21

Der Weihnachtsmarkt von Kirkrose glich der kunstvollen Illustration eines Dickens-Romans. Eine dünne Schneeschicht überstäubte die Dächer der Häuser, die den Dorfplatz säumten, und

ebenso die kleinen Verkaufsbuden und die zwischen ihnen aufgestellten, mit Lichterketten und schlichtem Holzschmuck verzierten Tannen. Der warme Lichtschein ergoß sich über das Kopfsteinpflaster und ließ es feucht aufglänzen.

Es gab hier keine lärmende Tombola und auch keinen artig dienernden Weihnachtsmann. Karussells mit phantastisch angemalten Pferdchen oder Lokomotiven waren ebenso abwesend wie Schießstände oder Wurfbuden. In dieser Gegend Schottlands war alles unkompliziert und gediegen, im Einklang mit der Schlichtheit der Landbewohner.

Man konnte an den kleinen Buden Grillwürstchen bekommen, Liebesäpfel und rechteckige Lebkuchen, die sehr gut ohne zuckergußbunte Aufschriften wie »Mein Herz gehört nur dir« oder »Auf ewig die Deine« auskamen. Und es gab Punsch, Kaffee und den herrlichen starken Tee, mit einem Stückchen Kandis und einem Schuß dicker Sahne. Eric hielt sich an diesen Tee, während er an Claires Seite über den sanft erleuchteten Platz schlenderte. Es war ein Sonntag, aber bei seiner Arbeit machte das keinen Unterschied. Mit den Pferden mußte gearbeitet werden, und wenn die Tiere der Farmer krank wurden, war der Wochentag gleichgültig. Allerdings schien es ihm manchmal, als würden sie sich bevorzugt den Sonntag aussuchen, um sich Hüften auszurenken und akut lebensbedrohliche Koliken zu bekommen. Heute jedenfalls war es wieder so; und er fürchtete, ein Schluck von dem Glühwein, den Claire behaglich nippte, würde ihn umwerfen.

»Es ist alles so still hier, so friedlich«, sagte er verwundert. Gemeinhin mied er Weihnachtsmärkte, wie er alle Menschenansammlungen mied. In seiner Heimat hatte er sie manchmal aus der Ferne betrachtet und angesichts der schieren Masse der Besucher geschaudert. Hier waren auch viele Menschen, aber es gab nicht dieses Drängen und Stoßen, das an seinen Nerven zerrte. Hier ging ruhig jeder seiner Wege.

»Sicher. So ist's immer.« Claire blieb stehen, um die Auslage eines Mannes zu studieren, der Schuhe und andere Lederwaren feilbot. Sie wendete ein Paar weicher, mit Wolle gefütterter Fellschuhe hin und her. »Welche Schuhgröße haben Sie eigentlich?«

