8
Das Sonnenlicht flutete in staubigen Bahnen durch die hohen Fenster und die offene Flügeltür in den Stall. Neugierige Köpfe schoben sich zu beiden Seiten über die Boxentüren. Eric nahm langsam
die Parade ab. Ohne Zweifel, diese Herde war eine Ansammlung von Juwelen. Er konnte sich kaum satt sehen. Aber es war Zeit, Solitaires Bekanntschaft zu machen.
Über der dritten Box auf der linken Seite erschien kein Pferdekopf. Eric trat langsam und erwartungsvoll näher. »Da bist du also endlich, Solitaire«, sagte er leise. Die Stute warf bereits bei der ersten Silbe den Kopf hoch und sprang mit einem weiten Satz an die gegenüberliegende Wand. Sie zitterte. Eric verhielt sich ruhig und betrachtete sie durch die über der Futtermulde angebrachten Gitterstäbe.
Solitaire trug ihren Namen zu Recht: Sie war wirklich einzigartig. Sie war kein Englisches Vollblut, sondern rein arabisch gezogen, schön wie ein Traum. Das staubdurchwirkte Licht überfloß sie und ließ ihr glattes, glänzendes Fell in einem anthrazitfarbenen Ton aufleuchten. Wie Excalibur war sie ohne das geringste Abzeichen. Mähne und Schweif waren von einem schimmernden Silber. Doch der Eindruck von überwältigender Schönheit wurde verdorben durch den krampfhaft hochgebogenen Kopf und die wie irre starrenden Augen, die das Weiße zeigten. Hätte er es nicht besser gewußt, wäre Eric auf die Diagnose Tetanus verfallen. Bei dieser schrecklichen Krankheit verkrampfen sich nach und nach sämtliche Muskelpartien, die Sinnesorgane werden überempfindlich, ein Lichtstrahl, ein Laut genügt dann schon, um das hilflose Geschöpf in veitstanzähnliche Krämpfe zu werfen.
Als er wieder zu ihr sprach, drückte sie sich noch enger an die Wand und versuchte, daran hochzuklettern. Hilflos beobachtete er sie. Er fühlte ihre Angst so deutlich, als halte er ihr bloßes zitterndes Herz in seinen Händen, aber er fand keinen Weg zu ihr durch das Dickicht dieser Angst. Sein suchender, tastender Geist gelangte mühsam an die Oberfläche ihrer inneren Welt und stieß schon dort gegen undurchdringliche spiegelnde Wände, die die Furcht vor ihm einander zuwarfen und sie bis ins Endlose vervielfachten.
Mit einem eisigen Gefühl im Magen wandte er sich um und verließ den Stall. Es war offensichtlich, daß sie nicht einmal den Klang einer menschlichen Stimme ertragen konnte. Warum hatte Emily auch dieses Phänomen für sich behalten? Allmählich sollte er sich an diese Geheimnistuerei gewöhnt haben. Jetzt war es wichtiger, über dieses noch nie dagewesene Phänomen nachzudenken. Langsam beruhigte Solitaire sich wieder, das Graben ihrer Hufe an der Wand hörte auf, und die Eismasse in seinem Magen begann zu schmelzen.
Wenn er nun schwieg, »Pferd spielte«, sich ihr näherte, wie Pferde sich einander nähern? Er drehte sich um und ging äußerst behutsam auf die Box zu. Nervös warf sie den Kopf hoch und wich zurück zur Wand. Ihre Ohren waren flach an den Kopf gepreßt, die Nüstern blutrot. Er zwang sich dazu, es zu ignorieren. Als er sich am Türriegel zu schaffen machte, stampfte sie, steilte und schlug mit den Hinterläufen gegen die Wand.
»Master Eric?« Edwards kurze, gedrungene Gestalt kam über die Stallgasse eilig auf ihn zu. »Sie wollen doch nicht in die Box gehen?«
»Ruhe, um Himmels willen! Sehen Sie, was Sie angerichtet haben!« Er packte Edward am Ärmel und zog ihn ins Freie. Die Schläge der Stute brachten den Stall zum Vibrieren und verursachten zunehmend Unruhe unter den übrigen Stuten.
