Ich bin Zeuge

In den Korridoren unseres Gerichtswesens herrscht lebhafte Bewegung. Auch wer ein Kavaliersdelikt begangen hat, muss sich verantworten. Dabei tritt neuerdings eine aus Amerika stammende Abart der Rechtsprechung zutage, die darin besteht, dass Staatsanwalt und Kavalier nicht gegeneinander verhandeln, sondern miteinander. Und zwar verhandeln sie über einen Austausch von Vergehen, je nach dem Tageskurs auf der Gesetzbruchbörse und ungefähr nach dem Grundsatz:

»Wenn ich mich in einem bestimmten Punkt schuldig erkläre, bin ich in einem anderen Punkt unschuldig.«

Keine schlechte Idee. Versuchen wir's.

Es war kurz nach 23 Uhr, als ich von einer wilden Orgie nach Hause fuhr. Plötzlich tauchte dicht vor meiner Kühlerhaube ein Hund auf. Ich riss den Wagen nach links, geriet auf den Gehsteig und von dort in einen Obst- und Gemüseladen, schlitterte zwischen sorgfältig angeordneten Zitrusfrüchten und Tomaten hindurch bis an die Rückwand, die ich krachend durchbrach, und landete auf der anderen Seite in einer ruhigen Wohngegend. Ein Laternenpfahl brachte mich zum Stehen und schlug sodann der Länge nach hin.

Nach erstaunlich kurzer Zeit erschien ein Hüter des Gesetzes, zog sein Notizbuch hervor und begann in den Trümmern meines Wagens nach mir zu forschen. Er fand mich schließlich im weit aufgeklafften Kofferraum, einigermaßen verkrümmt zwischen dem Ersatzreifen und der gebrochenen Achse.

»Was ist los?« fragte er.

»Nichts Besonderes«, antwortete ich. »Ich versuche hier zu parken.«

»Keine dummen Witze, Herr! Sie sind vorschriftswidrig gefahren, und das wird Sie teuer zu stehen kommen.«

Ich befreite mich aus meinem ehemaligen Wagen und kroch auf den Vertreter der Staatsgewalt zu:

»Ein Grundsatz unserer Rechtsprechung lautet, dass man unschuldig ist, solange man keiner Schuld überführt wurde. Vergessen Sie das nicht!«

»Mir brauchen Sie nicht zu sagen, was ich nicht vergessen soll. Ich werde Sie jedenfalls zur Anzeige bringen.« »Warum?«

»Weil ich deutlich gesehen habe, wie Sie aus dem Gemüseladen herausgekommen sind.«

»Das tun zahlreiche Hausfrauen jeden Tag.«

»Aber Sie sind vorher hineingefahren.«

»Und? Wozu habe ich einen Wagen? Andere gehen zu Fuß, ich fahre.«

Meine Logik schien ihn zu beeindrucken. Er kratzte sich am Hinterkopf. Dann nahm er wieder Haltung an: »Außerdem parken Sie gerade jetzt auf dem Gehsteig, oder nicht?«

»Nur vorübergehend. Wollen Sie eine solche Kleinigkeit hochspielen?«

Der Ordnungshüter stieg verlegen von einem Fuß auf den anderen:

»Und der zertrümmerte Gemüseladen?«

»Wir wollen Gemüse und Gehsteig scharf auseinanderhalten. Nur nicht zu viel auf einmal. Dann würde ich unter Umständen zugeben, dass ich vorschriftswidrig gefahren bin.«

»Was soll das heißen?«

Ich fasste ihn unterm Arm und begann mit ihm friedlich auf und ab zu gehen:

»Hören Sie zu, mein Freund. Wir beide können nur gewinnen, wenn wir zusammenarbeiten. Das verkürzt den Prozess, und Sie müssen nicht immer wieder vor Gericht erscheinen, um sich von gerissenen Rechtsanwälten ins Kreuzverhör nehmen zu lassen. Seien Sie vernünftig. Sie ersparen sich damit eine Menge Unannehmlichkeiten.«

