New York, Donnerstag, der 18. Dezember 2008

Ein Monat nach Entdeckung der Wahrheit

Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah.

Einundzwanzig Uhr. Ich war zu Hause und hörte mir gerade meine Minidiscs an, als er an der Tür klingelte. Ich öffnete, und wir musterten uns lange schweigend. Schließlich sagte er: »Guten Tag, Marcus.«

Nach kurzem Zögern antwortete ich: »Ich dachte, Sie wären tot.«

Er nickte. »Das ist nur mein Gespenst.«

»Möchten Sie einen Kaffee?«

»Gern. Sind Sie allein?«

»Ja.«

»Sie sollten nicht mehr allein sein.«

»Kommen Sie herein, Harry.« Ich ging in die Küche, um Kaffee aufzusetzen. Er wartete im Wohnzimmer und spielte aus Nervosität mit den gerahmten Bildern, die in meinem Bücherregal standen. Als ich mit der Kaffeekanne und zwei Tassen hereinkam, sah er sich gerade ein Foto von ihm und mir am Tag meiner Diplomverleihung in Burrows an.

»Das ist das erste Mal, dass ich zu Ihnen komme«, stellte er fest.

»Das Gästezimmer ist für Sie hergerichtet, schon seit Wochen.«

»Sie wussten, dass ich kommen würde, nicht wahr?«

»Ja.«

»Sie kennen mich gut, Marcus.«

»Freunde wissen so etwas.«

Er lächelte traurig. »Danke für Ihre Gastfreundschaft, Marcus, aber ich werde nicht bleiben.«

»Warum sind Sie dann gekommen?«

»Um mich von Ihnen zu verabschieden.«

Ich versuchte meine Enttäuschung zu überspielen und schenkte Kaffee ein. »Wenn Sie mich verlassen, habe ich keine Freunde mehr«, sagte ich.

»Sagen Sie so etwas nicht! Ich habe Sie nicht nur wie einen Freund geliebt, sondern wie einen Sohn, Marcus.«

»Und ich habe Sie wie einen Vater geliebt, Harry.«

»Trotz der Wahrheit?«

»Die Wahrheit ändert nichts an dem, was man für einen anderen Menschen empfindet. Das ist ja die Krux mit den Gefühlen.«

»Sie haben recht, Marcus. Jetzt wissen Sie alles, oder?«

»Ja.«

»Wie haben Sie es herausgefunden?«

»Irgendwann hat es klick gemacht.«

»Sie waren der Einzige, der mich entlarven konnte.«

»Das meinten Sie also auf dem Parkplatz des Motels. Deshalb haben Sie gesagt, dass zwischen uns nichts mehr so sein würde wie früher. Sie wussten, dass ich dahinterkommen würde.«

»Ja.«

»Wie konnte es nur so weit kommen, Harry?«

»Ich weiß es nicht …«

»Ich habe Videoaufnahmen von den Verhören von Travis und Jenny Dawn. Wollen Sie sie sehen?«

»Ja, bitte.«

Er setzte sich auf die Couch. Ich legte eine DVD in den Player und drückte auf START. Jenny erschien auf dem Bildschirm. Sie war im Hauptquartier der State Police von New Hampshire in einem Verhörraum frontal gefilmt worden. Sie weinte.

Auszug aus dem Verhör von Jenny E. Dawn

Sergeant P. Gahalowood: »Mrs Dawn, seit wann wussten Sie Bescheid?«

Jenny Dawn (schluchzend): »Ich … Ich habe nichts geahnt. Nichts! Bis zu dem Tag, an dem Nolas Leiche in Goose Cove gefunden wurde. Die ganze Stadt war in heller Aufregung. Das Clark’s war brechend voll: Es wimmelte von Gästen und Journalisten, die Fragen stellten. Es war die Hölle! Irgendwann war ich dann am Ende und bin früher als sonst nach Hause gegangen. Vor unserem Haus stand ein Auto, das ich nicht kannte. Ich bin hineingegangen und habe laute Stimmen gehört. Ich habe die Stimme von Chief Pratt erkannt. Er hat sich mit Travis gestritten. Sie haben mich nicht bemerkt.«

12. Juni 2008

»Ganz ruhig, Travis!«, sagte Pratt mit sonorer Stimme. »Keiner wird dahinterkommen, du wirst sehen.«

»Wie kannst du dir so sicher sein?«

»Sie werden alles Quebert anhängen! Die Tote lag neben seinem Haus! Alles deutet auf ihn hin!«

»Verdammt, und wenn er freigesprochen wird?«

»Wird er nicht. Wir dürfen die Sache nie wieder erwähnen, verstanden?«

Dann hörte Jenny Schritte und versteckte sich im Wohnzimmer. Sie sah, wie Chief Pratt das Haus verließ. Kaum hörte sie seinen Wagen losfahren, stürzte sie in die Küche, wo sie Travis fand. Er war völlig aufgelöst.

»Was geht hier vor, Travis? Ich habe eure Unterhaltung mitangehört! Was verheimlichst du mir? Was verheimlichst du mir in Bezug auf Nola Kellergan?«

Jenny Dawn: »Da hat Travis mir alles erzählt. Er hat mir die Kette gezeigt und gesagt, dass er sie behalten hat, damit er nie vergisst, was er getan hat. Ich habe die Kette an mich genommen und gesagt, dass ich mich um die Sache kümmere. Ich wollte meinen Mann schützen, ich wollte meine Ehe schützen. Ich war immer allein, Sergeant. Ich habe keine Kinder. Travis ist der einzige Mensch, den ich habe. Ich wollte ihn auf keinen Fall verlieren … Ich hatte die Hoffnung, dass die Ermittlungen schnell abgeschlossen würden und man Harry anklagen würde … Aber dann hat Marcus Goldman angefangen, in der Vergangenheit herumzustochern, weil er von Harrys Unschuld überzeugt war. Auch wenn er recht hatte, ich durfte das nicht zulassen. Ich durfte nicht zulassen, dass er die Wahrheit herausfand. Deshalb habe ich beschlossen, ihm anonyme Briefe zu schicken … Und ich habe diese verdammte Corvette angezündet. Aber er hat meine Warnungen in den Wind geschlagen! Da habe ich beschlossen, sein Haus in Brand zu stecken.«

Auszug aus dem Verhör von Robert Quinn

Sergeant P. Gahalowood: »Warum haben Sie das getan?«

Robert Quinn: »Wegen meiner Tochter. Sie schien sehr beunruhigt über die Aufregung, die seit der Entdeckung von Nolas Skelett in der Stadt herrschte. Ich fand, dass sie bedrückt wirkte und sich seltsam benahm. Sie hat das Clark’s immer wieder grundlos verlassen. An dem Tag, an dem die Zeitungen Goldmans Seiten veröffentlicht haben, war sie furchtbar wütend. Das war schon fast erschreckend. Als ich von der Personaltoilette kam, habe ich gesehen, wie sie sich durch den Hintereingang davongestohlen hat. Ich habe beschlossen, ihr zu folgen.«

Donnerstag, 10. Juli 2008

Sie stellte den Wagen auf dem Waldweg ab, sprang eilig heraus und nahm den Benzinkanister sowie den Sprühlack mit. Sie hatte sich vorsichtshalber Gartenhandschuhe angezogen, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Mühsam und mit großem Abstand folgte er ihr. Als er aus dem Wald trat, hatte sie bereits den Range Rover besprüht und goss gerade das Benzin unter dem Vorbau aus. »Jenny! Hör auf!«, rief ihr Vater.

Hastig riss sie ein Streichholz an und warf es zu Boden. Sofort fing der Hauseingang Feuer. Die Wucht der Flammen überraschte sie. Sie musste ein paar Meter zurückweichen und hielt sich schützend die Hand vors Gesicht.

Ihr Vater packte sie an der Schulter. »Jenny! Du bist wahnsinnig!«

»Das kannst du nicht verstehen, Papa! Was machst du hier? Hau ab! Hau schon ab!«

Er riss ihr den Kanister aus der Hand. »Lauf!«, befahl er. »Lauf, bevor sie dich schnappen!«

Sie verschwand im Wald und lief zu ihrem Wagen. Er musste den Kanister loswerden, aber vor lauter Panik konnte er nicht klar denken. Schließlich rannte er zum Strand hinunter und versteckte ihn im Gebüsch.

Auszug aus dem Verhör von Jenny E. Dawn

Sergeant P. Gahalowood: »Und was war danach?«

Jenny Dawn: »Ich habe meinen Vater angefleht, sich aus allem herauszuhalten. Ich wollte nicht, dass er in die Sache verwickelt wurde.«

Sergeant P. Gahalowood: »Das war er bereits. Was haben Sie dann getan?«

Jenny Dawn: »Nachdem Chief Pratt gestanden hatte, dass er Nola zum Oralsex gezwungen hatte, wuchs der Druck auf ihn. Er, der anfangs so optimistisch gewesen war, stand kurz davor, die Nerven zu verlieren und auszupacken. Wir mussten ihn loswerden und die Waffe an uns bringen.«

Sergeant P. Gahalowood: »Er hatte die Waffe behalten?«

Jenny Dawn: »Ja. Es war seine Dienstwaffe. Schon immer …«

Auszug aus dem Verhör von Travis S. Dawn

Travis Dawn: »Ich werde mir nie verzeihen, was ich getan habe, Sergeant. Seit dreiunddreißig Jahren denke ich immerzu daran. Seit dreiunddreißig Jahren lässt es mir keine Ruhe.«

Sergeant P. Gahalowood: »Eines begreife ich nicht: Sie sind Polizist und haben die Kette behalten, obwohl sie einen erdrückenden Beweis darstellt?«

Travis Dawn: »Ich konnte sie nicht verschwinden lassen. Diese Kette ist meine Strafe. Eine Mahnung an die Vergangenheit. Seit dem 30. August 1975 vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht irgendwohin zurückziehe, um die Kette anzusehen. Außerdem: Wie hoch war das Risiko denn schon, dass jemand sie fand?«

Sergeant P. Gahalowood: »Was war mit Pratt?«

Travis Dawn: »Er wollte auspacken. Seit Sie das mit ihm und Nola herausgefunden hatten, hatte er schreckliche Angst. Eines Tages hat er mich angerufen: Er wollte mich sehen. Wir haben uns an einem Strand getroffen. Er hat gesagt, dass er gestehen will, dass er einen Deal mit dem Staatsanwalt eingehen will und ich das auch tun soll, weil die Wahrheit sowieso irgendwann ans Licht kommt. Noch am selben Abend bin ich zu ihm in sein Motel gefahren, um noch mal zu versuchen, ihn zur Vernunft zu bringen, aber er hat sich quergestellt. Dann hat er mir seinen alten Colt Kaliber .38 gezeigt, den er in der Nachttischschublade aufbewahrte, und gesagt, dass er Ihnen den Colt am nächsten Tag bringen würde. Er wollte reden, Sergeant! Also habe ich gewartet, bis er mir den Rücken zugedreht hat, und ihn mit dem Gummiknüppel erschlagen. Dann habe ich den Colt genommen und bin abgehauen.«

Sergeant P. Gahalowood: »Mit dem Gummiknüppel? Wie Nola?«

Travis Dawn: »Ja.«

Sergeant P. Gahalowood: »Mit derselben Waffe also?«

Travis Dawn: »Ja.«

Sergeant P. Gahalowood: »Wo ist sie?«

Travis Dawn: »Es ist mein Dienstknüppel. Das hatte Pratt mir damals geraten. Er hatte gesagt, die beste Art, eine Tatwaffe zu verstecken, besteht darin, sie für alle sichtbar mit sich herumzutragen. Der Colt und der Schlagstock, die wir bei der Suche nach Nola am Gürtel trugen, waren die Tatwaffen.«

Sergeant P. Gahalowood: »Warum wollten Sie den Revolver dann doch loswerden? Und wie kam Robert Quinn in den Besitz des Colts und der Kette?«

Travis Dawn: »Jenny hat mich unter Druck gesetzt, und ich habe nachgegeben. Seit Pratts Tod konnte sie nicht mehr schlafen. Sie war fix und fertig. Sie hat gesagt, wir dürfen sie nicht bei uns aufbewahren, denn wenn man bei den Ermittlungen im Mordfall Pratt auf uns käme, wären wir erledigt. Am Ende hat sie mich überzeugt. Ich wollte den Colt und die Kette ins Meer werfen, weit draußen, wo sie nie jemand finden würde, aber Jenny ist durchgedreht und ist mir zuvorgekommen. Ohne mich zu fragen, hat sie ihren Vater gebeten, sich darum zu kümmern.«

Sergeant P. Gahalowood: »Warum ihren Vater?«

Travis Dawn: »Weil sie es mir wohl nicht zutraute. Ich hatte es dreiunddreißig Jahre lang nicht geschafft, mich von der Kette zu trennen, und sie fürchtete, dass ich es nie fertigbringen würde. Und sie hatte schon immer unerschütterliches Vertrauen zu ihrem Vater gehabt und glaubte, dass er der Einzige war, der uns helfen konnte. Außerdem wirkte er so harmlos … Der rührende Robert Quinn!«

9. November 2008

Jenny kam in ihr Elternhaus gestürmt. Sie wusste, dass ihr Vater allein war. Er saß im Wohnzimmer.

»Papa!«, rief sie. »Papa, ich brauche deine Hilfe!«

»Jenny? Was ist denn los?«

»Stell keine Fragen. Du musst das hier für mich verschwinden lassen.« Sie hielt ihm eine Plastiktüte hin.

»Was ist das?«

»Frag nicht. Und schau nicht rein. Es ist eine ganz schlimme Sache. Nur du kannst mir helfen. Du musst das irgendwo wegwerfen, wo garantiert nie jemand danach suchen wird.«

»Hast du Probleme?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Dann tue ich es, mein Schatz. Sei beruhigt. Ich werde alles tun, um dich zu beschützen.«

»Mach die Tüte bloß nicht auf, Papa. Lass sie einfach nur für immer verschwinden.«

Doch kaum war seine Tochter gegangen, öffnete Robert die Plastiktüte. Vor Entsetzen über seine Entdeckung und aus Angst, seine Tochter könnte eine Mörderin sein, beschloss er, den Inhalt nach Einbruch der Dunkelheit in den See von Montburry zu werfen.