»Entschuldigung?«
»Sie haben wirklich kleine Füße für Ihre Länge. Hm.« Sie streifte einen sehr bequem aussehenden Sack von einem Schuh über ihre Hand und äugte abwägend von der Hand nach Erics Füßen. »Denken Sie, diese könnten Ihnen passen?«
»Aber Claire –!«
»Oh.« Sie betrachtete den Schuh bedauernd und sehr eingehend. »Sie mögen ihn nicht. Ich finde ihn hübsch.«
»Claire, das ist doch nicht der Punkt! Es ist... nun, sehen Sie, es ist einfach ...«
»Wahre Handarbeit, Herrschaften.« Der Inhaber der Bude war auf sie aufmerksam geworden und neigte sich ihnen zu: »Mein Bruder stellt diese hübschen Sachen her. Es ist sein Hobby. Ich verkaufe sie nur für ihn. Sie sollten ihn kennenlernen. Ein großartiger Mensch! Aber scheu. Hat Ansammlungen nicht gern. Darum verkaufe ich seine Sachen.« Er strahlte sie an.
Claire erwiderte das Lächeln dieses offenen Gesichtes, bevor sie über ihre Schulter zurückblickte, als suche sie etwas. Dann wandte sie sich wieder den Lederwaren zu und widmete ihnen ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Sie ließ sich die verwendeten Materialien und die Art der Anfertigung erklären, verglich verschiedenfarbige Exemplare miteinander, befühlte und begutachtete. Eric beobachtete sie amüsiert, bis ihm bewußt wurde, daß Wolf lebhaft wedelnd an seiner Seite stand und daß das leise Ziehen an seinem dicken Lodenmantel mehr sein mußte als das zufällige Streifen Vorüberschreitender. Ein energischerer Zug veranlaßte ihn schließlich, sich umzudrehen.
»Wie war's mit einem Glühwein?« sagte eine melodische Stimme. Er starrte verblüfft in ein dunkles Augenpaar und sah das schönste Lächeln der Welt.
»Elaine!« Dann starrte er sie nur an.
»Elaine?« neckte sie, »was ist mit der Fayre Elaine?« Sie drückte ihm einen Becher in die Hand. »Trinken Sie einen Schluck. Sie sind ganz blaß! Hab ich Sie so erschreckt?«
Da stand er nun, seinen Teebecher in der einen, den Glühwein in der anderen Hand, und hätte am liebsten beides weggeworfen, um sie in seine Arme zu nehmen und so schnell nicht mehr loszulassen. Sein Verstand setzte ein und sagte sehr laut: Vergiß es. Sag irgendwas Belangloses, damit sie nicht merkt, wie's in dir aussieht.
»Ja«, sagte er statt dessen, »haben Sie. Sie haben mich erschreckt. Ich ... ich habe wirklich nicht damit gerechnet... aber ... aber es ist... schön, Sie wiederzusehen.«
Vergiß nicht: Dies ist ein zufälliges Zusammentreffen. Elaine will einfach nur höflich sein.
Dann fühlte er einen kleinen Stoß in seinem Rücken, und bevor er sich umwandte, nickte Claire Elaine mit einem breiten, spitzbübischen Lächeln zu und sagte unschuldig wie nebenbei: »Ich will nach einem Paar Hausstiefel für David suchen. Ihr jungen Leute braucht ja nicht auf mich zu warten. Wir treffen uns schon wieder irgendwo. – Sie kommen doch auf einen Sprung mit zu uns, Elaine?« Sie wandte sich zu Eric, nahm ihm den Teebecher aus der Hand und fügte hinzu: »Trinken Sie lieber einen Schluck Glühwein, mein Junge. Sie sind wirklich blaß.«
»Sehr gern.« Elaine schob ihren Arm unter Erics, und von diesem Augenblick an bekam für ihn alles eine unglaubwürdige, traumhafte Qualität. Hilflos und überrumpelt faßte er neben ihr Tritt in dem Gefühl, ein Opfer seiner Wunschvorstellungen zu sein. Alles wirkte auf einmal verschwommen und schimmernd, als wate er durch Nebel. Aber da war ihre Wärme an seiner Seite, das war ganz und gar unleugbar. Er blickte auf die ungebändigte Flut der langen dunkelroten Locken hinab, auf das helle, ebenmäßig geschnittene Gesicht, in dem noch der Glanz des Lächelns tanzte. Er sah sie an und konnte nicht glauben, daß sie an seiner Seite ging und sich sogar ein ganz klein wenig an ihn schmiegte. Sicher würde gleich etwas geschehen, das ihn aus diesem Traum aufrüttelte.