»Kein Wort in Solitaires Nähe!« fauchte Eric wütend und lauschte angstvoll nach dem schnaubenden und wiehernden Chor hinter ihnen. Excalibur jagte in weiten Kreisen auf der Koppel umher, wie er es tat, wenn er seine Stuten zusammentrieb. Ab und zu blieb er mit einem Ruck stehen und wieherte gebieterisch, drängte gegen die Holzbohlen und stieg so hoch, als wolle er versuchen, sich hinüberzuziehen.
Eric schloß schnell die Stalltüren und zog Edward weiter, bis sie außer Hörweite waren. Vom Haus her kamen Emily, Sir Simon und Grandpa auf sie zu, beunruhigt von dem Lärm.
»Sie ist nicht nur eine Gefahr für sich selbst«, murmelte Eric fassungslos. »Die mischt die ganze Herde auf. Das wird das erste sein, was wir tun müssen, Edward – sie isolieren. Ich will lieber nicht darüber nachdenken, was geschieht, wenn wir es nicht tun.« Vor seinem geistigen Auge zogen schreckliche Bilder vorüber, während er sprach – Stuten außer Rand und Band, die mit allen Kräften versuchten, aus der erzwungenen Enge auszubrechen, sich dabei tiefe Fleischwunden zuzogen und zerschnittene Fesseln, wenn sie sich an die Gitter der Futtermulden hängten, um nach draußen zu gelangen, und die kleinen hilflosen Fohlen, angesteckt von der Hysterie ihrer Mütter, unter deren schlagende Hufe sie gerieten, der rasende Hengst außer Kontrolle. Eine Stampede auf offenem Feld ist schlimm genug; in einem Stall ist sie tödlich. Er hatte es einmal erlebt.
»Bin ich froh, daß ich Sie daran hindern konnte, in die Box zu gehen; die hätte Sie zertreten. Es wird immer schlimmer mit ihr. Sprechen schien ihr nicht soviel auszumachen. Sie wurde nervös beim Klang von Stimmen, überhaupt bei allem, was mit Menschen zu tun hat, aber eklig – richtig eklig, meine ich – war sie nur, wenn man versuchte, sie anzufassen. Master Eric, so wie sie jetzt ist, glauben Sie mir – dieses Pferd taugt nur noch zum Erschießen«, sagte Edward. »Sie war wirklich fein als Fohlen – sanft wie ein Lämmchen. Aber Sie sehen ja, wie sie sich aufführt.«
Ganz offensichtlich war Solitaire ein sehr ernster Fall. Jedes andere Pferd hatte er über kurz oder lang durch seine Stimme erreicht, hatte damit eine Basis schaffen können, auf der allmählich Vertrauen gewachsen war. Solitaire jedoch hatte ihn von vornherein dieses Werkzeugs beraubt.
Emily hatte im Näherkommen Edwards Worte gehört. Sie hatte die Verschlimmerung des Zustands von Solitaire vor ganz kurzer Zeit erst selbst entsetzt erlebt, als sie die Tür hinter ihr geschlossen und zu ihr gesprochen hatte. Sie wußte sehr genau, wovon Edward sprach. Angstvoll sah sie zu Eric auf. »Ist es so schlimm, wie er sagt, Eric? Bleibt nichts anderes?«
Ihre Augen waren weit und sehr dunkel. Er las darin den Kummer um das bildschöne und hoffnungsvolle Tier, und die Besorgnis um das Gestüt. Von Solitaire hing so vieles ab. Er biß die Zähne zusammen.
»Eric? Muß es wirklich sein? Bleibt kein anderer Weg? Sie haben sie jetzt gesehen, ich verlasse mich auf Ihre Entscheidung.«
Wenn nicht gerade auf diese Stute so große Hoffnungen für den Zuchtstamm gesetzt worden wären! Aber jedes einzelne Fohlen, das sie warf, würde genauso wild und menschenscheu werden wie sie selbst. Es ist die Stute, die das Fohlen erzieht.
Eric blickte zum Stall hinüber. Alles war jetzt wieder ruhig. Auch Excalibur hatte seine wilden Jagden eingestellt; aber er graste nicht, sondern stand hocherhobenen Hauptes dicht am Zaun und witterte mit geblähten Nüstern zu seinen Schutzbefohlenen hin.
