Verbotene Spiele
Kommt zu mir, liebe Kinder, und setzt euch um mich herum. Wenn ihr mir versprecht, ruhig zuzuhören, erzählt euch Onkel Jossele die Geschichte von einem Mann namens Sulzbaum. Es ist eine wahre Geschichte, ihr könnt euren Papi fragen. Herr Sulzbaum war ein bescheidener Mann, der still und friedlich dahinlebte, ohne mit seinem Erdenlos zu hadern.
Er nannte eine kleine Familie sein eigen: eine liebende Frau wie eure Mutti und zwei schlimme Buben wie ihr selbst, haha. Herr Sulzbaum war ein kleiner Angestellter in einem großen Betrieb. Sein Einkommen war karg, aber die Seinen brauchten niemals zu hungern.
Eines Abends hatte Herr Sulzbaum Gäste bei sich, und als sie so beisammensaßen, schlug er ihnen des Spaßes halber vor, Karten zu spielen. Gewiss, liebe Kinder, habt ihr schon von einem Kartenspiel gehört, welches »Poker« heißt. Erst vor kurzem haben unsere Gerichte entschieden, dass es zu den verbotenen Spielen gehört. Herr Sulzbaum aber sagte: »Warum nicht? Wir sind doch unter Freunden. Es wird ein freundliches kleines Spielchen werden.«
Um es kurz zu machen: Herr Sulzbaum gewann an diesem Abend sechs Pfund. Das war sehr viel Geld für ihn, und deshalb spielte er am nächsten Abend wieder. Und auch am übernächsten. Und dann Nacht für Nacht. Und meistens gewann er. Das Leben war sehr schön.
Wen das Laster des Kartenspiels einmal in den Klauen hat, den lässt es so geschwind nicht wieder los. Herr Sulzbaum gab sich mit freundlichen kleinen Spielchen nicht länger zufrieden. Er wurde Stammgast in den Spielklubs. Ein Spielklub, liebe Kinder, ist ein böses, finsteres Haus, das von der Polizei geschlossen wird, kaum dass sie von seiner Wiedereröffnung erfährt. Anfangs blieb das Glück Herrn Sulzbaum treu. Er gewann auch in den Spielklubs, er gewann sogar recht ansehnliche Beträge und kaufte für seine kleine Familie eine große Wohnung mit Waschmaschine und allem Zubehör. Sein treues Weib wurde nicht müde, ihn zu warnen: »Sulzbaum, Sulzbaum«, sagte sie, »mit dir wird es ein schlimmes Ende nehmen.« Aber Sulzbaum lachte sie aus: »Wo steht es denn geschrieben, dass jeder Mensch beim Kartenspiel verlieren muss? Da die meisten Menschen verlieren, muss es ja auch welche geben, die gewinnen.«
Immer höher wurden die Einsätze, um die Herr Sulzbaum spielte, und dazu brauchte er immer mehr Geld. Was aber tat Herr Sulzbaum, um sich dieses Geld zu verschaffen? Nun liebe Kinder? Was tat er wohl? Er nahm es aus der Kasse des Betriebs, in dem er angestellt war. »Morgen gebe ich es wieder zurück«, beruhigte er sein Gewissen. »Niemand wird etwas merken.« Wahrscheinlich wisst ihr schon, liebe Kinder, wie die Geschichte weitergeht. Wenn man einmal auf die schiefe Bahn geraten ist, gibt es kein Halten mehr. Nacht für Nacht wurden die Einsätze höher, und als er sich eines Morgens bleich und übernächtig vom Spieltisch erhob, war er ein steinreicher Mann. (Ich muss aus Gerechtigkeitsgründen zugeben, dass Herr Sulzbaum wirklich sehr gut Poker spielt.) In knappen sechs Monaten hatte er ein gewaltiges Vermögen gewonnen. Das veruntreute Geld gab er nicht mehr in die Betriebskasse zurück, denn in der Zwischenzeit hatte er den ganzen Betrieb erworben, und dazu noch eine Privatvilla, zwei Autos und eine gesellschaftliche Position. Heute ist Herr Sulzbaum einer der angesehensten Bürger unseres Landes. Seine beiden Söhne genießen eine hervorragende Erziehung und bekommen ganze Wagenladungen von Spielzeug geschenkt.