Aber es geschah nicht.
Er hatte etwas sagen wollen, doch es wurde nicht mehr als ein trockenes Räuspern.
»Hören Sie auf Claire.« So deutlich hatte er noch keine Stimme im Traum gehört. Sie setzte leise hinzu: »Trinken Sie einen Schluck.« Das Lächeln und der Blick, die die Worte begleiteten, raubten ihm den Atem. Es war kein Traum. Er gehorchte, immer noch wie in Trance. Er trank, und die heiße Flüssigkeit floß brennend durch seine Kehle und breitete sich wohltuend warm in ihm aus. Leben kam in ihn. Sein verdutztes Herz schlug machtvoller als je zuvor, und seine Stimme gehorchte ihm wieder. »Wo ist denn Ihr Freund?« fragte er so beiläufig wie möglich.
»Mein Freund? Wen meinen Sie?« Sie waren an den Außenbezirk des erleuchteten Marktplatzes gelangt und blieben auf der Grenze zwischen winterlicher Dunkelheit und sanftem Lichterglanz stehen.
Er drehte sich zu ihr. »Den Mann, mit dem Sie im Restaurant waren. Im Prince Charly«, betonte er nachdrücklich.
Sie stutzte, sagte »Oh – aber!« und schüttelte den Kopf. »Geben Sie mir einen Schluck?« Sie nahm den Becher aus seiner Hand und sah zu ihm auf. »Ich dachte, Sie wären gar nicht mehr hier.«
»Nun, es ist immer noch die Stute. – Wollen Sie meine Frage nicht beantworten, Elaine?« Seine Stimme klang bittend.
»Doch, natürlich.« Sie lächelte nachdenklich in den Becher. »Er ist schon ein Freund, aber nicht so, wie Sie das zu meinen scheinen ... Er ist mein Halbbruder.« Fast traute er seinen Ohren nicht.
»Erwähnte ich das nicht?« fuhr Elaine fort. »- Hm, nein, Sie waren ja gleich wieder fort. Alan und ich. sehen uns nicht sehr oft; er hat eine Praxis oben im Norden, aber wenn wir uns treffen können, veranstalten wir immer so etwas wie eine kleine Feier. Und das Prince Charly ist wirklich sehr nett, gutes Essen und hervorragende Weine. Hat er Sie etwa beunruhigt?«
Er beobachtete, wie sie den Becher geistesabwesend drehte, und an der Stelle trank, die seine Lippen berührt hatten. Sanft nahm er ihre Hände zwischen seine, als sie den Becher absetzte. »Er hat mich beunruhigt«, sagte er leise. »Sehr.«
Und er blickte auf den Plastikbecher zwischen ihren Fäustlingen, in dem die tiefrote Flüssigkeit langsam auskühlte, auf die Stelle, die jetzt einen Hauch von Lippenstift trug. »Sehr«, wiederholte er, nahm ihr den Becher ab und goß den Wein in den Schnee. Den leeren Becher steckte er in seine Manteltasche.
»Davon abgesehen ...« Er schwieg, und in Gedanken fügte er hinzu: Davon abgesehen ... ist da noch das andere. Elaine beobachtete ihn mit glitzernden Augen. Die Intensität, die von ihm ausging, war erregend und auch ein wenig erschreckend, aber die Schüchternheit, hinter der sie sich barg, bezauberte sie.
»Warum tun Sie das? Was wollen Sie mit dem Ding?«
»Es behalten.« Er ragte über ihr auf. Sie sah die Angst hinter der einschüchternden Haltung und wußte, wovor er sich fürchtete.
»Warum denn?« Ihr pochendes Herz ließ ihre Hände zittern. Gut, daß dieses Zittern von den dicken Fäustlingen vor seinem aufmerksamen Blick verborgen wurde.
»Um ... nun ... Sie haben Ihren Standpunkt ja klargemacht, also ...« Er blickte zu Boden.
Sie ergriff die Initiative. »Also – was?!«
»Ich darf nicht hoffen, aber ich ... ich möchte doch gern etwas haben, das Sie ... verflixt! – Elaine, zwingen Sie mich nicht, so abstruse Dinge zu sagen! Ich könnte es mir nie verzeihen. Und Sie würden es ebensowenig verzeihen können.«
