Alarm und Seelenfrieden

Was den technischen Fortschritt betrifft, so hält der winzige Fleck, der auf der Landkarte des Nahen Ostens den Staat Israel repräsentiert, natürlich keinen Vergleich mit dem hochindustrialisierten Westen aus. Man wird somit den Stolz ermessen können, der uns alle durchdrang, als eine israelische Elektronikfirma das ausgefeilteste Diebstahlsicherungsalarmsystem entwickelte, das jemals auf dem Weltmarkt angeboten wurde. Kurz darauf fielen die Konstruktionspläne direkt unter der Nase des Alarmsystems nächtlichen Einbrechern in die Hände. Die Fabrik zögerte keinen Augenblick, alle nötigen Konsequenzen zu ziehen, stellte einen alten Beduinen als Nachtwächter ein und verkauft seither ihr ausgefeiltes Produkt nur noch an israelische Bürger, vorzugsweise an solche, die ihre Nachbarn hassen.

Seit die schlechten Nachrichten, die wir regelmäßig zum Frühstück bekommen, um den täglichen Einbruchsdiebstahl bereichert wurden, hat sich im Lebensstil unserer Gartenvorstadt ein deutlicher Wandel vollzogen. Die Menschen trauen sich nicht mehr, ihr Haus zu verlassen. Sie fürchten, es könnte während ihrer Abwesenheit ausgeraubt werden - wie das erst unlängst Herrn Geiger geschah.

Er hatte sich in eine nahe gelegene Lebensmittelhandlung begeben, um ein halbes Dutzend Eier zu kaufen, und als er zurückkam, fehlte in seiner kahlgeplünderten Wohnung sogar der Kühlschrank. Bei der jetzt herrschenden Hitze ist so etwas sehr unangenehm.

Die Einbrecher waren in einem Fernlaster vorgefahren und durch die kunstvoll geöffnete Tür ins Innere des Hauses gelangt, ohne dass den Nachbarn etwas aufgefallen wäre. Sie hatten zwar das Verladen der Möbel beobachtet, aber sie nahmen an, dass die Geigers umziehen würden, und um solche Dinge kümmerten sie sich nicht. Auch als ein Einbruch in das Haus der Familie Melnitzky erfolgte und der Wachhund minutenlang bellte, begnügten sie sich damit, ihn zu beschimpfen.

Wahrscheinlich ist das verdammte Vieh wieder hinter einer Katze her, sagten sie.

Bei dieser neutralen Haltung konnte es nicht bleiben. Immer mehr Familien bekehrten sich zur Elektronik und versorgten ihre Häuser mit garantiert einbruchssicheren Alarmsystemen. Schließlich war auch an uns die Reihe.

Natürlich griffen wir nicht nach dem ersten besten System, das uns unterkam. Nach gründlicher Marktforschung stellten wir fest, dass alle die gleichen Fanggeräte enthielten, die gleichen Fotozellen und das gleiche Überschall-Auge, das bei der geringsten verdächtigen Bewegung im Haus sofort zu zwinkern beginnt. Deshalb war maßgebend, welche Lieferfirma am schnellsten einen Reparaturfachmann schickt, wenn mit der Alarmanlage etwas nicht stimmt. Bei Tula & Co. dauerte das angeblich nicht länger als vierundzwanzig Stunden. Wir entschieden uns für Tula & Co.

Bald war unser Haus mit einem Gewirr von furchterregenden Drähten umgeben, das selbst den verwegensten Einbrecher abschrecken musste. Wohlgefällig besah Tulas Techniker sein Werk.

»Okay«, sagte er. »Hier kommt nicht einmal eine Fliege herein.«

Als nächstes wurden wir über das absolut sichere Funktionieren der Alarmanlage informiert: Falls der elektrische Strom ausgeschaltet würde, träten die Batterien an seine Stelle, und im Falle untauglich gewordener Batterien käme ein eingebautes Notreservoir zum Tragen. Was aber, so begehrten wir weiter zu wissen, wenn es kein Dieb ist, der unsere Schwelle überschreitet, sondern wir selbst, des Hauses Eigentümer?

Ganz einfach, antwortete Tula & Co. Die Alarmsirene trete immer erst nach fünfzehn Sekunden in Aktion, so dass wir Zeit genug hätten, sie abzustellen. Das wäre schon deshalb ratsam, weil wir andernfalls ertauben würden.