Moral: Geht schlafen, liebe Kinder, und kränkt euch nicht zu sehr, dass euer Papi ein schlechter Pokerspieler.
Ein vergnüglicher Abend
Wir saßen auf der Terrasse, schlürften unseren Espresso und warfen sehnsüchtige Blicke auf die Parkverbotstafeln entlang des Gehsteigs. Um diese dämmerige Abendstunde pflegten wir das
»Espresso-Gambit«
zu eröffnen, auch »Auto-Adoptivspiel« genannt. Aber noch wollte sich kein Verkehrspolizist zeigen.
Es dauerte eine gute Stunde, ehe der erste Vertreter dieser liebenswerten Spezies auftauchte, schlank, rank, schlenkernden Schritts und gestutzten Schnurrbarts.
In fiebriger Anspannung warteten wir, bis er vor einem knallroten, zwischen zwei Parkverbotstafeln parkenden Sportwagen haltmachte und den Strafzettelblock aus seiner Brusttasche zog. Als er den Bleistift ansetzte, also genau im richtigen Augenblick, sprang Jossele auf und stürzte hinzu:
»Halt, halt!« keuchte er. »Ich bin da nur für eine Minute hineingegangen . . . nur um rasch einen Espresso zu trinken . . .«
»Herr«, antwortete das Gesetz, »erzählen Sie das dem Verkehrsrichter.«
»Wenn ich doch aber wirklich nur für eine Minute . . .«
»Sie stören eine Amtshandlung, Herr!«
»Wirklich nur für einen raschen Espresso . . . Wie wär's und Sie drücken ausnahmsweise einmal ein Auge zu, Inspektor?«
Der Polizist füllte mit genießerischer Langsamkeit den Strafzettel aus, befestigte ihn am Scheibenwischer und sah Jossele durchdringend an:
»Können Sie lesen, Herr?«
»Gewiss.«
»Dann lesen Sie, was auf dieser Tafel steht!«
»Parken verboten von o bis 24 Uhr«, murmelte Jossele schuldbewusst. »Aber wegen einer lächerlichen Minute . . . wegen einer solchen Lappalie . . .«
»Noch eine einzige derartige Bemerkung, Herr, und ich bringe auch den Paragraph 17 in Anwendung, weil Sie zu weit vom Randstein geparkt haben.«
»Sehen Sie?« rief Jossele. »Das ist der Grund, warum die Menschen Sie hassen.«
»Paragraph 17«, antwortete der Ordnungshüter, während er ein neues Strafmandat ausschrieb.
»Und wenn Sie mich noch lange provozieren, verhafte ich Sie.« »Warum?«
»Ich schulde Ihnen keine Erklärungen, Herr. Ihre Papiere!«
Jossele reichte sie ihm.
»Herr! Ihre Krankenkasse interessiert mich nicht! Wo ist Ihr Führerschein?«
»Ich habe keinen.«
»Sie haben keinen? Paragraph 23. Haben Sie einen Zulassungsschein? Eine Steuerkarte? Eine Unfallversicherung?«
»Nein.«
»Nein?«
»Nein. Ich habe ja auch keinen Wagen.«
Stille. Lastende, lähmende Stille.
»Sie haben . . . keinen . . . Wagen?« Das Auge des Gesetzes zwinkerte nervös. »Ja, aber . . . wem gehört dann dieses rote Cabriolet?«
»Wie soll ich das wissen?« replizierte Jossele, nun schon ein wenig verärgert. »Ich bin ja nur für einen raschen Espresso hier ins Cafe gegangen. Das ist alles, und das versuche ich Ihnen die ganze Zeit zu erklären. Aber Sie hören ja nicht zu . . .«
Das Amtsorgan erbleichte. Seine Kinnladen bewegten sich lautlos, wenn auch rhythmisch.
Langsam zog er das zweite Strafmandat hinter dem Scheibenwischer hervor und zerriss es in kleine Teilchen, einen Ausdruck unendlicher Trauer in seinem Gesicht. Dann verschwand er in der Dunkelheit.
Alles in allem: ein vergnüglicher Abend.
ROHMATERIAL FÜR DREI GESCHICHTEN
»Jossele«, stöhnte ich aus vertrockneter Kehle, »hat es schon jemals einen so irrsinnig heißen Sommer gegeben?«
»Ich erinnere mich nur an einen einzigen«, antwortete Jossele. »Voriges Jahr.« Wir saßen bereits seit einer Stunde über unserem Mokka, und es war uns noch kein einziger konstruktiver Gedanke gekommen. Der Ventilator spie uns die angestaute Hitze ins Gesicht, die beiden Kellner waren sogar zu faul, die Zeitung zu lesen, nichts rührte sich. Lähmende, lastende Leere ringsum. Und bis zum Abend sollte ich meinen Beitrag für die Wochenendausgabe in der Redaktion abliefern.
»Hast du nicht irgendwelches Material für eine Geschichte, Jossele?« fragte ich verzweifelt.
Jossele wusste Rat, wenn auch langsam:
»Eine Geschichte. Hm. Heutzutage muss eine Geschichte aus dem Leben gegriffen sein. Warum schreibst du nicht über den sauern Grünspan?«
»Über wen?«
»Er hieß der saure Grünspan«, hob Jossele an, »weil er von mürrischer Wesensart war und ständig einen säuerlichen Gesichtsausdruck mit sich herumtrug. Niemand im Amt konnte ihn leiden.
Er bekleidete einen untergeordneten Posten in einer Unterabteilung des Finanzministeriums und wurde nie befördert. Alle wurden mit der Zeit befördert, nur er nicht. Kein Wunder, dass er die ganze Welt hasste. Nur einmal in der Woche hellten sich seine säuerlichen Gesichtszüge ein wenig auf.
Immer nach der Gehaltsauszahlung zeigte er seinen Kollegen die zwei Lotterielose, die er gekauft hatte, und sagte: >Sollte ich jemals den Haupttreffer machen, dann verschwinde ich eine Minute später aus dieser Pestgrube und will nie wieder etwas mit euch zu tun haben!< Nachdem er das oft genug gesagt hatte, kamen seine Kollegen auf den nicht gerade sensationellen, aber durchaus begreiflichen Einfall, die Nummern seiner beiden Lotterielose zu notieren, und am folgenden Freitag stürzte einer von ihnen mit der Nachricht ins Zimmer: soeben wären im Radio die Nummern der beiden Haupttreffer verlautbart worden, 449666 und 83272 mit je 45.000 Pfund. Alle zogen zu Kontrollzwecken ihre Lose hervor, und der saure Grünspan fiel beinahe in Ohnmacht, denn er sah, dass seine Nummern gewonnen hatten. Schon riss ein anderer die Tür auf: >Habt ihr gehört? Die zwei Haupttreffer entfallen auf die Lose 449666 und 83272<! Und als ein dritter die gleiche Nachricht brachte, schwanden Grünspans letzte Zweifel - er war ein reicher Mann.
