: »Eigentlich ist es nicht
so arg. Oft, wenn ich vom Verlust mehrerer Tiere erfahre, tauchen
sie nach wenigen Tagen wieder auf. Ich finde das
merkwürdig.«
»Ja, scheint mir auch so.« Diese Bemerkung, die darauf gerichtet
war, mehr von diesen Vorkommnissen zu erfahren, erreichte gerade
das Gegenteil. Emily fuhr in dem leichten Konversationston, in dem
das Gespräch begonnen hatte, fort: »Hinzu kommt in unseren Kreisen,
daß man nach außen glänzen muß – das bedeutet, einen Wagen wie den
meinen zu fahren, es bedeutet, stets eine tadellose Ausrüstung zu
haben, und ebenso, niemals in mehrfach getragener Kleidung auf
einer Reitsportveranstaltung zu erscheinen; schließlich steht der
Ruf der Familie auf dem Spiel, und an dem Ruf hängt auch das
Ansehen unserer Pferde. So ist das in der HighSociety des
Pferdesports, Eric. Hinter den Kulissen sieht es oft anders aus als
an der glanzvollen Oberfläche.«
»Bei Turner scheint das aber anders zu sein.«
»Sir Simon hat sich in den oberen Pferdesportkreisen einen Namen
gemacht durch seine reiterlichen Leistungen. Darüber knüpft er
heute jede Beziehung, die ihm erfolgversprechend erscheint, und er
hat inzwischen durch sein Erbe ein gewaltiges Vermögen im Rücken.
Keiner der Fargus' hat jemals wirklich viel Geld gehabt; und keiner
von ihnen war jemals ein herausragender Reiter. Der Unfall meines
Mannes ist ein Beleg dafür. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt,
ein Pferd zu reiten, das einfach zu hitzig für ihn war, und das ist
ihm zum Verhängnis geworden.« Sie schwieg und schwenkte ihr Glas,
starrte lange hinein. »Everett«, sagte sie dann weich.
Eric erwartete eigentlich, daß sie nun über ihren Mann sprechen
würde, über die Hoffnungen und Träume, die sie miteinander geteilt
haben mußten, und über das Hineingeschleudertwerden in die harte
Realität, der sie sich nach seinem Ableben hatte stellen müssen,
aber sie sagte nur: »Wir haben unseren Leumund über eine
außergewöhnliche und wertvolle Blutlinie erlangt, und dieser
Leumund darf nicht durch Schäbigkeit besudelt werden. Und das geht
ins Geld.« Sie blickte ihn an und strich sich eine kleine Locke aus
der Stirn. »Solitaire ist sehr wichtig für uns. Everett erwarb sie
als Fohlen – ich glaube, ich erwähnte das noch nicht. Als
ausgewachsenes, ausgebildetes Pferd hätten wir sie uns nie leisten
können. Pferde wie sie werden noch immer gewissermaßen mit Gold
aufgewogen. Everetts Hoffnung ging dahin, daß eine Stute mit einem
so reinen Stammbaum, einer so großartigen Veranlagung wie
Solitaire, im Verein mit Excaliburs Abstammung, unseren
Blutbestand, und damit die Absatzmöglichkeiten für unsere Pferde,
verbessern würde. Und jetzt, da sie endlich das Alter erreicht hat,
um ein Fohlen zu empfangen, muß dieses Unglück geschehen. Sie
wissen ja, es ist die Stute, die das Fohlen erzieht.« Sie trank ihr
Glas aus. »Läßt sich die Stute nicht berühren, hält es das Fohlen
ebenso, weil es das Verhalten der Mutter nachahmt. Darum ist es
wichtig, daß Solitaire so bald wie möglich geholfen wird, daß sie
wieder zu dem fügsamen Geschöpf wird, das sie einmal war.« Ihr Atem
wurde für eine Sekunde tief, angstvoll, sie biß sich auf die Lippen
und beherrschte sich. »Sie wird bald wieder rossig werden«, fügte
sie hinzu.