Seither sind wir im Bilde. Wenn in unserer Straße eine Alarmsirene aufheult, wissen wir, dass Frau Blumenfeld wieder einmal vergessen hat, die Anlage abzustellen. Wir selbst fühlten uns völlig sicher und gingen noch am selben Tage aus. Unser Vertrauen hielt bis zur übernächsten Straßenecke an.

Dann blieb die beste Ehefrau von allen erbleichend stehen:

»Um Himmels willen«, flüsterte sie. »Ich weiß nicht, ob ich den Alarm eingeschaltet habe . . .«

Wir sausten zurück, fanden alles in bester Ordnung und machten uns glücklich auf den abermaligen Weg.

Als wir im Restaurant die Speisekarte studierten, durchfuhr mich plötzlich eine Art telepathischer Botschaft: »Falscher Alarm, falscher Alarm!«

Atemlos langten wir zu Hause an. Tatsächlich: Die ganze Nachbarschaft hatte sich versammelt, Wattepfropfen in den Ohren und Flüche auf den Lippen. Besonders erbittert war unser Nachbar Felix Seelig, dem seine Nachtmahlgäste davongelaufen waren, weil sie den ohrenbetäubenden Lärm nicht vertrugen. Wir baten ihn um Entschuldigung, die er uns nicht gewährte, und betätigten den Notruf zu Tula & Co. Der Reparaturfachmann entdeckte binnen kurzem die Ursache des Betriebsunfalls: Unser Telefon hatte geklingelt und mit seinem Signal die Sirene aufgeweckt. Künftig sollten wir vor jedem Verlassen des Hauses den Telefonstecker herausziehen und zur Sicherheit auch den Fernsehapparat lahmlegen.

Am folgenden Abend gingen wir ins Kino, die ganze Familie. Der Film war auch für unsere Kleinen geeignet, ein Krimi, aber nicht zu kriminell. Gerade als es spannend zu werden versprach, griff die beste Ehefrau von allen mit zitternder Hand nach meinem Oberarm. Auch ihre Stimme zitterte:

»Ephraim . . . ich . . . das Telefon . . . ich bin nicht sicher, ob ich den Stecker herausgezogen habe .

. .«

Mit einem Satz war ich im Foyer, rief Felix Seelig an, entschuldigte mich für die Störung zu so später Stunde und fragte ihn, ob er vielleicht einen Lärm hörte ähnlich dem gestrigen.

Nein, es sei nichts zu hören, sagte er.

Zufrieden schlich ich auf meinen Sitz zurück und suchte, den unterbrochenen Spannungsfaden aufzunehmen.

Zehn Minuten später wiederholte ich meinen Anruf: Man kann nie wissen.

Felix antwortete unverändert negativ, nur sein Tonfall hatte sich ein wenig in Richtung Grobheit verändert. Beim drittenmal hob er gar nicht erst ab. Ein klassischer Fall von guter Nachbarschaft.

Was den Krimi betrifft, so habe ich leider nicht mehr erfahren, wer der Mörder war, denn wir verließen das Kino vor Schluss des Films und rasten in polizeiwidrigem Tempo nach Hause. Völlige friedliche Ruhe empfing uns. In unserer begreiflichen Erleichterung vergaßen wir den Fünfzehn-Sekunden-Spielraum, was uns dann die beruhigende Gewissheit verschaffte, dass die Alarmanlage nichts von ihrer Lautstärke eingebüßt hatte.

Einige Tage später waren wir zu Besuch bei den Spiegels, unseren alten Freunden. Mitten im Genuss der von Frau Spiegel hausgemachten Eiscreme überkam mich wieder eine telepathische Zwangsvorstellung. Ich ließ die Eiscreme schmelzen, sprang in den Wagen und steuerte heimwärts.

Es war nichts.

Um diese Zeit begann ich das Publikum in öffentlichen Lokalen zu beobachten. Wenn ich beispielsweise an einem Kaffeehaustisch zwei Leute sitzen sah, die nervös um sich blickten und bei jedem stärkeren Laut zusammenfuhren, dann wusste ich: Die haben zu Hause ein einbruchssicheres Alarmsystem.

Es kam der Tag, an dem wir unser Opern-Abonnement ausnutzen mussten.

»Wir werden das Zeug abschalten«, entschied die beste Ehefrau von allen. »Draußen regnet's. Bei diesem Wetter bricht niemand ein.«

»Wozu brauchen wir dann überhaupt eine Alarmanlage?« fragte ich.

