Ideale Nummer
Die Wettervorhersage für Beersheba und die Negevwüste lautete »Schwül, dunstig, Temperaturanstieg«.
In Tel Aviv war der Anstieg bereits erfolgt. Bei solchem Wetter ertrage ich nur einen einzigen Menschen: Jossele. Ich kroch zum Telefon und rief ihn an. »Die von Ihnen gewählte Nummer ist geändert«, sagte eine monotone Stimme. »Bitte entnehmen Sie die richtige Nummer dem neuen amtlichen Telefonbuch. Danke.«
Es musste sich um einen Irrtum handeln, denn ich hatte die neue Nummer gewählt, und das ausgediente amtliche Telefonbuch lag bereits im Müll. Sicherheitshalber sah ich im neuen nach.
Die Nummer stimmte: 40759. Ich wählte sie noch einmal - und bekam noch einmal zu hören, dass ich falsch gewählt hatte und im neuen Telefonbuch nachschauen sollte, danke.
Der Staat Israel hat viele Vorzüge. Sein Telefonsystem gehört nicht zu ihnen. Nach einem dritten erfolglosen Versuch mit der neuen richtigen Nummer beschloss ich, die Auskunft anzurufen.
»Ja, leider, ab und zu gibt es noch Schwierigkeiten«, gestand die Auskunft. »Bitte, haben Sie Geduld. Wir werden sofort kontrollieren, was mit der von Ihnen gewählten Nummer los ist.«
Die sofortige Kontrolle dauerte eine Stunde. Dann meldete sich die Auskunft von neuem:
»Es tut uns leid, aber wir sind ein kleines, von Feinden umringtes Land, und unser Netz kann die vielen Änderungen nicht sofort bewältigen. Versuchen Sie's jetzt einmal mit der alten Nummer.
Vielleicht hilft's. Man weiß ja nie . . .« Ich tat, wie mir geheißen. Das Ergebnis lautete: »Die von Ihnen gewählte Nummer . . . bitte entnehmen Sie . . . danke.«
Ich machte mich auf die Jagd nach dem Leiter der Telefonzentrale. Er klang, als ich ihn endlich an den Apparat bekam, zugleich erschöpft und wütend:
»Schon wieder 40.759? Wir machen seit Stunden nichts anderes, als diese verdammte Nummer zu überprüfen. Sie bringt den ganzen Verkehr zum Erliegen. Unzählige Teilnehmer haben sich beschwert. Einige behaupten, dass man nach dem Abheben Radiomusik hört. Unser Schweizer Chefingenieur hat soeben gekündigt. Der Krisenstab tagt. Ich werde verrückt. . .«
Dann hörte ich, wie er seiner Sekretärin den Auftrag gab, einen letzten Versuch zu machen.
Dann hörte ich die nun schon vertrauten Worte: »Die von Ihnen gewählte Nummer, Fräulein . . .«
Und dann brauchte ich nichts mehr zu hören. Der Groschen war gefallen. Ich fuhr zu Jossele.
Vor dem Haus standen zwei Gerätewagen der Telefongesellschaft. Die Straße war zum Teil aufgegraben. Vier schwitzende Mechaniker machten sich an Masten und Drähten zu schaffen.
»Leitungsdrähte in Ordnung«, meldete einer. »Sollen wir die Schaltstellen überprüfen?« fragte ein anderer.
Als ich bei Jossele eintrat, lümmelte er in einem Fauteuil, die Beine auf dem Tisch, das Radio zur Seite und die Hand lässig am Telefonhörer.
»Meine alte Nummer war ein Traum - 303.030«, seufzte er. »Und jetzt haben sie diese Idioten in 40.759 geändert, was sich kein Mensch merken kann. Dass sollen sie mir büßen! «
Ein Klingelzeichen erklang. Jossele hob den Hörer ab.
»Die von Ihnen gewählte Nummer….«
Der Eskimo-Effekt
Wieder saßen Jossele und ich in unserem Stammcafé und wussten nicht, was wir mit dem angebrochenen Abend beginnen sollten. Am Nebentisch flüsterte Guri zweideutige Witze in Schlomos Ohr, und zwar flüsterte er dergestalt, dass im Umkreis von zehn Metern sämtliche Damen erröteten.
Früher einmal war das ein anständiges Kaffeehaus.
Nach einer Weile wandte sich Schlomo in die Runde, die auch uns beide umschloss:
»Wie wär's und wir gehen irgendwohin essen?«
Die allgemeinen Rufe der Zustimmung mündeten samt und sonders in die Frage:
»Ja - aber wohin?«
Es unterliegt keinem Zweifel, dass es diese Frage ist, die schon seit geraumer Zeit unsere Nachkriegsgeneration beschäftigt: Wohin gehen wir? Auf den vorliegenden Fall bezogen, lautet sie: Was ist aus all den guten Restaurants geworden?