Er wollte sich abwenden, er hatte das Gefühl, ihr nie wieder ins Gesicht sehen zu können. Aber sie faßte nach den Aufschlägen seines Lodenmantels und hielt ihn auf, zwang ihn sanft, sie anzusehen: »Standpunkte können geändert werden, Eric.« Er hatte sich losreißen wollen, doch nach diesen Worten wandte er sich ihr zu. Sein bleiches Gesicht war unbewegt, aber seine Augen konnten nicht täuschen – zumindest nicht sie. Sie hatte von Anfang an in ihnen lesen können.
»Ich ... ich habe meinen geändert. Ich«, ihre Stimme bebte, »ich ...«
Er starrte sie an. Hoffnung lag in diesem Blick.
»Geändert?«
»Geändert, ja.« Ihre Hände in den Fäustlingen klammerten sich an seine Mantelaufschläge. »Ich – habe – meinen – Standpunkt – geändert!«
»Was ... was heißt das?«
»Weißt du das nicht?«
Er schüttelte den Kopf, als sei er benommen von einem starken Mittel, als versuche er, sich von Traumgespinsten zu befreien. Sie bemerkte ein leises Zittern.
»Was immer du tust, Eric – ich möchte bei dir sein.«
»Du ... möchtest bei mir sein?«
»Bei dir. Wo auch immer. Gleichgültig, was du tust. Und wo du es tust.«
»Bei mir. Wo auch immer«, wiederholte er benommen. »Wo auch immer.« Er wurde noch eine Spur blasser. Sie ließ eine Hand aus dem Fäustling schlüpfen und strich über seine kalte Wange. Er drehte den Kopf, als wolle er die Innenfläche ihrer Hand küssen, verharrte aber. Leicht machte er es ihr gerade nicht.
Sie liebte ihren Beruf. Sie liebte ihr Land. Oh ja, sie liebte ihr Land. Aber an seiner Seite würde sie jedes Land lieben können, und es gab überall Menschen, denen sie helfen konnte. Er war wert, alles, was ihr bislang wichtig gewesen war, aufzugeben. Er war alles wert. »Weißt du was? Mir ist kalt. Ich hätte jetzt gern einen Tee.«
»Tee?!« Er schrak auf und sah sich um, ließ den Blick über die verschiedenen Buden schweifen, versuchte sich zu erinnern, an welchem Stand man Tee bekommen konnte.
»Nicht hier«, erklärte sie. »Ich kenne einen Platz, wo es zum Tee wunderbare Scones gibt.«
Ihm stand der Sinn durchaus nicht nach Gebäck, aber wenn sie es sich wünschte ... Sie hakte sich wieder bei ihm ein, und er ging neben ihr, fragte stumm Wolf: Bist du sicher, daß dies wirklich kein Traum ist? Der Hund wedelte und schob ihm seine kalte Nase gegen die Hand.
»Aber Claire!« wandte er nach einigen Schritten ein.
»Claire«, sagte Elaine lächelnd. »Sie ist eine fabelhafte Frau.«
»Natürlich! Und darum muß sie unbedingt Bescheid wissen. Ich meine, ich kann nicht einfach gehen, und sie –«
»Eric – glaubst du denn wirklich, es sei ein Zufall, daß wir uns heute begegnet sind? Ich bin nur froh, daß Claire dich überreden konnte. Sie sagte, es würde nicht leicht werden, weil du Gedränge nicht ausstehen kannst. Aber sie ist eben wirklich eine einfach fabelhafte Frau.«
»Oh!« Er erinnerte sich jetzt an Claires beiläufige Bemerkungen über die heimelige Schönheit des Weihnachtsmarktes, die sie seit einigen Tagen immer wieder ins Gespräch eingeflochten und mit denen sie ihn schließlich ganz neugierig gemacht hatte; und sog darauf, tief bestürzt, die Luft ein. Aber er tat es auch mit einem Hauch von Belustigung: »Eine Verschwörung!«
»Wenn du es so nennen willst.« Sie waren bei ihrem Wagen angelangt. »Sie kann uns auch jederzeit erreichen, falls es einen dringenden Fall für dich gibt. Sie hat meine Telefonnummer, und die meines Handys.« – Seit Jahren war sie selbst daran gewöhnt, immer genau dann angerufen zu werden, wenn sie es am wenigsten erwartete oder einrichten mochte. Es gab wenige Konzerte, Gesellschaften oder Kinovorführungen, die sie von Anfang bis Ende hatte erleben können; und wenige ungestörte Abende in ihren eigenen vier Wänden. Während sie sprach, blickte sie daher kurz in den wolkenverhangenen Himmel. Bitte nicht, flehte sie stumm. Nicht heute.