»Für unseren Seelenfrieden«, antwortete sie. Und sie hatte recht, wie immer. Der Gedanke an die ausgeschaltete Sirene versorgte uns mit innerem Gleichgewicht für drei Arien und ein Rezitativ. Dann war's vorbei. »Jetzt!« zischte meine entschlusskräftige Lebensgefährtin. »Jetzt, in diesem Augenblick, wird bei uns eingebrochen!«

Auch ich konnte es ganz deutlich fühlen. Berufseinbrecher wissen aus Erfahrung, dass der durchschnittliche Alarmsystembesitzer am elften Abend das Haus verlässt, ohne die Sirene einzuschalten. Sie zählen die Tage, angefangen vom Tag des Erwerbs, sie warten, sie lauern, und wenn es soweit ist - mit einem Wort: Wir fuhren nach Hause. Und fanden alles in Ordnung. Unsere Nerven und unser ganzer Gesundheitszustand begannen allmählich Verfallserscheinungen aufzuweisen. Dem Tula-Techniker war dergleichen nicht neu. Einige seiner Kunden, so ließ er uns wissen, hätten Wächter gemietet, die vor dem Haus patrouillierten und im Fall eines falschen Alarms nach dem Rechten sähen.

»Großartig!« gab ich hämisch zurück. »Das kann ich ja selbst, vor meinem Haus auf und ab gehen.«

Es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Gestern begann die Sirene zu heulen, als der Postbote über einen lockeren Draht stolperte. Meine arme Frau geriet an den Rand eines Nervenzusammenbruchs.

Man musste etwas unternehmen.

»Ich hab's«, sagte ich. »Wir werden ganz einfach nicht mehr ausgehen, und die Sache ist erledigt.«

So geschah's, und so hat unsere kostspielige Alarmanlage das Einbrecherproblem endgültig aus der Welt geschafft. Besser mit der Möglichkeit eines Raubüberfalls leben, als in der ständigen Furcht vor einem falschen Alarm. Wir rühren uns jetzt nicht mehr aus unseren vier Wänden, weder bei Tag noch bei Nacht.

Das ist die Lösung: Bleibe zu Hause und alarmiere dich redlich.

Der Kampf um den Blick des Kellners

Und nun lasst uns tief Atem holen und in die Tiefen der Metaphysik hinabtauchen. Ich denke da an einen der ältesten und beliebtesten Träume der Menschheit, dessen Auswertung schon manchen Schriftsteller in die höchste Einkommensteuer versetzt hat - an den Traum, unsichtbar zu sein. Für mich persönlich ist das allerdings kein Traum, sondern ein Alptraum, der etwa zweimal in der Woche zur Wirklichkeit wird. Und immer dann, wenn ich hungrig bin.

Ich habe einen beträchtlichen Teil meines rund fünfzigjährigen Lebens zu gründlichen Nachforschungen verwendet, deren Ergebnis nunmehr mit wissenschaftlich fundierter Sicherheit feststeht: Die israelischen Kellner sehen mich nicht. Solange sich's nur um den Hauptgang handelt, komme ich bei ihnen noch einigermaßen an. Aber bis zum Wunsch nach einer Vor- und Nachspeise, einer Suppe, einer Beilage oder einer anderen Ergänzung meiner Mahlzeit darf ich mich nicht versteigen. Da hasten sie mit hochbeladenen Servierbrettern an mir vorbei und würdigen mich keines Blickes.

Der israelische Kellner scheint mit Röntgenaugen ausgestattet zu sein. Er sieht durch mich hindurch, als wäre ich transparent. Es ist ein Musterfall der allgemein grassierenden Kommunikationskrise. Wenn ich in einem israelischen Restaurant sitze, fühle ich mich wie der berühmte »Unsichtbare Mann«, den der Filmschauspieler Claude Rains seinerzeit so überzeugend dargestellt hat. Manchmal zwicke ich mich, um Gewissheit zu erlangen. Ich zwicke mich, ergo bin ich.

Aber das heißt noch lange nicht, dass ich ergo auch mein Kompott bekomme. Kompott bekommt nur, wer den Blick des Kellners erhascht. Kein Kellnerblick - kein Kompott. So ist das Leben.

Wäre ich ein Indianerhäuptling, ich hieße wahrscheinlich »Kleiner-Vogel-den-kein-Kellner-sieht«.

Andererseits könnte ich mir vorstellen, dass die indianischen Kellner mich sehen würden. Es sind die israelischen, die mich nicht sehen.