»Außerdem sind Sie mit achtzig Stundenkilometern gefahren.«

»Warum nicht sechzig? Auch damit habe ich die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten, und es klingt besser.«

»Und Sie haben einen Hund getötet.«

»Eine Katze.«

Die Untersuchung war an einem toten Punkt angelangt. Nochmals erklärte ich meine Bereitschaft, mich in einigen Punkten schuldig zu bekennen, wenn die Anklage einige andere Punkte fallenließe:

»Lassen wir den Laden beiseite«, schlug ich vor, »und nehmen wir statt dessen den Laternenpfahl.«

»Unmöglich.«

»Gut, nehmen wir beide. Aber mit vertauschtem Schaden.«

»Ich verstehe nicht.«

»Schreiben Sie, dass ich in den Laternenpfahl hineingefahren bin und den Gemüseladen geknickt habe.« »Der Laternenpfahl ist nicht geknickt, Herr. Sie haben ihn umgelegt.«

»Hm. Warten Sie. Mir fällt etwas ein.« Aufs neue trat ich mit meinem Partner einen vertraulichen kleinen Spaziergang an. »Voriges Jahr habe ich einen Fernsehapparat durch den Zoll geschmuggelt, ohne erwischt zu werden. Ich bin bereit, den Schmuggel nachträglich zu gestehen, wenn Sie dafür den Laternenpfahl weglassen.«

»Ganz so wird's nicht gehen. Ich muss ihn zumindest erwähnen. Sagen wir: Sie haben ihn gestreift.«

»In diesem Fall würde ich nur einen Transistor geschmuggelt haben.«

»Der Beschuldigte hat ein Rundfunkgerät ohne Einfuhrbewilligung importiert«, notierte der Ordnungshüter. »Und was machen wir mit dem vorschriftswidrigen Fahren?« fragte er.

Ich schlug als Ersatz einen Kinderwagen vor, den ich im Frühjahr bei einem Parkmanöver beschädigt hatte. Der öffentliche Ankläger war einverstanden, vervollständigte das Protokoll durch einige neutrale technische Daten und hielt es mir hin:

»Hier, bitte. Unterschreiben Sie auf der punktierten Linie.«

Schon wollte ich den Kugelschreiber ansetzen, als mir ein neuer Gedanke kam:

»Einen Augenblick. Haben Sie Zeugen?«

Das Auge des Gesetzes glotzte:

»Nein . . . eigentlich n i c h t . . . es war ja kein Mensch auf der Straße . . .«

»Abgesehen von mir«, sagte ich. »Und das bedeutet, dass Sie auf mich angewiesen sind. Ich bin Ihr einziger Zeuge. Wenn ich die Anklage nicht unterstütze, bricht sie zusammen. Das sollten Sie bei Ihrer Aussage bedenken!«

»Ja, schon gut«, stöhnte das Amtsorgan. »Lassen Sie uns zu Ende kommen, ich bitte Sie!«

Der Morgen dämmerte. Ich unterschrieb das Protokoll als Staatszeuge in Sachen Rundfunkgerät und Kinderwagen, verabschiedete mich von meinem uniformierten Freund mit einem kräftigen Handschlag und ging nach Hause.

Die beste Ehefrau von allen empfing mich ein wenig ungehalten. Warum ich so spät nach Hause käme? Was denn geschehen sei?

Ich bedauerte, in ein schwebendes Verfahren nicht eingreifen zu dürfen, und verweigerte die Aussage.

Rom sehen…

Ich brauche dringend Urlaub, sagte ich mir an jenem unglückseligen Tag. Urlaub und Ruhe.

Mindestens eine Woche. Ich kann dieses lähmende Tel Aviv mit seiner Hitze und seinem brodelnden Betrieb nicht länger ertragen. Nur rasch hinaus aus der Levante, hinaus in die schöne weite Welt. Ich suchte ein bestrenommiertes Reisebüro auf, buchte ein Hotelzimmer in Rom und nahm das nächste Flugzeug.