Sie hielten vor einem gepflegten Mehrfamilienhaus aus grauem Stein mit großen, weiß abgesetzten Fenstern und weißen Giebeln. Eric blickte sich um: weit und breit war weder ein Cafe noch ein Pub oder ein Restaurant zu sehen. Es war eine ruhige, beschauliche Wohngegend mit breiten, abschüssigen Straßen und viel Grün dazwischen. Elaine lächelte ihn an. »Da sind wir.«

»Aber –«

»Hier wohne ich«, sagte sie und räumte damit den letzten

Zweifel aus.
»Also zuerst eine Verschwörung, und jetzt auch noch
Entführung. Ich hätte Sie nicht für kriminell gehalten, Dr.
Mercury.«
»Sie sollten es mal ausprobieren, Dr. Gustavson. Es macht
höllisch viel Spaß. Und denken Sie nur nicht, daß die
Schrecken etwa schon ihr Ende gefunden haben. Ich werde
mein hilfloses Opfer jetzt in meine finstere Höhle schleppen
und es mit Tee und Scones abfüllen bis zum Rand. – Die
Scones sind übrigens nach Claires Rezept gebacken, ich
brauchte ja einen Vorwand für meinen Anruf, nicht wahr?« »Sie erscheinen mir auch sehr durchtrieben, Dr. Mercury.« Sie stiegen aus. Wolf hüpfte auf die Straße und erkundete
die Mitteilungen anderer Hunde am Zaun.
»Tja.« Sie lächelte spitzbübisch und tat zerknirscht. »Ich
fürchte wirklich, ich bin durchtrieben. Ja. In der Tat. Sehen
Sie der Wahrheit also lieber ins Auge, Mr. Gustavson – Sie
sind mir völlig ausgeliefert.«
»Das weiß ich schon lange.« Die Worte kamen beinah
unhörbar und sehr ernst.
Die Wolke von Übermut, die Elaine um sie zu streuen
versucht hatte, zerfiel. Betroffen blickten sie einander an. Als ihre Hände sich zufällig streiften, zuckten sie beide
zusammen und rückten instinktiv ein wenig auseinander.
Schweigend betraten sie das Haus.
Die weiße Tür im zweiten Stockwerk öffnete sich auf einen
hellen, weiten Flur, dessen Wände mit Glasmalereien
geschmückt waren. Man sah auf den ersten Blick, daß Elaine
eine geschickte Hand für die Einrichtung einer Wohnung
hatte; selbst die drehbaren Deckenfluter waren mit einer ganz
außerordentlichen Wirksamkeit plaziert, so daß sie die Ecken
bis in den kleinsten Winkel ausleuchteten und den Eindruck
von Luftigkeit noch verstärkten. »Gib mir deinen Mantel«, sagte Elaine, hängte Mantel und Schal auf einen Bügel, zog seine Handschuhe aus seiner Manteltasche und legte sie auf
ein niedriges Tischchen neben ihre eigenen.
Eric stand ein wenig verloren in ihrem Flur und streichelte
verlegen Wolf, als sein Blick auf ein gerahmtes Bild mit
einem Gedicht an der Wand fiel. Er legte die Arme auf dem
Rücken zusammen und nahm seine Zuflucht zu dem Gedicht,
las es aufmerksam, eigentlich war es kein Gedicht:

»Come to The Edge«,
He said.
They said,
»We are Afraid.«
»Come to The Edge«,
He said.
They Game.
He pushed them ...
And they flew.
Guillaume Apollinaire

Irgend etwas in ihm wurde durch diese Worte berührt, so tief und so nachhaltig, daß es hinter seinen Augen zu brennen begann. Er wandte sich um und sah, daß Elaine ihn beobachtete. »Es ist sehr ... eindringlich, nicht?« – Er nickte.