Soll ich mich damit trösten, dass ich in meinem Dilemma nicht allein bin? Die Gaststätten des Gelobten Landes bersten von Möchtegern-Essern, die sich erfolglos bemühen, von einem Kellner gesehen zu werden. Einige hissen die Fahne der Rebellion in Form einer Papierserviette, die sie wild über ihrem Kopf hin und her schwenken, um auf diese Weise visuellen Kontakt mit dem Personal herzustellen. Oder sie schreien. Oder sie dreschen ihre Fäuste auf den Tisch. Aber was immer sie tun

- kein Kellner sieht sie.

Ich habe von einem verzweifelten Restaurantbesucher in Jaffa gehört, der zwecks Verdeutlichung seines Hungers eine blaurote Rakete abbrannte. Es gab auch schon Versuche mit Lassos. Und in einem unserer vornehmsten Schlemmerlokale saß einmal ein Gast zwanzig Minuten lang mit einer Blinklampe auf dem Kopf, in der Hoffnung, durch ständiges Blink-blink-blink die Aufmerksamkeit eines Kellners zu erregen. Er hoffte vergebens.

Nach Ansicht erfahrener Zeitgenossen gibt es nur einen einzigen sicheren Weg zur Herbeilockung eines Kellners: indem man aufsteht und das Lokal verlässt, ohne zu zahlen. Die Anhänger dieser These sind im Irrtum. Der israelische Kellner legt nicht den geringsten Wert auf ihr schäbiges Geld.

Was er will, ist Macht, die nackte, selbstherrliche Macht, nur den zu nähren, der ihm passt. Außerdem ist schon manch ein Hungriger, der sich unter wüstem Schimpfen entfernt hatte, bald darauf reuig zurückgekehrt und hat sich wieder hingesetzt, zur nächsten Runde im Kampf um den Blick des Kellners.

Auch Gewaltakte helfen nicht. Man kennt den Fall eines Gastes, durch den die Kellner so lange hindurchsahen, bis er sich für Glas hielt und gewissermaßen zu Prüfungszwecken ein Glas ergriff, das er an die Wand schleuderte, und dann noch eines, noch eines und noch eines. Das Urteil lautete auf zwei Stunden, die er zwischen den Glasscherben absitzen musste, und niemand kümmerte sich um ihn. Aber es sind auch schon Gäste verhungert, die ohne Glasscherben dasaßen.

Vor der Illusion, durch ein generöses Trinkgeld ans Ziel zu gelangen, muss eindringlich gewarnt werden. Der israelische Kellner ist nicht käuflich.

Vor einigen Wochen, in einem kleinen, nur halb gefüllten Lokal mit weiblicher Bedienung, verlor ich die Kontrolle über mich, packte die ältliche Kellnerin an den Schultern und schüttelte sie: »Warum tun Sie so, als ob ich nicht vorhanden wäre? Nur weil ich ein Gast bin? Bin ich deshalb kein Mensch?

Warum sehen Sie mich nicht?«

Die Kellnerin richtete sich auf, strich ihr graues Haar zurecht, sah mich ruhig an und sagte: »Ich stehe seit sieben Uhr früh auf den Beinen, mein Herr.«

Damit verschwand sie in Richtung Küche. Ich habe sie nicht mehr gesehen, besser gesagt: sie hat mich nicht mehr gesehen.

Auf dem Heimweg verfiel ich in tiefe Nachdenklichkeit. Das ist es, sagte ich mir. Das ist der Grund für das defekte Verhalten der israelischen Kellner. Wenn die grauhaarige Hexe ihren Dienst ein wenig später angetreten hätte, sagen wir: um neun statt um sieben, hätte sie vielleicht die Umrisse meiner Gestalt ausmachen können. Und bei einem Arbeitsbeginn um die Mittagszeit wären sogar meine Gesichtszüge bis zu ihrer Netzhaut gelangt, wenn auch undeutlich. Wer weiß, am Ende hätte sie im Vorübereilen ein hastiges »Ich komme sofort« für mich fallen lassen. Natürlich wäre sie nie gekommen. Aber ich hätte mir wenigstens sagen dürfen, dass ich gesehen wurde.

Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Eines Tages werde ich meinen Lebenserinnerungen eine kurze Notiz anfügen: »Heute habe ich den Blick eines Kellners erhascht. Ich bin im Himmel.«

Und dann sterbe ich, mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen.