Neue Wege zum Geschichtsunterricht

Die Reform des Geschichtsunterrichts nahm über zwei Kognaks ihren Anfang. Jossele und ich hatten ganz gegen unsere Gewohnheit über die Inflation gesprochen, und von da war es nur ein Schritt zu Napoleon. Im Gegensatz zu Josseles Behauptung, Napoleon sei 1883 im amerikanischen Exil an Bord der »S. S. Helena« gestorben, stand für mich fest, dass er viel früher gestorben war, aber wie sehr ich mir das Hirn zermarterte - das genaue Datum wollte mir nicht einfallen. Ich rief Gusti, den Cafetier, an unseren Tisch und fragte ihn, was er über die Angelegenheit wisse. Nach angestrengtem

Nachdenken erklärte Gusti, das Todesdatum Napoleons sei ihm nicht erinnerlich, wohl aber die Seite des Geschichtslehrbuchs für den zweiten Jahrgang der Mittelschulen, auf der das Datum angegeben war, Seite 147, Zeile 2 von unten, und er könne sich deshalb so genau daran erinnern, weil er auf dieser Seite eine kunstvolle surrealistische Zeichnung untergebracht hatte, darstellend den Popo des

damals von ihm geliebten Mädchens, mit Zöpfen.

»Da haben wir's!« rief Jossele aus. »Die Seitenzahlen! Das ist die Methode, Geschichte zu lehren!«

Wir ließen sofort einige Daten und Fakten, die wir in unserer Schulzeit gelernt hatten, Revue passieren und stellten tatsächlich fest, dass uns zwar in nahezu allen Fällen die Seite des Lehrbuchs im Gedächtnis geblieben war, die das betreffende Ereignis behandelte, nicht aber das Ereignis selbst.

Ein bald darauf vorgenommener Test bei einigen unserer Altersgenossen ergab das gleiche Resultat: Sie alle erinnerten sich nur an die einschlägigen Seitenzahlen ihrer Lehrbücher.

»Wir müssen uns somit fragen«, resümierte Jossele, »welchen Sinn es haben soll, unzählige Daten zu lernen, wenn man sie ohnehin vergisst. Offenbar merkt man sich Seitenzahlen leichter als Jahreszahlen.« Und mit der ihm eigenen Phantasie entwarf er den Verlauf künftiger Prüfungen im Lehrfach Geschichte:

»Wo brach der amerikanische Bürgerkrieg aus?« würde der Lehrer fragen.

Die Antwort des fleißigen Schülers:

»Auf Seite 41 im >Lehrbuch der Geschichte der Vereinigten Staaten< von J. F. Morland, dritte durchgesehene Ausgabe. Auf der folgenden Seite errang General Grant seinen ersten Sieg.«

»Und wie endete der Bürgerkrieg?«

»In kleinem Druck auf Seite 45 desselben Buchs, mit einer zeitgenössischen Illustration auf der Gegenseite.«

»Sehr gut. Setzen.«

Es steht zu hoffen, dass das Ministerium für Unterricht und Erziehungswesen den genialen Einfall Josseles aufgreift. Erst vor wenigen Tagen brachten die Zeitungen eine Rede des Unterrichtsministers über das Thema Geschichtsunterricht auf Seite 4, zweite Spalte, fett gedruckt. Ich weiß nicht mehr, was er gesagt hat.