»Ich bekam es von meinem Lieblingsprofessor nach meinem Abschlußexamen geschenkt.«
»Professor Gray? Du sprachst von ihm, als wir auf den Kl..., als du bei den Hickmans warst.«
»Ja, der. Er wußte, daß ich vor Angst wegen dieses Examens halbtot war, und er hatte kurz davor ein langes gutes Gespräch mit mir. Man könnte sagen, er ... stupste mich an – weg von der Angst, wenn du weißt, was ich meine ... er hielt mir das vor Augen, was er >meine Qualitäten nannte; und das Examen verlief überraschend gut. Am darauffolgenden Tag bat er mich in sein Arbeitszimmer, bot mir eine Tasse Tee an und überreichte mir das.« Sie deutete nach dem gerahmten Zitat. »Es war so rührend ... er ist Junggeselle, weißt du; er hatte es selbst eingewickelt – in das feinste Geschenkpapier, das du dir vorstellen kannst, aber alle vier Kanten lugten daraus hervor, und es war ganz knitterig geworden. Er hatte versucht, die Schäden mit einem breiten Geschenkband zu tarnen ... als ich es ausgewickelt hatte und es las, hatte ich einen dicken Kloß in der Kehle. Manchmal, wenn ich davor stehe und mich daran erinnere, daß ich ihm zu verdanken habe, was ich heute bin, geht es mir noch heute so. Er war es, der mir den Schubs gab –«
»Der dich fliegen ließ.«
Sie nickte. »Und mir damit auch eine Art Verpflichtung auferlegte. Er sagte, es solle mich immer an die Ethik unseres Berufsstandes gemahnen ... ein Arzt hat auch die Pflicht, sich um die Psyche seiner Patienten zu sorgen und Dinge in Gang zu setzen, vor denen sie sich fürchten.« – Unvermittelt wurde sie praktisch: »Huch, der Tee! Da stehe ich hier rum und schwatze, statt Tee zu kochen!«
»Elaine, es muß wirklich nicht ...«, begann er, aber seine Stimme war so leise, daß sie sie nicht hören konnte, oder zumindest nicht hören mußte. »Wenn du dir die Hände waschen willst«, rief sie aus der Küche, »das Badezimmer ist rechts von der Eingangstür.«
Statt dessen kam er ihr in die Küche nach, die Hände in die Hosentaschen geschoben. »Ich könnte den Tisch decken«, schlug er vor.
»Nicht nötig. – Ich habe auch Kakao für Wolf. Schon in Arbeit. Warte mal –«
Sie neigte sich über eine kleine Liste, die auf der Arbeitsplatte neben dem Herd lag, »den Zucker habe ich, eine Messerspitze Zimt ... auch ... – ha! Der Pfeffer! Beinahe hätte ich die Prise weißen Pfeffer vergessen!« Sie lächelte zu Eric hin, der an der Geschirrspülmaschine lehnte und ihr zusah. »Wie du siehst, habe ich gründlich recherchiert. – Warum setzt du dich nicht wenigstens?«
Er nickte und zog sich einen Stuhl heran. Elaines Küche erinnerte ihn an seine eigene. Auch hier gab es weiße Aufbewahrungsmöbel, einen Tisch und Stühle aus Kiefernholz. Es mußte sich hier, vor diesem großen Fenster, das auf einen Park hinaussah, gemütlich sitzen, an einem ruhigen Sonntagmorgen etwa, der ein ausgiebiges Frühstück mit Tee und Orangensaft und Toast und weichgekochten Eiern gestattete. Der Gedanke machte ihn unruhig.
Wolf war bereits durch die ganze Wohnung gestromert, er fühlte, daß er hier willkommen war. Als er das Wort »Kakao« vernahm, schob er seinen Kopf um die Küchentür und streckte sich so weit wie möglich in den Raum. Er schnupperte vernehmlich. Der Rest seines Körpers jedoch blieb hinter der Schwelle.
Elaine bemerkte ihn aus dem Augenwinkel: »Wolf! Lieber, warum kommst du denn nicht herein?« Sie warf Eric einen fragenden Blick zu.
»Er geht nie in eine fremde Küche, bevor es ihm erlaubt wird. Manche Leute mögen das nicht.«
»Hast du ihn dazu erzogen?«
»Das war nicht nötig. Er bleibt immer draußen, bis man ihn auffordert, hereinzukommen.«
»Oh, Wolf!« Elaine hockte sich auf den Boden und streckte ihm die Hand entgegen. »Komm doch her! Weißt du, ich wollte schon immer einen Hund in meiner Küche haben. Ich finde nämlich, in eine anständige Küche gehört ein Hund.« Wolf kam zu ihr, heftig wedelnd.
Erics Blick umfing ihre niedergekauerte Gestalt, die ihm den Rücken zuwandte. Unter der sich weich anschmiegenden Kleidung zeichneten sich die Konturen ihres Körpers beunruhigend deutlich ab. Er hielt es für das Beste, die Augen kurz zu schließen, dann aus dem Fenster zu blicken und schließlich den Herd anzuschauen.
Ein verhängnisvoll klingendes Blubbern von dort ließ ihn aufspringen und riß Elaine aus ihrer Spielerei mit Wolf. Beide griffen nach dem Topf mit dem Blasen werfenden Kakao, und genau in diesem Augenblick fiel es dem Wasserkessel ein zu pfeifen. Geistesgegenwärtig sagte Elaine: »Nimm du den Kessel«. Hastig nahm sie den Topf mit Kakao von der Herdplatte und stellte ihn in die Spüle. Eric goß den Tee auf. Darauf blickten sie einander lächelnd an. »Das war knapp«, sagte er.
»Wir sollten uns die Hände waschen, bevor wir essen.«
»Ja, Frau Doktor.«