>Das ist der Augenblick, auf den ich gewartet habe!< zischte er, schob seine 90.000- Pfund-Lose in die Tasche und eilte in den dritten Stock, ins Büro des Ministers. >Herr!< rief er ihm zu, >seit Jahren sehne ich die Gelegenheit herbei, Ihnen meine Meinung ins Gesicht zu sagen. Jetzt ist es soweit. Sie sind ein Arschloch, Ihre Beamten sind unfähige Schwachköpfe oder Betrüger, und Ihr Ministerium ist eine Brutstätte der Korruption. Ich werde dafür sorgen, dass besonders die letztgenannte Tatsache allgemein bekannt wird. Worauf Sie sich verlassen können.< Damit ließ Grünspan den verdutzten Minister sitzen, ging in sein Zimmer zurück, packte seine Sachen und verschwand, ohne sich von irgendjemandem zu verabschieden. Erst als am nächsten Tag die Ziehungslisten herauskamen, stellte er fest, dass er einem Scherz aufgesessen war.« »Das ist aber eine grausame Geschichte, Jossele«, sagte ich. »Und ein grausames Ende.«
»Wieso grausam?« gab Jossele zurück. »Das Ende war, dass der Minister den sauern Grünspan tags darauf zum Generalsekretär ernannte.«
»Nun ja.« Ich brauchte eine kleine Pause, um meine Gelassenheit zurückzugewinnen. »So etwas war ja vorauszusehen. Aber im ganzen ist die Geschichte so negativ, dass ich sie lieber nicht schreiben möchte.«
»Wie du meinst«, sagte Jossele. »Dann schreib über die Tragödie der dicken Selma . . .«
»Sie war« - begann Jossele seinen Bericht - »die ewige Braut unseres Cafetiers Gusti. Ein prachtvolles Mädel, treu, liebevoll, häuslich und, wie gesagt, sehr dick. Die beiden lebten seit Jahren zusammen, aber von Hochzeit war nie die Rede. Das fiel der dicken Selma allmählich auf, und nach einigem Nachdenken entdeckte sie auch die Ursache. >Gut<, sprach sie zu sich, >ich werde abnehmen. Wenn ich erst einmal mein überschüssiges Fett los bin, ist alles in Ordnung.< Was tut man, um abzunehmen? Man lässt sich massieren. Gusti kannte eine Masseuse, mit der er auf bestem Fuß stand, ohne dass es zu etwas geführt hätte - vielleicht weil auch diese Dame sehr dick war, genau wie Selma. Sie wusste um das Geheimnis der Abmagerungsmassage und machte sich erbötig, Selma innerhalb Monatsfrist zu entfetten. Du kannst dir denken, wie es dabei zugegangen ist. Die dicke Selma lag auf der Pritsche, und die Masseuse fiel über sie her, schlug mit den Handkanten auf sie ein, knetete sie, rollte sie vom Bauch auf den Rücken und vom Rücken auf den Bauch, Tag für Tag, manchmal drei Stunden lang. Mit Unmut beobachtete Gusti den Erfolg der Behandlung. Ein Pfund nach dem anderen verschwand, das Fett wich fraulichem Charme, bis dahin verborgene weibliche Reize traten zutage, und nach einem Monat führte Gusti die Geliebte seines Herzens zum Altar. Alle Hochzeitsgäste waren sich darüber einig, dass sie noch nie eine so hübsche, schlanke Braut gesehen hatten wie Abigail.«
»Abigail?« unterbrach ich. »Wer ist Abigail?«
»Die Masseuse«, antwortete Jossele. »Oder hast du geglaubt, die dicke Selma hätte vom Massieren abgenommen?«
»Natürlich nicht.« Diesmal fasste ich mich etwas rascher. »Das war mir von vornherein klar. Aber die Geschichte eignet sich nicht für mich. Sie widerspricht meinen Moralbegriffen. Einen Mann, der gleich mit zwei Frauen in Sünde lebt, kann ich nicht brauchen.« »Dann bleibt nur noch Coco, der Bildhauer.« Jossele holte Atem und begann.