Rom, ewige Stadt, Stadt des ewigen Friedens! Welch grandiose Atmosphäre liegt dort in der Luft.

Anderswo kann sie ja gar nicht liegen. Das macht wahrscheinlich die Nähe des Papstes. Warum soll nicht auch ich etwas davon abbekommen? Auf nach Rom!

Es war ein herrlicher Flug. Als wir uns dem europäischen Festland näherten, schienen sogar die Motoren ihr Geräusch zu dämpfen, klangen weniger dröhnend, weniger hektisch. Und nach der Landung, nach der vorbildlich glatten, sanften Landung spürte ich ganz deutlich, wie die Nervosität, welche ein Merkmal unseres Stammes ist, von mir abfiel. Fröhlich pfeifend machte ich mich auf die Suche nach meinem Koffer, ungeachtet der brütenden Hitze und der nicht vorhandenen Wegweiser, die den armen kleinen Reisenden vielleicht zur Gepäckausgabe geleitet hätten. Ich fragte den eindrucksvollen Uniformträger, der meinen Reisepass inspizierte, nach dem bestmöglichen Weg und bekam gleich mehrere Verdi-Arien zu hören: »Ritorna vinci - tor«, klang's mir entgegen. »E dal mio labro uscii l'empi parola!«

»Sorry«, sagte ich in fließendem Englisch. »No Italian. Non parlamo Italiano. Lo Italkit. Garnix.«

»Va bene«, antwortete der Generalmajor.« Gloria mundi.« Oder so ähnlich.

Infolgedessen wandte ich mich - einem allgemeinen italienischen Trend folgend - nach links und geriet nach einigen Umwegen tatsächlich in die Gepäckhalle. Auf zwölf oval angelegten Fließbändern tauchten Prozessionen von Koffern aus dem Nichts empor, machten gravitätisch die Runde und verschwanden wieder. Leider war nirgends ein Zeichen zu sehen, welche Prozession zu welchem Flugzeug gehörte. Zahllose Touristen, aus allen Teilen der Welt zur Erholung und Entspannung ins wunderschöne Italien gereist, rannten wie die Irren hin und her, um nach ihren Koffern Ausschau zu halten, die ihrerseits in einem unerschütterlichen Reigen auf ovalem Fließband an ihnen vorbeizogen.

In der Nähe standen ein paar italienische Flughafenbeamte und unterhielten sich lebhaft über die Ereignisse des Tages. Ich trat an sie heran: »El Al«, sagte ich. »Israel. Wo ist mein Koffer? El Al.«

Sie gaben mir durch Gebärdensprache zu verstehen, dass sie mich nicht verstanden, und diskutierten weiter. Die Hitze war mittlerweile ein wenig angestiegen und hielt auf dem am Toten Meer üblichen Durchschnitt. Einige meiner Fluggefährten hatten sich ihrer Röcke und Hemden entledigt und sausten mit nacktem Oberkörper die Fließbänder entlang, von eins bis zwölf. Eine ältere, vermutlich vom Hitzschlag getroffene Dame setzte sich zwischen zwei langsam dahinfließende Gepäckstücke und verschwand im Nichts. Niemand hielt sie auf.

Was mich betrifft, so entdeckte ich plötzlich in einer entlegenen Ecke der Halle meinen Koffer. Die Gurte waren abgerissen, aber das Schloss hatte die Prüfung bestanden. Ich sah mich nach einem der neuerdings so beliebten Schiebewägelchen um, aber es gab keines. Es gab auch keinen Träger.

Wahrscheinlich hatten sie alle das zweifellos nahe gelegene Buffet aufgesucht und labten sich an einem kalten Bier.

Da man mich vor der Witterung in Europa gewarnt und mir dringend geraten hatte, warme Überkleider und Galoschen mitzunehmen, war mein Koffer sehr schwer. Es gelang mir trotzdem, ihn aus dem Gebäude hinauszuzerren.

Draußen - ich sah es mit schweißgebadeter Erleichterung - standen viele Taxis, allerdings ohne Fahrer, aber dafür mit einer schier unabsehbaren Schlange wartender Touristen. Ich stellte mich am Ende an und wartete geduldig etwa eine Stunde. Dann begann in mir der Verdacht aufzukeimen, dass da irgendetwas nicht stimmte, denn in der ganzen Zeit war kein einziges Taxi abgefahren.

Mein Blick fiel auf eine Gruppe unverkennbarer Römer, die sich ein wenig abseits zusammengerottet hatten und friedlich rauchten.

»Warum no Taxi?« fragte ich sie. »Ich Tourist. Mio Turisto. Will Taxi.«

Zu meiner Freude verstanden sie mein Italienisch, weshalb sie englisch antworteten:

»Streik. Fahrer, Chauffeure, Taxilenker - tutti streiken.«

Auch ich bediente mich daraufhin der englischen Sprache, und zwar in zornigem Tonfall:

»Warum lassen Sie dann alle diese Leute warten? Warum sagen Sie ihnen nicht, dass gestreikt wird?« »Vincitor del padre mio«, lautete die abweisende Antwort. »Sacro fundamente.«

Sosehr ich italienische Opern liebe - auf Flughäfen habe ich nichts für sie übrig. Ich schleppte meinen Koffer keuchend zum nächsten Bus und erkundigte mich bei den Glücklichen, die drinnen saßen, wohin die Fahrt ginge. Sie wussten es nicht. Wie sich zeigte, hatten sie den Bus nur um der freien Sitzgelegenheiten willen bestiegen. Ich wandte mich an den Fahrer:

»Mio Turisto. Mio Hotel. Autobus - Hotel?«

Der Mann glotzte mich an und zuckte die Achseln. Ganz offenkundig hatte er keine Ahnung, was ich von ihm wollte, und das war ihm nicht übelzunehmen. Er sieht einen eben angekommenen Fluggast mit einem Koffer in der Hand und hört die Worte »Autobus« und »Hotel« - wie soll er erraten, was damit gemeint ist?

Ich stieß mehrere ungarische Flüche aus. Das brachte ihn auf den Gedanken, dass ich ein Fremder sein könnte.

Er deutete auf einen Kiosk im Innern der Halle, der die Aufschrift HOTEL SERVICE trug und von einer verzweifelten Menschenmenge umlagert war. Im Innern des Verschlags befand sich niemand. Ich fragte eine sichtlich verschlafene Dame, wie lange sie schon hier wartete. Seit den frühen Morgenstunden, sagte sie und hielt sich nur mühsam aufrecht. Um sie zu beleben, zog ich sie in ein Gespräch über Aufstieg und Fall des Römischen Imperiums. Wir kamen zu dem Ergebnis, dass der Fall keine Überraschung wäre.

Dann machte sich bei mir eine Regung geltend, die ich als Hunger agnoszierte. Nun ist es für einen Mann mit einem siebzig Pfund schweren Koffer in der Hand gar nicht einfach, auf Nahrungssuche zu gehen. Deshalb zog ich es vor, mich unter dem Ansatz eines mondän angelegten Treppenaufgangs zu verkriechen und in dieser gemütlichen Nische den nächsten Regierungswechsel abzuwarten.

Und dann geschah das Wunder. Ein bildhübscher Jüngling kam auf mich zu, klopfte mir zart auf die Schulter und fragte:

»Hotel? Du Hotel?«

Es war das erste Mal im Leben, dass ich einen Engel vor mir sah.

»Ja«, seufzte ich. »Ich Hotel. Ja Hotel. Si Hotel.«

Der Engel hielt mir seine sämtlichen Finger unter die Nase, insgesamt ihrer zwölf.

»Zwölftausend«, sagte er. »Zwölftausend Lire. Duodeci mille. Du verstehen?«

Ich verstand. Ich hätte ihn in diesem Augenblick auch als Universalerben eingesetzt.

Wir verließen die Halle und bestiegen das Auto des Engels, Baujahr 1946, aber für mich sah es aus wie Jupiters Sonnenwagen. Unterwegs plauderten wir miteinander, so gut es ging, etwa indem ich ihn fragte, wie weit es zum Hotel wäre, und indem er antwortete: zwölftausend.

Endlich erreichten wir Rom, die ewige Stadt. Ein beglückender Anblick, doppelt beglückend nach allem, was ich durchlitten hatte. Diese Statuen! Diese Piazzas! Diese Pizzas! Und dazu der wunderbare Lärm, die wogenden Menschenmassen, die Hitze, die bröckelnden Ruinen! Wir kamen am Colosseum vorbei, wo Nero die christlichen Touristen zerfleischen ließ. Wie alt es sei, fragte ich.

Fünfzehntausend, sagte der Engel, und das klärte sich bald genug auf: Vor dem Hotel angelangt, schnappte er meinen Koffer, trug ihn zum Empfang und gab mir bekannt, dass er 12.000 Lire für die Fahrt bekäme und 3.000 fürs Koffertragen. Meinen Hinweis, dass ich ihm diese Leistung nicht abverlangt hätte, beantwortete er mit einer längeren Opernarie. Wir einigten uns auf 14.500 Lire und schieden als Freunde.

Der Empfangschef wusste nichts von einer Buchung, hatte meinen Namen noch nie gehört und hatte kein Zimmer, nein, leider, bedaure, wir sind überfüllt.

Ich verlangte sofort mit meinem Reisebüro in Israel zu sprechen.

Bitte, hier in die Telefonzelle.

Danke.

Zu meiner freudigen Überraschung sprach das Telefonfräulein, mit dem ich's zu tun bekam, außer Italienisch auch noch Deutsch.

Ich fragte sie, wie lange die Verbindung nach Tel Aviv dauern würde.

Das wisse sie nicht, sagte sie. Je nachdem. Hängt davon ab.

Immerhin, beharrte ich. Fünf Minuten? Sechs Stunden? Zwei Tage?

Das wisse sie nicht.

Aber sie müsse doch wissen, wie lange es im allgemeinen dauert?

Das wisse sie nicht.

Ob es vielleicht jemanden gebe, der es weiß?

Das wisse sie nicht.

Was ich jetzt also tun sollte?

Das wisse sie nicht.

Aber sie wusste es wenigstens auf Deutsch nicht.

Die Woche in der Telefonzelle verging erstaunlich rasch, und die Verpflegung war erstaunlich gut.

Am Donnerstag, kurz nach dem Frühstück, bekam ich die gewünschte Verbindung.

»Nu?« hörte ich Schmuels Stimme aus Tel Aviv. »Was willst du?«

»Nach Hause«, stöhnte ich. »Zurück in das schönste, fortschrittlichste, bestfunktionierende Land der Welt.« Die israelische Regierung sollte Massenreisen nach Italien finanzieren. Es würde die Moral unserer Bevölkerung heben.

Tagungen müssen sein

Der Einwandererstrom nach Israel strömt nicht mehr so wie früher. Er ist ein Bach geworden, und in unsicheren Zeiten reduziert er sich zu einem Rinnsal. Trotzdem wäre es ein Irrtum, nun etwa anzunehmen, dass im Hafen von Tel Aviv oder Haifa und auf dem Flugplatz Lod kein Verkehr herrscht. Er herrscht sehr wohl. Allerdings wird er in der Hauptsache weder von Einwanderern noch von Touristen bestritten, sondern von Organisationen und Körperschaften, die sich längst zu einem allseits geschätzten Bestandteil der israelischen Landschaft entwickelt haben.

