Rettungsloses Schweigen
Wir tranken gemächlich unseren Mokka und sprachen kein Wort über die traurige Wirtschaftslage des Staates Israel. Das tun wir nämlich besonders gerne, Jossele und ich: im Kaffeehaus sitzen, Mokka trinken und nicht über unsere traurige Wirtschaftslage sprechen. Im Lokal befand sich außer uns nur noch Gusti, der Inhaber, der in seinem Korbsessel vor sich hin schnarchte, die Zeitung auf dem Schoß. Es war ein ruhiger, friedlicher Abend in diesem sonst so unruhigen Winkel des Nahen Ostens.
»Ich liebe die Ruhe«, ließ sich Jossele mit sanfter Stimme vernehmen. »Sie geht mir über alles.
Bist du heute Abend bei Weinrebs eingeladen?«
»Leider«, antwortete ich. »Warum?«
Die Weinrebs gehören zu unseren geistig anspruchsvollen Freunden. Man findet bei ihnen immer einige namhafte Kulturträger und andere Vertreter der hochgestochenen Creme de la Creme, also lauter überwältigend langweilige Zeitgenossen.
»Heute«, sagte Jossele, »werden wir ihnen einen Abend ohne Retter bescheren.«
Als wir bei Weinrebs ankamen, war bereits ein halbes Dutzend Cremerepräsentanten versammelt, darunter der bedeutende Privatgelehrte Benzion Ziegler, der schwatzhafte Ingenieur Glick und diese kulleräugige Dichterin, von der jetzt alle sprechen.
Jossele nahm den Gastgeber beiseite:
»Wer ist heute als Retter vorgesehen?«
»Wie bitte?« Weinreb glotzte verständnislos.
»Ich will Ihnen erklären, was ich meine«, hob Jossele an. »Sie haben gewiss schon bemerkt, dass bei einem Beisammensein wie dem heutigen in einem bestimmten Augenblick allgemeines Schweigen eintritt, weil zu dem soeben behandelten Thema nichts mehr zu sagen ist. Die plötzlich entstandene Stille wird immer peinlicher, bis einer der Anwesenden, der die schwächsten Nerven hat, sie nicht länger ertragen kann. Statt zu warten, bis das Gespräch von selbst wieder in Gang kommt, gibt er irgendeine läppische Phrase von sich, etwa: >Na ja, so ist das eben!< oder >Das Leben geht weiten oder dergleichen. Verstehen Sie jetzt? Und dieser Mann, der sich dadurch als das schwächste Glied in der gesellschaftlichen Kette entlarvt, ist Ihr Retter.«
»Wie wahr«, nickte Weinreb. »So klar habe ich das noch nie gesehen. Ich werde mich danach richten.«
Jossele zwinkerte mir zu und machte sich an Ingenieur Glick heran, um ihm unter vier Augen das Rettungs- Syndrom zu erklären. Als nächster kam Ziegler an die Reihe, und so ging es weiter. Nach zehn Minuten hatte Jossele sämtliche Anwesenden ins Vertrauen gezogen, einen nach dem andern.
Wir zogen uns in eine Ecke zurück und warteten.
Das fällige Schweigen entstand, nachdem der prominente Politologe die schicksalsschweren Worte geäußert hatte: »Meiner Meinung nach wird es nächstes Jahr noch schlimmer werden.«
Da ihm niemand das Gegenteil beweisen konnte, trat allgemeine Stille ein. Die kulleräugige Dichterin öffnete den Mund, besann sich jedoch rechtzeitig auf Josseles Theorie und presste die Lippen zusammen. Auch aus den Gesichtern der anderen Gäste sprach grimmige Entschlossenheit, nicht als Retter des Abends zu fungieren.
Die Sekunden schlichen dahin. Jossele gab mir mittels Mienenspiels zu verstehen, dass ihn der Erfolg seines Tests befriedigte. Die Adern an Weinrebs Schläfen schwollen an, aber er schwieg.
Eine Minute war vergangen. Eine kleine Ewigkeit. Benzion Ziegler atmete schwer, Glick sog krampfhaft an seiner Pfeife, die Augen der Kulleräugigen kullerten. Eine Minute und vierzig Sekunden.
Als der berühmte Rechtsanwalt sich räusperte, blickten alle nach ihm und mussten sich enttäuscht wieder abwenden, denn es blieb beim Räuspern. Auf vielen Stirnen erschienen Schweißtropfen.
Drei Minuten. Weinreb, der einem Zusammenbruch nahe war, erholte sich und rettete nicht.
Viereinhalb Minuten dumpfen Schweigens. Ich möchte so etwas kein zweites Mal erleben. Fünf Minuten. Mir wurde schwindlig. Ich wankte. Jossele sah es und machte mir ein Zeichen. Auf Zehenspitzen schlichen wir hinaus. Seither haben wir keinen von Weinrebs Gästen wiedergesehen.
Wäre es denkbar . . . dass sie . . . noch immer . . .