»Die Stute war schließlich nicht von Anfang an so. Grundsätzlich hat sie einen guten Charakter. Ich weiß nicht, was mit ihr geschehen ist, aber kein Pferd wird wie sie, wenn es nicht schwer mißhandelt worden ist. Das ist offensichtlich in der Zeit geschehen, als sie von der Herde getrennt war.«
»Heißt das, Sie wollen es mit ihr
versuchen?!«
»Ja.«
»Oh, Eric!« Sie umarmte ihn ungestüm und preßte sich an
ihn. Er fühlte, daß sie zitterte, und sprach sehr nüchtern. »Zuerst müssen wir sie von den anderen trennen. Sie wird sich wahrscheinlich wie eine Wilde aufführen, aber wir können nicht die Gesundheit aller anderen um ihretwillen aufs Spiel setzen. Emily, besteht die Möglichkeit, ein paar der Stuten, die dieses Jahr kein Fohlen haben, von Solitaire entfernt hier beim Haus zu behalten?« Sehr sanft schob er sie dabei von sich und blickte zu Excalibur, um ihr die Möglichkeit zu geben, sich zu sammeln.
»Nun ... ja. Wir können die Stuten in den nächsten Stallgang bringen und die Zwischentür verriegeln. Aber was beabsichtigen Sie damit?«
»Zweierlei. Zum einen ist Solitaire dann nicht ganz verwaist. Sie wird die Nähe der anderen spüren, auch wenn sie nicht zu ihnen gelangen kann. Zum anderen halte ich es für gut, einige Reitpferde jederzeit greifbar zu haben. Falls wir die Herde noch einmal suchen müssen, können wir uns verteilen und werden sie so sicherlich schneller finden als mit dem Wagen. Überhaupt werden wir dadurch alle mehr Bewegungsfreiheit auf dem Gelände bekommen. Sind Sie damit einverstanden?«
»Natürlich!«
»Gut, dann wollen wir anfangen.«
Sie wählten Velvet, Garnet, Piquet, Peach, Celebration und
Margravine, legten ihnen Halfter um und führten sie in den zweiten Stallgang. Jede Stute erhielt noch ein wenig Hafer und Heu, um sie zu beschäftigen. Dann wurden die Türen und Fenster verschlossen, damit sie von dem zu erwartenden Spektakel so wenig wie möglich mitbekamen. Eric bat Edward, zur Sicherheit bei ihnen zu bleiben. »Sobald eine von ihnen anfängt, Mätzchen zu machen, beruhigen Sie sie. Ist mir egal, wie Sie es anstellen, aber seien Sie nicht grob, Edward, ja? – Wenn sie bocken und herauswollen, gehorchen sie nur dem Herdentrieb.«
»Ich passe auf, Master Eric.«
»Gut, gut. Wir werden jetzt erst mal Excalibur aus der Koppel
lassen.« Eric öffnete das Tor und blieb stehen.
Excalibur trabte mit hohen federnden Sprüngen auf ihn zu, bis er unvermittelt vor ihm stand. Emily, die sich dicht an Erics Seite gehalten hatte, wich hinter den Schutz des hohen Zaunes zurück, als der Hengst sich unbeirrt in gleichmäßigem Tempo näherte.
»Ich verstehe nicht, wie Sie seine Nähe aushalten können«, wisperte sie aus ihrem Versteck. »Er ist groß wie ein Haus! So gewaltig! Ein Hufschlag, und Sie sind nicht mehr!«
Eric strich lächelnd über das von vielen kleinen Narben gezeichnete Fell des Roten. »Höre, Majestät«, sagte er leise. »Ich stelle mir das Ganze nicht gar so kompliziert vor. Wir lassen die Stuten jetzt aus den Boxen – nicht alle, weil wir einige von ihnen brauchen, also mußt du dich nicht sorgen. Resistance wird die übrigen führen, und du treibst sie von hinten. Und«, er hob eine Hand, und der Hengst spitzte die Ohren noch straffer, »du sorgst dafür, daß es keine Rangelei gibt. Wir wollen keine Aufregung. Wenn ihr aus diesem Tal heraus seid, gehören sie wieder dir. Doch solange ihr hier seid, trage auch ich Verantwortung.« Eric legte die flache Hand auf die Stirn des Hengstes, als etwas wie eine kalte Hand ihn plötzlich zu greifen schien, etwas wie eine Vorahnung. Er schauderte, und das Schaudern wiederholte sich unter dem dünnen roten Fell des Hengstes und ließ die Hufe unruhig zucken.