Unseren Tageszeitungen, die über die wichtigsten Ereignisse in Israel immer auf dem laufenden sind, wenn auch langsam, ist neuerdings zu entnehmen, dass die Bürgermeister zweier führender Städte miteinander in harter Fehde liegen: Teddy Kollek, das weltliche Oberhaupt Jerusalems, will seiner Metropole das alleinige Veranstaltungsrecht für internationale Kongresse sichern - ein Begehren, dem sein Widerpart Lahat in Tel Aviv den stolzen Ausspruch entgegensetzt: »Jerusalem hat vielleicht den besseren Ruf, aber wir haben die größeren Schulden.«

Damit will gesagt sein, dass an jedem Kongress, der seinen Namen verdient, auch die als Gastgeber fungierende Stadtverwaltung zu verdienen pflegt. Deshalb lautet das Stoßgebet des durchschnittlichen Bürgermeisters: »Herr des Himmels und der Erde, unsere tägliche Tagung gib uns heute oder spätestens morgen!« Und der Herr in seiner grenzenlosen Huld und Güte erhebt seine Stimme und spricht zu den Orthopäden der Welt wie folgt: »Machet euch auf und versammelt euch in Natania im Lande Israel, und verweilet dort sechs Tage, und tuet nichts.« Und die Heilkundigen für die Schäden unserer Bewegungsorgane strömen nach Natania und sonnen sich am Meeresstrand und wiegen sich auf den Wogen und geben viel Geld aus, welches sie in vielen fremden Währungen mit sich bringen.

Früher einmal verbuchte man dieses Phänomen unter dem Kennwort »Völkerwanderung«. Heute spricht man von internationalen oder auch Welt-Kongressen. Einmal im Jahr - zumeist im Frühling, wenn die Vorbereitungszeit für die Sommerferien anbricht - verspüren sämtliche Uro-, Grapho-, Meteoro- und Dermatologen der Welt den unwiderstehlichen Zwang, irgendwo für eine Woche zusammenzukommen und, wie es im Hippie-Jargon heißt, ein Fass aufzumachen. Die Kosten werden entweder von einer einschlägigen Körperschaft oder einer Regierungsstelle getragen, also in jedem Falle von dir, lieber Leser und Steuerzahler.

Die Zahl der Teilnehmer an solchen Veranstaltungen ist immer sehr groß. Gewiss, die Delegierten zum Internationalen Kaninchenzüchtertreffen in Belfast können auf Kaninchenzüchter und ihre Verwandten beschränkt werden, aber unter einem Titel wie »XVIII. Weltkongress für Gedankenfreiheit« ist die Teilnahme praktisch unbegrenzt und erfordert keine sachliche Schulung, steht also auch Politikern offen. Das geheime Kongress-Komitee unseres Parlaments ist ungemein fruchtbar in der Erfindung zugkräftiger Veranstaltungstitel: »Konferenz zur Regelung sachlicher Eingaben«, »Seminar über die Ursachen ökonomischer Stabilitätsschwankungen« und dergleichen mehr. Erfahrungsgemäß empfiehlt es sich, dem zu beratenden Thema eine Prise Sozialismus beizumengen. Das garantiert einen Massenbesuch mit abschließendem Wochenendausflug nach Monte Carlo, wo im Casino die »Internationale« gesungen werden kann.

Ursprung der meisten internationalen Treffen ist ein Loch im Budget der Stadtverwaltung. In diesem Loch setzen sich die Stadtväter zusammen und beraten, wie der zu veranstaltende Kongress heißen soll. Fünfte Welthomöopathentagung? Symposion der Violinschlüsselverbraucher? Nachdem sie einen attraktiven Namen gefunden haben, verschicken sie die Einladungen, reservieren in einem Hotel der Luxusklasse - auf deine Kosten, lieber Leser - ganze Stockwerke für die Delegierten und bereiten kleine Kennkarten vor, die auf dem Rockaufschlag zu tragen sind und aus denen hervorgeht, dass man Herrn Faderico Garcia Goldberg (Honduras) vor sich hat.