Auch Eric leerte sein Glas. »Ich verstehe«, sagte er langsam.
Tatsächlich beurteilte er Emily Fargus nach diesem Gespräch anders.
Nicht persönlicher Ehrgeiz trieb sie also, sondern schlichte
wirtschaftliche Notwendigkeit; und diese Notwendigkeit war
entstanden, um den Ruf der Familie zu wahren, koste es, was es
wolle. Er konnte noch immer nicht gutheißen, daß sie alles für das
Erreichen ihres Ziels tat; aber er konnte es besser nachvollziehen,
und in gewisser Weise bewunderte er sie. Schließlich war sie nur
angeheiratet; nach dem Tod ihres Mannes hätte sie ihre Tochter
nehmen und sich zurückziehen, hätte Granpa Fargus alles überlassen
können. Aber sie hatte den Kampf aufgenommen. Sie versuchte, den
Traum Everett Fargus' Wirklichkeit werden zu lassen.
»Sie müssen Ihren Mann sehr geliebt haben«, sagte er weich, wohl
wissend, daß er sich einmal mehr auf gefährlichen Grund
begab.
»Weil ich sein Lebenswerk gegen alle Widerstände fortführe, meinen
Sie das?«
»Ja«, antwortete er und beobachtete ihr Gesicht. Die feinen Brauen
stießen kurz zusammen, da war Schmerz unter dem Schatten der langen
Wimpern auf ihrem Gesicht. Als sie ihn schließlich anblickte, war
ihr Lächeln ein wenig steif. »Wir hatten nur ein Glas vereinbart,
aber ich habe das Bedürfnis nach einem zweiten. Sie
auch?«
Ohne zu zögern reichte er ihr sein Glas.
»Das gleiche?«
»Was trinken Sie?«
»Malzwhisky auf zerstoßenem Eis mit einem Schuß
Orangensaft.«
»Vielleicht sollte ich das mal versuchen.«
»Gern.«
Sie kam mit den beiden Gläsern zurück zu ihrem Platz am Kamin,
reichte ihm seines und setzte sich. Nachdenklich blickte sie in die
Flammen. Sie trank einen Schluck, schwenkte ihr Glas. Dann hob sie
es an die Lippen und trank es zur Hälfte aus. »Wissen Sie, als ich
Everett kennenlernte, war ich wie geblendet. Er war nicht nur ein
sehr gutaussehender Mann; er war voller Humor und Lebensfreude,
geistreich, und so weltgewandt. Sein Charme hätte für zwei
gereicht. Und als er mich nach Sunrise brachte, da war es wie ...«;
sie stockte, starrte in die Flammen für eine lange Zeit, und Eric
störte sie nicht. Er hatte früh gelernt, daß der, der selbst gern
spricht, nichts erfährt. Schweigend nippte er an seinem Glas, und
schließlich fuhr Emily fort: »Sunrise, und diese ganze Landschaft
hier ... es war wie etwas, das ich immer haben wollte. Nach Sunrise
zu kommen, war wie ... wie zu einem Ort zurückzukommen, nach dem
ich mich immer gesehnt hatte – ohne ihn je zuvor gesehen zu haben.
– Das ist verrückt, nicht?«
Eric stellte sein Glas hin und sah ihr direkt in die Augen. »Das
finde ich überhaupt nicht«, sagte er ruhig. Er hatte am Morgen
dasselbe empfunden: heimgekehrt zu sein in eine Landschaft, die
immer nach ihm gerufen hatte.
»So ist es also nicht nur wegen Everett, daß Sie die harte Arbeit
auf sich nehmen?«
»Es sieht so aus. Bis heute Abend ist mir das nie auch nur
annähernd klar gewesen. – Sie sind ein guter Zuhörer, Eric. Gute
Zuhörer bringen Menschen zum Sprechen. Und im Sprechen, heißt es,
arbeitet der Geist sich aus.«
Er schwieg und spielte mit seinem leeren Glas.
»Möchten Sie noch etwas trinken?«
»Nein ... ich sollte gehen.«
Sie erhob sich geschmeidig, nahm ihm sein Glas ab und trug es zur
Bar. »Ich fahre Sie.«
»Das ist nicht nötig. Es ist ja nicht so weit.«
»Ich möchte aber.«
Er half ihr in ihr leichtes Cape, und fühlte die Wärme ihrer
Schultern unter seinen Handflächen und die Versuchung, diese
unglaublich feine Haut zu berühren. Emily hatte sein Zaudern
bemerkt; sie lehnte ihren Rücken an seine Brust, leicht wie eine
Feder war die Berührung, und zugleich unerhört aufreizend. »Warum
bleibst du nicht hier heute Nacht«, flüsterte sie kaum hörbar. »Es
könnte so schön sein, ich weiß es. Niemand wird uns stören, es wird
nur dich und mich geben ...« Sie drehte sich um und berührte mit
einer Fingerkuppe die Schwellung um sein Auge.
Sein Atem war verhalten vor Spannung, aber seine Hand war ganz
ruhig, als er ihre leicht ergriff und sie sanft an seine Lippen
führte. Nur sein warmer Atem streifte über die dünne Haut ihres
Handrückens. »Sie sind eine sehr attraktive Frau, Emily.« Er sah
sie beständig an, und sie las in diesem ruhigen Blick, daß er ihr
nicht verziehen hatte.
»Und Sie sind – ein vollendeter Gentleman.«
Der Wagen glitt geschmeidig über die vollkommen
dunkle Straße. »Wo ist Ihr Logis?«
»Das dritte Haus auf der linken Seite.«
Eric ließ den Sicherheitsgurt zurückschnellen und war im
Begriff auszusteigen, als er Emilys warme Hand einmal
mehr
auf seinem Arm fühlte. »Eric, ich war heftig, als ich Sie
mit
Louise draußen antraf. Ich wußte nicht, worum es ging,
und
ich war eifersüchtig.« Die Hand drückte fester zu. »In
gewisser Weise erinnern Sie mich an Everett. Aber Sie
besitzen mehr Kraft ... ich weiß nicht recht, wie ich es
nennen soll.«
Er kauerte auf dem Sitz und fühlte sich unbehaglich. »Sie sind ein
Mann, wenn ich je einen gesehen habe.
Verzeihen Sie, daß ich schwach geworden bin.«
Da öffnete sich die Tür des beschaulichen Cottage, und im
herausströmenden Licht zeichnete sich Claires kleine
Gestalt
ab: »Gee, Eric, ich dachte schon, Sie kämen nie mehr heim!« Claire
eilte die Stufen hinunter, winkte Emily zu, wünschte
ihr flüchtig einen guten Abend und ergriff Erics Arm, zog
ihn
geradezu aus dem Wagen.
»Sie werden müde sein, es war ein anstrengender Tag für
Sie, mein Junge, kommen Sie, ich koche Ihnen eine Tasse
Tee, und einen guten Schuß Whisky habe ich auch für Sie.
Und wie wäre es mit einem Stück Pie? Es ist ganz frisch,
erst
von heute Abend.«
Emily zog die Beifahrertür sacht ins Schloß. Eric, schon
halb die Treppe hinauf, blickte zu ihr zurück, und sie
wußte
in diesem Augenblick, daß sie verloren hatte, was hätte
sein
können. Sie hob tapfer die Hand, und er winkte zurück.
Die
Tür schloß sich hinter ihm und ließ sie allein im Dunkel
ihres
Wagens.
Sie grub die Zähne in die Unterlippe. Die Jahre hatten
Emily hart gegen sich selbst gemacht, aber nun mußte sie
doch den Kopf auf das Lenkrad legen. Dann aber erhob sich
ihr an Kampf und Taktik gewöhnter Geist. Sie ließ den
Motor
wieder an und legte den Gang ein. Sie begann, einen Plan
zu
schmieden, und fuhr leichteren Herzens in ihre Einsamkeit
zurück.