Sie gab ihm einen spielerischen Stoß, und einträchtig wuschen sie sich in dem weiträumigen, hellgrau gekachelten Badezimmer die Hände.
»Eine schöne Wohnung ist das.«
»Du hast sie ja kaum gesehen.« Ihre Augen lächelten zu ihm auf. Sie benutzten dasselbe Handtuch, um ihre Hände zu trocknen, und sie beobachtete amüsiert, daß seine Hände versuchten, ihre nicht zu stören.
»Nun«, sagte er verlegen, »der Flur ist schön, und ich mag die Küche. Gemütlich und wohnlich. Und das Bad –«
Sie zupfte an seinem Ärmel. »Aber unseren Tee wollen wir doch lieber im Wohnzimmer nehmen, nicht?«
»Entschuldigung, ich wollte nicht den Ein ...«
Wie verkrampft er war! Sie legte ihre Hand auf seinen bloßen Unterarm – aus reiner Gewohnheit hatte er sich die Ärmel hochgeschoben und nicht nur die Hände gewaschen, sondern auch die Arme bis über den Ellenbogen; typisch für einen Tierarzt. Sie bemerkte ein leises Vibrieren unter ihrer Berührung. »Eric, du bist hier bei mir. Nicht bei einem Fall.«
»Oh.« Verlegen rollte er die Ärmel herunter.
»Du hast doch bestimmt Hunger?«
»Hm.«
Sie führte ihn ins Wohnzimmer, und er fand in dem behaglichen Raum einen geschmackvoll gedeckten Tisch mit verschieden Kuchensorten sowie Schalen mit Plätzchen, darunter auch Scones. »Oh! – Darum sagtest du, es sei nicht nötig, den Tisch zu decken!«
»Willst du dich nicht setzen? Ich hole Kakao und Tee.«
Er bemerkte ein rosiges Aufglühen ihres Gesichts, bevor sie sich umwandte, und als sie mit einem Tablett zurückkam, sagte sie etwas verlegen: »Du wunderst dich sicher darüber, daß ich den Tisch vorbereitet habe, so, als sei ich ganz sicher, daß du mitkommen würdest. Aber so war's nicht.« Sie neigte sich mit der Teekanne über den Tisch und schenkte seine höflich erhobene Tasse voll. Er reichte ihr auch ihre Tasse und sie wußte, er sah, daß ihre Hände nicht ganz ruhig waren. Sie stellte Wolf seinen Kakao hin und hatte damit einen guten Vorwand, um Eric nicht ansehen zu müssen. »Ich hoffte es nur. Daß du mich begleiten würdest, meine ich. Und ich war unruhig ... Claire und ich hatten eine Zeit vereinbart, und es war gut, mich vorher beschäftigen zu können.«
Sie wollte sich lieber nicht vorstellen, wie sie sich gefühlt hätte, wenn sie allein zu dem festlich gedeckten Tisch zurückgekehrt wäre.
Er sah sie unverwandt an, ohne sich zu regen, ohne ein Wort. Er schien kaum zu atmen. Sie hatte diesen Blick schon einmal gesehen: als sie oben auf den Klippen waren und er gerade erwacht war; diesen tiefen dunklen Blick vor dem stürmischen Kuß. Die Erinnerung machte sie beinah schwindlig.
Lieber Gott, Elaine, es hat dich wirklich erwischt! So war's nie vorher.
Sie setzte sich Eric gegenüber. »Was möchtest du zuerst?«
Ohne sich zu bewegen, schien er näher gekommen zu sein, als habe er sich leicht über den Tisch geneigt. Aber sie war sicher, daß er sich nicht gerührt hatte: Seine Haltung war ganz dieselbe wie zuvor, sehr aufrecht, den Rücken gegen die hohe Stuhllehne gepreßt, die rechte Hand ruhte neben seiner Teetasse auf dem glatten, spiegelnden Holz des Tischs.
Es waren seine Augen.
Sie kannte seine Augen. Sie waren von sehr dunklem Grau, das manchmal schwarz schien, und sie hatten einen ganz eigentümlichen, metallisch schimmernden Glanz. Große Augen, mit sehr dünnen Lidern und dichten Wimpern. Sprechende Augen. Schon im ersten Augenblick, als er beinah zerbrochen in seinem Krankenbett gelegen hatte, betäubt von der Spritze, die Hugh ihm verabreicht hatte, hatten sie etwas in ihr angerührt.
Der erste, noch verhangene Blick aus seinen Augen. Das scheue Lächeln. Der Widerstand, der sich um ihretwillen ergeben hatte, die bereitwillige Mitarbeit trotz der anfänglichen Rebellion – und –»ich denke, Sie sind eine sehr schöne Mischung«. Der tiefe Blick auf den Klippen, als sie umgeben waren vom Farbenrausch der marchairs, und schließlich der Kuß.
Unerwartet lächelte er und hob seine Tasse an die Lippen.
»Das ist schön. Wir sitzen uns gegenüber und nippen gesittet an unserem Tee.« Er lächelte wieder, aber seine Augen wurden nicht von diesem Lächeln berührt. »Ganz wie du und dein Professor.« Er nahm die Tasse mit der Untertasse auf und bat um mehr Tee.
»Willst du gar nichts essen?« fragte sie.
»Oh, ich hätte gern eines von diesen.« Er deutete auf die Nußrollen, mit deren Zubereitung sie sich viel Mühe gegeben hatte.
Aber er rührte weder seine Kuchengabel noch das Gebäck an. Offensichtlich durstig trank er seine Tasse leer, und sie hielt die Kanne bereit, um sie erneut zu füllen; ihre Hände streiften einander, und der erneut aufspringende Funke ließ sie und ihn zusammenzucken. Er nahm ihr die Kanne aus der Hand, stellte sie sacht auf den Tisch und stand auf.
Sie wußte, daß er behutsam eroberte. Sie wußte es, seit sie ihn mit den Pferden gesehen hatte. Aber die Glut in seinen Augen ängstigte sie.