Der erste Punkt auf jeder Tagesordnung ist ein Galadiner, bestehend aus mehreren Gängen abgedroschener Phrasen, die in der Begrüßungsansprache eines halbwegs fachkundigen Ministers gipfeln. Währenddessen unterhalten sich die Routiniers an der Tafel über den Dollarkurs auf dem schwarzen Markt, über die lokalen Einkaufsmöglichkeiten und über das städtische Nachtleben. Der Minister wird gut tun, seine Rede vor Beginn der Speisenfolge zu halten, nicht etwa nachher, sonst hat er keine Zuhörer.

Selbstverständlich müssen an einem internationalen Kongress auch einheimische Vertreter teilnehmen. Das wird vom Organisationskomitee auf ungefähr folgende Art geregelt:

»Zugesagt haben bisher der Präsident und die First Lady«, gibt der Sekretär bekannt. »Außerdem kommt der Innenminister und der Parlamentsvorsitzende mit Gattin. Das ist alles, und es ist nicht genug. Wir sollten, damit die Sache nach etwas aussieht, noch den Chef des Generalstabes einladen.

Auch die Führer der Oppositionsparteien und die beiden Oberrabbiner. Und natürlich die Jewish Agency, die zionistischen Frauenvereine und sämtliche Wohltätigkeitsorganisationen. Die Reporter können auf den Fensterbänken sitzen, ferner der Makkabi-Weltverband, die übrigen Sportverbände, die Krankenkassen, die Helena-Rubinstein-Filialen und Dr. Zweigental, der mein Cousin ist.«

»Ihr Cousin ist gestrichen«, sagt der Vorsitzende. »Wir veranstalten einen Kongress und kein Picknick.« Eingeladen wird schließlich das ganze Land mit Ausnahme Dr. Zweigentals.

Das eigentliche Gefahrenmoment internationaler Kongresse liegt im Diskussionsthema. Am dritten oder vierten Tag des organisierten Nichtstuns regt sich allenthalben das dumpfe Gefühl, dass man über die Frage, zu deren Behandlung der Kongress einberufen wurde, denn doch ein wenig sprechen müsse, worauf der norwegische Delegierte, ein hochangesehener Gelehrter, einen dreistündigen Vortrag über die »Einflüsse der Semantik auf die Wirtschaftsplanung der Entwicklungsländer« hält, und zwar in seiner Muttersprache. Es ist sehr bitter.

Ich, zum Beispiel, bewahre eine peinliche Erinnerung an den »IX. Weltkongress zur Wahrung der Menschenrechte« in Berlin. Dort bin ich mit lautem Plumps von meinem Sitz zu Boden gerutscht. Man hatte mich eingeladen, weil die Jüdische Gemeinde, die auf einem gleichzeitig stattfindenden Wohltätigkeitsbasar meine Bücher mit dem Autogramm des Autors zum Verkauf anbot, einen Teil der Flugkosten übernahm, und da konnte ich nicht nein sagen. Beim Bankett und auf den verschiedenen Empfängen stand ich meinen Mann, aber im Verlauf der Kongressdebatten rezitierte ein senegalesischer Dichter eigene Freiheitslieder durch die Nase, und dem war ich nicht gewachsen.

Dessen ungeachtet wohnte ich den weiteren Sitzungen bei, ich musste ja irgendwo essen, und fand mich auch beim Abschlussempfang ein, wo ich dem Vorsitzenden des Kongresses kräftig die Hand schüttelte. Seine Frage an den neben ihm stehenden Dolmetscher: »Wer ist das?«

beantwortete ich dahingehend, dass ich der Geist des gequälten jüdischen Volkes sei.

Der Vorsitzende nickte freundlich und meinte, auch er hätte auf dieser Tagung viel gelitten.

Kongresse sind, im Großen und Ganzen, eine gute Sache. Sie sind gut für die Gäste wie für die Veranstalter, sie sind gut für die Hotels und Restaurants der gastgebenden Stadt, für die Devisenhändler und die Massagesalons. Weniger gut sind sie für den Steuerzahler, aber der ist ohnehin in der Minorität. Die Majorität ist beim Kongress.