»Es ist eine mystische, fast schon ein wenig unheimliche Geschichte aus den Gefilden der Kunst und Kultur. Coco, ein nicht unbegabter Bildhauer, hatte in Frankreich und Italien ausgestellt und mehrere Preise gewonnen, aber er fühlte, dass er sein wirkliches Meisterwerk erst noch schaffen musste. Eines Morgens überkam ihn die Inspiration mit solcher Macht, dass er sein Atelier versperrte und fieberhaft an der Skulptur eines jungen Frauenkörpers zu arbeiten begann. Er geriet in einen wahren Taumel der Kreativität, unterbrach seine Arbeit immer nur für ganz kurze Zeit, um die Notdurft seines Leibes zu stillen, und ließ die Statue keine Minute lang allein. Zum Schluss - und niemand, der
>My Fair Lady< gesehen hat, wird davon überrascht sein - verliebte er sich in seine eigene Schöpfung. Er nannte sie >Venus von Gilead<, und wenn er des Nachts schlaflos auf seiner Bettstatt lag, flüsterte er ihren Namen leise und zärtlich in die Dunkelheit. Das Wunder geschah - die Götter erbarmten sich seiner und hauchten der Statue Leben ein. In einer sternklaren Nacht verließ die Venus von Gilead ihr Piedestal, trat an Cocos Bett, beugte sich zu ihm nieder und sagte: >Ich liebe dich!< Auf Erden lebt seither kein glücklicherer Mensch als Coco. Nur ein einziger Wermutstropfen ist in seine Seligkeit gefallen: er kann sich mit seiner Geliebten nicht in der Öffentlichkeit zeigen.«
»Warum nicht?« fragte ich. »Soviel ich weiß, ist Coco Junggeselle?«
»Das stimmt«, bestätigte Jossele. »Aber seine Geliebte besteht aus einem nierenförmigen Marmorblock mit einem ovalen Loch in der Mitte und zwei schrägen Metallstangen, die oben durch eine Dachrinne verbunden sind. Ich vergaß zu sagen, dass Coco ein abstrakter Bildhauer ist.«
Wo ist die Zerkowitz-Strasse?
Jossele und ich schlenderten den Rothschild-Boulevard entlang. Der Gesprächsstoff war uns schon seit einiger Zeit ausgegangen, und ein neuer wollte uns nicht einfallen. Plötzlich sah ich, wie Jossele sich straffte, und hörte ihn das rätselhafte Wort »Zerkowitz« vor sich hin murmeln. Gleich darauf trat er an einen unschuldigen Fußgänger heran: »Bitte, können Sie mir sagen, wo die Zerkowitz-Straße ist?«
»Welche Nummer suchen Sie?« fragte der unschuldige Fußgänger.
»Nummer 67. Dritter Stock.«
»Zerkowitz . . . Zerkowitz . . . Sehen Sie die breite Querstraße dort unten? Ja? Also die Zerkowitz-Straße ist die erste Abzweigung links.«
»Nicht die zweite?«
»Warum soll es die zweite sein?«
»Ich dachte, es wäre die zweite.«
Unser Fußgänger begann leichte Anzeichen von Ungeduld zu zeigen:
»Wenn es die zweite wäre, hätte ich Ihnen gesagt, dass es die zweite ist. Aber es ist die erste.«
»Wieso wissen Sie das?«
»Was meinen Sie - wieso ich das weiß?«
»Ich meine: wohnen Sie vielleicht in dieser Straße?« »Ein Freund von mir wohnt dort.«
»Bobby Grossmann?«
»Nein. Ein Ingenieur.«
»Wer sagt Ihnen, dass Bobby Grossmann kein Ingenieur ist?«
»Entschuldigen Sie - ich kenne Herrn Grossmann gar nicht.«
»Natürlich kennen Sie ihn nicht. Die erste Straße nach links ist nämlich der Birnbaum-Boulevard, nicht die Zerkowitz-Straße.«
»Ja, das stimmt . . . Hm. Aber welche ist dann die Zerkowitz-Straße?«
Wenn man Jossele etwas fragt, bemüht er sich zu antworten. So auch jetzt:
»Zerkowitz . . . Zerkowitz . . . warten Sie. Sie gehen geradeaus, biegen in die erste Straße rechts ein, und dann ist es die dritte Querstraße links.«
»Danke vielmals«, sagte der unschuldige Fußgänger, der nicht mehr genau zu wissen scheint, woran er war. »Es tut mir leid, Sie belästigt zu haben.«
»Keine Ursache.«
Wir trennten uns. Der Unschuldige ging geradeaus, bog rechts ein und strebte nach links der Zerkowitz-Straße zu. Wahrscheinlich erklomm er im Haus Nr. 67 den dritten Stock, ehe ihm inne wurde, dass er dort nichts verloren hatte.
Jossele und ich ließen uns auf der nächsten Bank nieder. »Das Dumme ist«, sagte Jossele nach einer Weile, »dass es überhaupt keine Zerkowitz-Straße gibt.«
Gäste willkommen
Ich fragte Jossele, ob er den Sabbathvormittag nicht mit mir zusammen am Strand verbringen möchte.