Nicht einmal zu träumen gewagt hatte sie, daß Liebe so sein kann. Was immer ihr widerfahren mochte, niemals würde sie diese Leidenschaft und tiefe Zärtlichkeit vergessen können.

»Tränen«, flüsterte er bestürzt und nahm sie mit den Lippen auf: »Elaine, Fayre Elaine, sag, habe ich dir – weh getan?«

Heftig schüttelte sie den Kopf, konnte und wollte nicht sprechen.
Eine Kerze in einer entfernten Ecke war die einzige Lichtquelle. Im Schein dieser Kerze hatte sie in sein Gesicht gesehen ... in etwas, das wie eine köstlich brennende Ewigkeit erschien. Sie erinnerte sich an den bedingungslos verlangenden dunklen Blick, der sich zu Scheu gewandelt hatte, als er sich über sie neigte. Sie kannte den Grund für diese Scheu, für diese stumme Frage, ob er ihr trauen könne. In dieser Sekunde hatte sie seine tiefen Wunden gefühlt, als wären es ihre eigenen. Er war ein Heiler, der selbst der Heilung bedurfte.
Sanft strich sie über seine dünne Haut und fühlte sein Schauern. Er zuckte nicht zurück. Er traute ihr. Ihre Hände legten sich um sein Gesicht, und ihre Blicke tauchten ineinander:
Wenn ich nur Worte hätte, um zu sagen, wie bedingungslos ich dich liebe.

In der Mitte der Nacht klangen Glockenschläge zu ihm, sehr gedämpft. Er richtete sich nicht auf; wollte Elaines Schlaf nicht stören. Sie drehte sich in der Geborgenheit seiner Arme zu ihm und murmelte: »Es ist die Mitternachtsmesse, Eric.«

»Habe ich dich geweckt?« flüsterte er erschrocken. Er hatte sich nicht bewegt.
»Ich bin aufgewacht, als du wach wurdest.« Nie zuvor hatte sie sich einem Mann so verbunden gefühlt. Er umarmte sie fester und atmete einen tiefen, unhörbaren Seufzer.
»Ich sollte mich bei Claire bedanken«, murmelte er, »aber ich wüßte wirklich nicht, wie ich es formulieren sollte.«
»Ich weiß, was du meinst.« Zart zeichnete sie verschlungene Muster auf seine Schulter. »Mir geht's genauso.« Dann hatte sie eine Idee. »Weißt du, wir lassen den Spruch von Apollinaire auf ein schönes Bild schreiben und einen Rahmen darum machen.«
»So wie deines von Professor Gray?«
»Ja, so ähnlich.«
»Denkst du, sie wird es verstehen?«
»Oh, ganz bestimmt.« Sie schmiegte sich an ihn und fühlte seine erneut aufflammende Leidenschaft. Ihr letzter klarer Gedanke war die Erinnerung an die zahlreichen Telefonate, die Claire und sie geführt hatten. Sie hatte mit dem Rezept für die Scones ein wenig geschwindelt. Er mußte ja nicht alles wissen.