Guri raffte sich zu einem konkreten Vorschlag auf: »Versuchen wir's doch mit dem neuen rumänischen Lokal auf der Herzl-Straße.«
»Ohne mich«, widersprach Jossele. »Eine unmögliche Kneipe. Miserables Essen, dreckige Tische, elende Bedienung. Dort kann man nicht hingehen.«
Schlomo schloss sich an:
»Stimmt. Das hört man von allen Seiten. Na, wir werden schon etwas finden.«
Damit erhoben sich die beiden und verschwanden in der Dunkelheit.
Als sie außer Sichtweite waren, stand auch Jossele auf:
»So, und wir gehen jetzt zum Rumänen.«
Ich konnte nicht umhin, mich zu wundern:
»Aber du hast doch gerade gesagt -?«
Jossele schüttelte den Kopf und zog mich wortlos mit sich fort.
»Der alte Pioniergeist ist tot«, erklärte er mir unterwegs. »Er wurde durch den sogenannten Eskimo-Effekt ersetzt, der seinen Namen von der Tatsache herleitet, dass die Zahl der Eskimos in der Arktik ständig anwächst, während die Zahl der Seehunde, von denen sie leben, ständig abnimmt. Was folgt daraus? Entdeckt ein Eskimo eine neue Seehundkolonie, so wird er das nicht weitererzählen, sondern wird seine Entdeckung für sich behalten. Noch mehr: er wird die anderen Seehundjäger in eine falsche Richtung schicken. Verstehst du?«
»Nein.«
»Ich meine: verstehst du die Nutzanwendung für unsere Situation?«
»Eben nicht.«
»Ist doch ganz einfach. Wenn jemand in unserem kleinen Land ein halbwegs brauchbares Restaurant entdeckt, spricht sich das in längstens zwei Wochen herum, und die Entdeckung kann wieder abgestrichen werden. Das Lokal ist überfüllt, heiß und lärmend. Du bekommst keinen Platz.
Wenn du ihn trotzdem bekommst, musst du eine halbe Stunde lang warten, bevor du überhaupt bedient wirst, und dann eine weitere halbe Stunde zwischen jedem Gang. Du hast den Ellbogen deines Nachbarn in deinen Rippen, seine Gabel in deinem Teller und sein Messer in deinem Rücken.
Aus allen diesen Gründen muss der verantwortungsvolle israelische Bürger den Eskimo-Effekt anwenden. Er muss das von ihm entdeckte Restaurant in einen möglichst schlechten Ruf bringen, damit es nett und gemütlich und auf gutem kulinarischen Niveau bleibt. Als der bekannte Rabbinersohn Karl Marx vom Umschlag der Quantität in Qualität sprach, meinte er die rumänischen Restaurants. Verstehst du jetzt?«
»Allmählich.«
»Proletarische Wachsamkeit«, fuhr Jossele fort, »ist auch in anderen Zusammenhängen geboten.
Zum Beispiel darfst du einen guten Zahnarzt niemals weiterempfehlen - oder du sitzt bald darauf stundenlang in seinem Wartezimmer. Und wenn du über den billigen Schneider, den du endlich gefunden hast, nicht in den wildesten Tönen schimpfst, wirst du ihn dir nach ein paar Monaten nicht mehr leisten können.«
»Jetzt fällt mir auf«, sagte ich nachdenklich, »dass meine Frau, wenn sie Freundinnen zu Besuch hat, immer darüber jammert, dass ihr Friseur nichts taugt.«
Jossele nickte:
»Ein klarer Fall von Eskimo-Effekt.«
Wir hatten die Herzl-Straße erreicht. Gerade als meine Magennerven sich auf rumänische Spezialitäten einzustellen begannen, sahen wir zu unserer peinlichen Überraschung von der anderen Seite Guri und Schlomo herankommen.
»Wieso seid ihr hier?«
Es ließ sich nicht feststellen, wer von uns vieren das als erster ausrief. Wahrscheinlich taten es alle zugleich. Was uns aber noch peinlicher überraschte: das Restaurant war geschlossen. Wir trommelten mit den Fäusten gegen den Rollbalken - vergebens. Endlich tauchte in einem Fenster des ersten Stocks ein Bewohner auf: »Hat keinen Sinn!« rief er uns zu. »Der Rumäne ist pleite gegangen. Alle Welt hat über den armen Kerl so schlecht gesprochen, dass keine Gäste mehr kamen. Und es war das beste Restaurant in ganz Tel Aviv!« Betrübt machten wir kehrt.
»Wer hätte gedacht«, sagte Jossele nach längerem Schweigen, »dass es bei den Eskimos auch Bumerangs gibt?«