»Das wird leider nicht gehen«, sagte Jossele. »Wegen meiner Bar-Mizwah.«
»Entschuldige, Jossele. Ich habe schlecht verstanden. Wessen Bar-Mizwah, sagtest du?«
»Das weiß ich nicht. Es interessiert mich auch nicht. Hauptsache ist: Bar-Mizwah. Willst du mitkommen?« Damit begann es. Jossele eröffnete mir, dass er schon seit vielen Jahren seine Sabbathvormittage regelmäßig im »Industriellen-Club« von Tel Aviv verbringt, weil dort immer etwas los sei - ein Empfang, eine Bar-Mizwah, eine Hochzeit. »In jedem Fall bekommt man sehr gut zu essen und zu trinken«, klärte er mich auf. »Dann geht man mit einem Mädchen oder mit einem kleineren Darlehen weg und hat eine schöne Erinnerung. Ich empfinde solche Sabbathvormittage als Krönung der Woche.«
Pünktlich um elf Uhr, angetan mit unseren dunkelsten Anzügen, fanden wir uns im Industriellenpalast ein. Unterwegs bat ich Jossele um Tipps für richtiges Verhalten, aber das lehnte er ab. Darauf müsse man von selbst kommen, meinte er, oder man täte besser, zu Hause zu bleiben.
Das einzige, was er mir raten könne: am Tag vorher nichts zu essen.
Einige tausend Personen waren bereits versammelt, als wir ankamen. Am Eingang stand ein gutgekleidetes, sichtlich wohlhabendes Ehepaar, das die Gäste in Empfang nahm und sehr erschöpft wirkte. Daneben trat ein dümmlich grinsender Knabe von einem Fuß auf den andern. Wir schlossen uns der langsam sich dahinschiebenden Schlange an.
»Maseltow!« sagten wir unisono, als wir vor den Eltern angelangt waren, und schüttelten ihnen herzlich die Hände. »Wir gratulieren!«
»Danke«, antworteten die Eltern unisono. »Wir freuen uns, dass Sie gekommen sind.«
Dann beugte sich Jossele zur eigentlichen Hauptperson nieder und tätschelte die Wangen des mannbar gewordenen Jünglings, der schamhaft errötete und ein verlegenes Kichern durch die Nase stieß.
»Wer sind die zwei?« hörte ich, als wir weitergingen, die Stimme der Mutter in meinem Rücken und hörte die Stimme des Vaters antworten: »Keine Ahnung. Wahrscheinlich von irgendeiner Gesandtschaft.«
Kaum hatten wir gemessenen Schrittes den großen Empfangssaal betreten, als Jossele ein schärferes Tempo vorlegte. »Rasch zum Buffet!« raunte er mir zu. »Jede Sekunde zählt. Man sollte es nicht glauben, aber manche Leute kommen nur her, um sich anzufressen. Wenn wir uns nicht beeilen, haben wir das Nachsehen.«
Die Brötchen waren ganz hervorragend, besonders die mit gehackter Gansleber. Wir aßen ihrer je zwanzig und spülten etwas Bier und Kognak nach, um Platz für die Würstchen und die Bäckereien zu schaffen, die bald darauf gereicht wurden. Schon nach einer halben Stunde fühlten wir uns wie zu Hause. Ich winkte einen Kellner herbei, der sich mit einem bereits geleerten Tablett davonmachen wollte, und trug ihm auf, mir eine Eisbombe zu verschaffen, aber schnell. Jossele bestellte ein Beefsteak und nachher eine Peche Melba. Einige Gläser Champagner gaben uns wieder ein wenig Aktionsfreiheit für die Ananas. Während des Essens machten wir die Bekanntschaft zweier Minister und baten sie um Posten. Dann interviewten wir den Rektor der Universität Jerusalem. Eine dicke Dame verteilte Freikarten fürs Theater. Wir nahmen sechs.
Nach zwei anregend verbrachten Stunden warf Jossele einen prüfenden Blick nach der Küchentür und winkte mich dann zum Ausgang. Jetzt käme nichts mehr, sagte er.
Wir passierten den großen Tisch, auf dem die Bar-Mizwah-Geschenke aufgeschichtet waren.
Jossele wählte eine Bibel und ein englisches Wörterbuch, das er schon lange gesucht hatte, ich entschied mich für eine Luxusausgabe von Shakespeares Werken und ein Paar Schlittschuhe.
Nächste Woche gehen wir zu einer Hochzeit.
DAS WERKSTATT-KABARETT
Seit Jossele sich einen Wagen gekauft hat, vergeuden wir unsere Zeit nicht mehr mit Theaterbesuchen. Wir veranstalten unser eigenes Werkstatt-Kabarett, gestern zum Beispiel in Onkel Bens Werkstatt. Onkel Ben ist Israels einziger Mechaniker mit Seele. Bei ihm wird man nicht geneppt.
Er betrachtet seine Kunden als menschliche Wesen.
Der Gedanke, ihn aufzusuchen, kam uns während einer kleinen Spazierfahrt auf der neuen Überlandstraße nach Haifa.
»Was für ein prachtvoller Wagen!« stellte Jossele mit hörbarer Genugtuung fest. »Fliegt nur so dahin. Kein Lärm, keine Fehlzündung, kein Stottern. Man sollte immer nur fabrikneue Wagen fahren.«
»Du hast recht«, bestätigte ich. »Was machen wir also?«
»Wir suchen eine Werkstatt auf.«
Onkel Ben empfing uns persönlich:
»Ärger mit dem Wagen?«
»Weiß der Teufel.« Jossele schüttelte besorgt den Kopf. »Irgendetwas stimmt nicht mit meinem Wagen.« Onkel Ben forderte ihn auf, den Motor laufen zu lassen, und stellte nach einigen Sekunden intensiven Abhorchens fest, es läge an den Ventilen. Sie wären abgenützt und müssten durch neue ersetzt werden.
»Was wird das kosten?« fragte Jossele.
»Sechzig Pfund.«
»In Ordnung.«
»Damit kein Missverständnis entsteht: sechzig Pfund für jedes Ventil«, verdeutlichte Onkel Ben.
»Macht für sechs Ventile 360 Pfund. Okay?«
»Okay.«
»Für das Einsetzen der Ventile bekomme ich 400 Pfund. Wie klingt das?« »Durchaus annehmbar.«
»Und würden Sie es für übertrieben halten, wenn ich Ihnen das Abmontieren der alten Ventile mit 600 Pfund berechne?«
»Nein, das würde ich nicht für übertrieben halten.« »Natürlich nicht. 600 Pfund fürs Abmontieren?
Da müsste ich ja verrückt sein. Aber ich mache Ihnen einen fairen Preis: 800 Pfund. Fair genug?«
»Gewiss. Es ist ja eine sehr anstrengende Arbeit.« »Eben. Sechs Ventile zu 800 Pfund macht 4800
Pfund. Zu teuer?«
»In keiner Weise.«
»Dann gehen Sie bitte hinüber ins Büro und hinterlegen Sie eine Anzahlung von 6000 Pfund.«
»Danke.«
»Nichts zu danken. Den Wagen lassen Sie gleich hier.« »Das ist nicht mein Wagen«, sagte Jossele. »Meinen Wagen bringe ich Ihnen morgen.«
»Und der hier?« Onkel Ben sah ein wenig dümmlich drein.
»Der ist gestern aus der Fabrik gekommen und in tadellosem Zustand.«
»Na schön«, ließ sich nach kurzer Pause Onkel Ben vernehmen. »Dann kommen Sie morgen her, und wir tauschen die Ventile aus.«
Einen nachdenklichen Meister zurücklassend, fuhren wir ab.
»Ich habe einen Fehler gemacht«, sagte Jossele nach einer Weile. »Ich hätte ihm den Wagen um 5400 Pfund verkaufen sollen - dann wäre ich ihm nur 600 für die Reparatur schuldig gewesen. Dass einem oft die simpelsten Lösungen nicht einfallen! Na, schadet nichts. Morgen fahren wir in die Werkstatt der Brüder Salomon und spielen einen Vergaser-Sketch . . .«