»Also los, wir haben keine Zeit zu verlieren. –
Emily, würden Sie Resistance aus der Box lassen?«
Eine nach der anderen traten die Stuten auf die Stallgasse, wurden
zum Ausgang geleitet, wo sie einen Augenblick stehenblieben,
geblendet vom hellen Tageslicht, um dann zögernd, als sollten sie
über eine Verladerampe mit dem Kopf voran gehen, auf den Hof zu
treten. Excalibur schien überall zugleich zu sein. Er schob und
drängte sie in einem dichten Pulk hinter Resistance zusammen, die
ihre vorderste Position mit Schnappen und Schlagen gegen jede Stute
verteidigte, die versuchte, sich vor sie zu setzen. Es gab
keinerlei Aufregung. Verließ eine Stute den Stall, wurde sie von
Excalibur in Empfang genommen, bevor sie sich noch recht orientiert
hatte, zu den anderen geschoben und mit einem kleinen mahnenden Biß
in Hals oder Schenkel daran erinnert, wer ihr Herr war. In weniger
als zehn Minuten war die Herde versammelt wie ein Regiment,
ordentlich aufgereiht, aufmerksam und diszipliniert.
»Türen schließen!« kommandierte Eric. Er hörte bereits, daß
Solitaire in ihrer Box zu rascheln begann, ahnend, daß sie
zurückgelassen werden sollte.
»Das nenne ich eine großartige Arbeit von Mann und Hengst«,
murmelte Grandpa. Seine Hand legte sich auf Erics
Schulter.
»Nicht doch, Sir. Excalibur tut ja die ganze Arbeit. Er und
Resistance.«
»Nay, junger Mann. Es ist das erste Mal, und es schmerzt mich, das
zugeben zu müssen, daß die Stuten so geordnet den Stall verlassen.
Normalerweise war's so was wie ein Rodeo. Excaliburs Vorgänger
waren ihm ähnlich; ich hab nie mit ihnen fertig werden können, und
auch Everett nicht, als er meinen Platz einnahm. Und mit dem Roten
hatte er's ganz und gar nicht, da hat Louise schon recht. – Er
macht jetzt vielleicht die Arbeit, junger Mann, aber Sie sind's,
der ihn leitet. Hätte nicht geglaubt, daß ich so was auf meine
alten Tage noch mal zu sehen kriege.«
Grandpa wich zurück, als der Hengst einen kurzen, steilenden Zirkel
auf den Pflastersteinen beschrieb und auf sie zusegelte. Er blieb
in Erics Nähe stehen und wandte ihm den Kopf zu. Seine Flanken
bebten nach der schweren Arbeit. Er senkte den Kopf und scharrte
heftig auf dem Pflaster. – Es war die stolze Art eines Wildlings,
um etwas zu bitten.
Eric mußte lächeln, trat die zwei Schritte näher und strich sanft
über den mächtigen Hals. Der Hengst schnaubte tief. »Das gefällt
dir, nicht? Ich glaube, du hast das noch lieber als Hafer.« Ohne
nachzudenken, zog er sein Flanellhemd aus und rieb Excaliburs
Gesicht und Hals mit dem weichen Stoff. Der Hengst schnaufte leise
und streckte sich so wohlig, daß seine mächtige Gestalt die
schwellenden Rundungen verlor.
»Wenn wir mal ein wenig Zeit haben, dann werde ich dich überall
putzen – mit einer ganz weichen Bürste, und danach werde ich dich
mit einem weichen Tuch wie diesem hier abreiben, bis dein Fell
glänzt, daß man sich darin spiegeln kann. Aber jetzt mußt du gehen,
mein Junge. Deine kleine Verlobte würde buchstäblich die Pferde
scheu machen, wenn ihr bleibt.« Er gab ihm einen kleinen
auffordernden Klaps auf die Kruppe.
Excalibur stand, ohne sich zu rühren.
Eric kannte diese stoische Haltung, hinter der sich eine Bitte
verbarg, die aus Stolz nicht deutlicher geäußert wurde.
»Also gut.« Er zog sich mühsam auf den hohen Rücken. Sämtliche
Muskeln protestierten, und er mußte heftig die Zähne zusammen
beißen. Sacht berührte er Excaliburs Hals. »Zurück ins Paradies,
mein Junge.«
Dieser Ritt aus dem Tal heraus war immerhin um einiges sanfter als
der, der die Stuten eingebracht hatte, aber doch noch schlimm
genug: Sobald eine Stute ausscherte, war Excalibur hinter ihr her,
bockend, bäumend, schlagend, beißend. Eric hatte nichts anderes
erwartet. Der Hengst erfüllte nur die Aufgabe, die ihm die Natur
vom Beginn seines Lebens an gegeben hatte. Als sie schließlich in
das dritte Tal hinabgetaucht waren, hob er das rechte Bein über den
Widerrist, als Excalibur sich endlich zu Schrittempo gemäßigt
hatte, und ließ sich von dem mächtigen Hengst heruntergleiten.
Excalibur hatte ihn so leicht getragen wie zuvor, so, als fühle er
sein Gewicht gar nicht; aber er blieb sofort stehen und sah zu Eric
zurück, der sich mühsam aus dem hohen Gras aufrappelte. »Du mußt
jetzt ohne mich weitergehen.«
Oben auf dem Hügel hielt der Geländewagen der Fargus', ein Arm
winkte aus dem offenen Fenster, Emilys Stimme klang zu ihnen
herunter: »Eric! Ich bin Ihnen nachgefahren, damit Sie nicht den
ganzen Weg zu Fuß zurückgehen müssen!« Excaliburs Nase stieß kurz
gegen seinen Arm, dann spannte sich der rote Pferdeleib und war in
zwei Atemzügen mitten unter seiner Herde, die er vehement über die
nächste Hügelkuppe trieb. Er selbst verhielt auf dem höchsten Grat,
bäumte sich auf, stieß ein kurzes dunkles Wiehern aus, wendete auf
der Hinterhand und verschwand hinter dem schroffen
Hügelkamm.
»Was für ein Pferd!« Eric atmete schwer, als er den Wagen
erreichte, der ihm über den allzu steilen Abhang nicht hatte
entgegenfahren können. Er fand sein Hemd auf dem Beifahrersitz, zog
es über und stopfte es in die enganliegenden Reithose. Er beeilte
sich damit, denn ihm war unbehaglich unter Emilys Blick.
»Sie haben ihn wirklich um den Finger gewickelt«, empfing sie ihn,
als er auf den Beifahrersitz glitt. »Es ist, als sei er ein
anderer. Wenn ich an früher denke –« Sie legte den Gang ein und
setzte den Wagen vorsichtig zurück. Der Boden war felsig
durchsetzt, so daß sie nicht gleich wenden konnte. Erst ein Stück
hügelabwärts kamen sie auf eine Lichtung, von wo aus sie im
Vorwärtsgang weiterfahren konnte.
»Sagen Sie, Eric, können Sie sich jedem Pferd so schnell nähern wie
Excalibur? Ich meine, er gab sich uns gegenüber immer so wild und
mißtrauisch, es war kaum ein Auskommen mit ihm.«
Eric schwieg. Wie sollte er ihr, ohne sie zu verletzen oder das
Ansehen ihres Mannes zu entehren, begreiflich machen, daß der
Hengst nur aufgrund der Vorurteile und des daraus resultierenden
Verhaltens so unnahbar erschienen war? Wie sollte er erklären, daß
das Tier heute gelernt hatte, daß Freundschaft mit Zweibeinern
möglich ist? – Denn dann müßte er auch erklären, daß ein freier
Hengst im allgemeinen keine Freunde hat – in dem Leben eines
solchen Hengstes gibt es Stuten und Fohlen, und sie sind ihm
untergeben: Er ist ihr Herrscher und Beschützer, er fordert und
nimmt. Aber was er erhält, ist nicht Freundschaft, sondern Demut
und Gehorsam. Und er gewährt mit all seiner Größe ganz
selbstverständlich den Schutz, den seine Kraft und seine
Intelligenz bieten können.
Eric schwankte einige Augenblicke zwischen Wahrheit und Diplomatie
und sagte schließlich: »Sehen Sie, Emily, Excalibur ist ein durch
und durch gesundes Pferd. Mit allen Schrecken, die ihm jemals hier
draußen begegnet sein mögen, konnte er dank dem fertig werden,
womit ihn seine Natur ausgestattet hat: Mut, Stärke,
Unerschrockenheit, die Bereitschaft zum Kämpfen,
Rücksichtlosigkeit, um sein Ziel zu erreichen. Dieses Pferd ruht in
sich selbst. Er vertraut auf sich. Ich ... ich will damit sagen,
daß gerade durch seine Furchtlosigkeit ein Band zwischen uns, ihm
und mir, geknüpft werden konnte. Angst erstickt und blendet.
Excalibur hat aber keine Angst, bis auf die eine; das sagte ich ja
vorhin schon. Er ist offen. Nicht erstickt, nicht
geblendet.«
»Aber Sie – hatten Sie denn keine Angst, als er vor Ihnen
herumwirbelte? Sie taten gerade das Gegenteil von dem, was jeder
getan hätte, den ich je mit Pferden erlebt habe. Einschließlich mir
selbst.«
»Ich bin ja beinah mein Leben lang mit schwierigen Pferden
umgegangen. Und Excalibur ist nicht eigentlich schwierig. Er ist
bloß – einschüchternd. Ich bin wahrscheinlich gegen einschüchternde
Eindrücke ziemlich abgestumpft.«
Sie lächelte und wandte ihm den Kopf zu. »Sie mögen alles mögliche
sein, Eric, aber abgestumpft sind Sie gewiß nicht.«
»Emily, Achtung! Da ist ein Zaun!« Er langte in die Mitte des
Wagens zwischen ihnen und riß die Handbremse hoch. Zitternd und
stuckernd stand der Wagen darauf eine Handbreit vor einem hohen
Drahtzaun, über dessen oberste Reihe Stacheldraht drohend blitzte.
Emily lehnte sich mit einem leisen Schreckenslaut in ihren Sitz
zurück, kuppelte und stellte den Motor ab. »Ich kenne diese Gegend
nicht sehr gut, jedenfalls nicht mit dem Wagen. Ich wußte nicht,
daß der Zaun so nahe war. Danke.«
»Ist das da drüben das Gebiet Ihrer Nachbarn? Der
Cochans?«
»Ja.«
Ein Drahtzaun bildete also die Grenze. Es konnte nicht schwierig
sein, ihn an einer Stelle zu durchschneiden, ein paar Tiere durch
die Lücke zu treiben, und dann den Draht zu erneuern, so daß kein
Loch zu sehen war.
»Hier sieht die Gegend auch nicht gerade einladend aus für einen
Wagen.« Eric musterte die dünne Erdschicht, die das aus Kalk
bestehende Skelett der Erde an vielen Stellen kaum zu verdecken
vermochte, die steil aufschießenden Felsformationen und die
vereinzelt stehenden knorrigen Kiefern, die windgekrümmt und
verschrumpelt waren und deren Nadeln borstig in das Licht stachen.
Kein guter Boden.
Emily startete den Wagen wieder. »Es gibt einen Weg entlang des
Zauns, er müßte ganz hier in der Nähe anfangen.« Sie fuhren dicht
am Zaun entlang, immer noch sehr vorsichtig, bis sich tatsächlich
etwas wie ein Weg vor ihnen öffnete, gerade breit genug für den
Wagen. Sie kamen schneller voran. »Als es hier noch ausreichend
Bäume gab, benutzten die Holzfäller diesen Weg mit ihren
Langholzwagen. Hier wächst alles viel langsamer als in
fruchtbareren Gegenden, sonst wäre er sicher schon überwuchert.
Eric, ich habe darüber nachgedacht, was Sie vorhin über die Angst
sagten. – Solitaire hat große Angst, nicht wahr?«
»Ich habe niemals ein Pferd gesehen, das so voller Angst war. Wenn
Sie nur die Stimme eines Menschen hört, scheint sie nahe daran, den
Verstand zu verlieren.«
»Das – es klingt, als wäre es das Beste für sie, sie ihr Leben lang
frei mit der Herde umherziehen zu lassen, fern von den Menschen.
Sich ihr niemals mehr zu nähern.«
»Es wäre die einfachste Lösung. Ihren Zuchtstamm aber, Emily – den
würde es zerstören.«
»Ja, ich weiß. Ich sagte Ihnen ja, Sie seien meine letzte Hoffnung.
Entweder können Sie ihr helfen, oder ich muß – ich muß es wirklich
tun lassen. Sie ist noch um so vieles schlimmer geworden
...«
»Edward sprach davon.«
»Vielleicht ist ihr Gehirn nicht ... richtig? Irgend so eine dieser
schrecklichen fortschreitenden Krankheiten?«
»Ich weiß es nicht, Emily, aber es gibt Möglichkeiten, das
herauszufinden; dazu müßte sie sich allerdings anfassen lassen ...
nun, notfalls müßte sie betäubt werden. Aber irgendwie glaube ich
nicht, daß dies die Fährte ist; ich hatte den Eindruck eines
hochintelligenten Tieres im vollen Besitz all seiner Kräfte –
zerfressen von Angst. Es muß eine Ursache außerhalb der Stute dafür
geben, und ich will diese Ursache finden. Wenn ich die Ursache
kenne, werde ich einen Weg finden, sie wieder zugänglich zu
machen.«
»Gott segne Sie, Eric«, sagte Emily leise.
Er räusperte sich verlegen und blickte aus dem Fenster zum Land der
Cochans, weil er fühlte, daß Emily ihn eindringlich und dankbar
ansah.
Er war gern bereit zu Freundlichkeit, Anstand, Respekt,
gegenseitiger Achtung; so wie es sich für ein gutes
Arbeitsverhältnis gehört. Doch zu mehr
war er nicht bereit.
Da wurde sein Blick plötzlich von einer der Kiefern gefesselt, die,
etwas üppiger als ihre Nachbarn, dicht am Zaun auf dem Land der
Cochans stand: Oben auf dem Baum lag, geschmeidig auf einem der
Äste, eine Gestalt. Ein Tier, eine Raubkatze? Nein, das konnte
nicht sein. Doch Eric konnte sich den Anblick des hingekauerten
Wesens dort im Schatten zunächst nicht anders erklären. Auf einmal
aber bewegte sich die rätselhafte Gestalt, und da sah er die lange
schwarze Mähne, das schmale Oval eines dunklen Gesichts, darin
seltsam intensive, dunkle Augen, die aufzuglühen schienen, als ihr
Blick seinen traf – vorüber war all dies in der Sekunde, die der
Wagen brauchte, um den Baum hinter sich zu lassen. Eric riß den
Kopf herum und starrte zurück. Eine junge Frau, ein Mädchen, lag da
auf dem raunen Ast der Kiefer, graziös und schön. Eine junge Frau
mit langen tiefdunklen Haaren – wie sie ihn angesehen hatte, als
der Wagen unter ihrem Ausguck entlanggerumpelt war!
»Haben Sie das gesehen?«
»Was denn?« fragte Emily.
»Da lag jemand auf einer der Kiefern!«
»Nein, ich habe nichts gesehen. Dieser Weg ist auch nicht gerade
leicht zu fahren.« Emily klang geistesabwesend, eine tiefe
Konzentrationsfalte war zwischen ihre feinen Brauen gegraben. »Da
war jemand auf einem Baum, sagen Sie?«
»Ja, drüben auf dem Cochan-Land, aber ganz dicht beim Zaun. Sie lag
da und sah zu uns herunter. Es wundert mich, daß Sie's nicht
bemerkt haben.«
Emily ging darauf nicht ein. »Sie?«
»Ja, es war eine junge Frau. Ein klein wenig älter als Louise
vielleicht.«
»Ich wußte nicht, daß die Cochans auch ein Mädchen haben. Ich habe
bei meinem einzigen Besuch dort nur«, sie schwieg kurz – und er
spürte, wie sehr sie die Erinnerung anwiderte – und fuhr dann ruhig
fort, »sogenannte – männliche – Familienangehörige gesehen. Ist ja
auch egal.« Ihre Stimme verhärtete sich. »Solange sie auf ihrem
Land bleibt, kann sie soviel auf Bäumen herumliegen, wie sie will.«
Sie schüttelte den Kopf. »Seien Sie freundlich, Eric, lassen Sie
uns das Thema wechseln.«