Auszug aus dem Verhör von Travis S. Dawn

Travis Dawn: »Als ich hörte, dass Jennys Vater verhaftet worden war, war mir klar, dass es eng wurde und ich etwas unternehmen musste. Ich musste es so aussehen lassen, als wäre er der Täter, zumindest vorübergehend. Ich wusste, dass er seine Tochter schützen wollen und ein, zwei Tage durchhalten würde. Zeit genug für Jenny und mich, uns in ein Land abzusetzen, das uns nicht ausliefern würde. Also habe ich mich auf die Suche nach einem Beweisstück gegen Robert gemacht. Ich habe Jennys Fotoalben durchstöbert in der Hoffnung, ein Bild von Robert und Nola zu finden, auf dessen Rückseite ich etwas Kompromittierendes schreiben konnte. Dabei bin ich auf das Foto von ihm und dem schwarzen Monte Carlo gestoßen. Ein unglaublicher Zufall! Ich habe August 1975 hinten draufgeschrieben und es Ihnen gebracht.«

Sergeant P. Gahalowood: »Chief Dawn, es ist Zeit, uns zu sagen, was am 30. August 1975 wirklich passiert ist …«

»Schalten Sie aus, Marcus!«, rief Harry. »Ich flehe Sie an, schalten Sie aus! Ich ertrage es nicht, mir das anzuhören.«

Ich stellte den Fernseher aus. Harry weinte. Er stand von der Couch auf und stellte sich dicht vors Fenster. Draußen schneite es dicke Flocken. Die erleuchtete Stadt sah wunderschön aus.

»Es tut mir leid, Harry.«

»New York ist eine außergewöhnliche Stadt«, sagte er leise. »Ich frage mich oft, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn ich im Frühsommer 1975 hiergeblieben und nicht nach Aurora gezogen wäre.«

»Sie wären der Liebe nie begegnet«, sagte ich.

Er starrte in die Nacht hinaus. »Wann ist es Ihnen klar geworden, Marcus?«

»Klar geworden? Was? Dass Sie Der Ursprung des Übels nicht geschrieben haben? Kurz nach Travis Dawns Festnahme. Die Presse hat ja ausführlich darüber berichtet, und ein paar Tage später habe ich einen Anruf von Elijah Stern erhalten, der mich unbedingt sehen wollte.«

Freitag, 14. November 2008
Anwesen von Elijah Stern in der Nähe von Concord, NH

»Danke, dass Sie gekommen sind, Mr Goldman.« Elijah Stern empfing mich in seinem Büro.

»Ihr Anruf hat mich überrascht, Mr Stern. Ich dachte, Sie mögen mich nicht besonders.«

»Sie sind ein begabter junger Mann. Stimmt es, was die Zeitungen über Travis Dawn schreiben?«

»Ja, Sir.«

»Das ist ungeheuerlich …«

Ich nickte, dann sagte ich: »Was Caleb angeht, habe ich mich auf ganzer Linie getäuscht. Das bedaure ich.«

»Sie haben sich nichts vorzuwerfen. Wenn ich es recht verstanden habe, ist es auch Ihrer Hartnäckigkeit zu verdanken, dass die Polizei den Fall am Ende doch noch aufklären konnte. Einer der Polizisten hält große Stück auf Sie … Perry Gahalowood heißt er, glaube ich.«

»Ich habe meinen Verleger gebeten, Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert aus dem Handel zurückzurufen.«

»Das freut mich zu hören. Werden Sie das Buch überarbeiten?«

»Vermutlich. Ich weiß zwar noch nicht, wie, aber der Gerechtigkeit wird Genüge getan werden. Ich habe mich für Quebert starkgemacht, jetzt werde ich dasselbe für Caleb tun.«

Auf sein Gesicht trat ein Lächeln. »Genau deshalb wollte ich Sie sprechen, Mr Goldman. Ich muss Ihnen die Wahrheit sagen. Dann werden Sie auch verstehen, warum ich es Ihnen nicht vorwerfe, dass Sie Luther ein paar Monate lang für den Täter gehalten haben. Ich habe selbst dreiunddreißig Jahre in der festen Überzeugung gelebt, dass Luther Nola Kellergan getötet hat.«

»Tatsächlich?«

»Ich war mir absolut sicher. Ab-so-lut.«

»Warum haben Sie das der Polizei gegenüber nie erwähnt?«

»Ich wollte Luther nicht ein zweites Mal töten.«

»Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen, Mr Stern.«

»Luther war von Nola besessen. Er hat eine Menge Zeit in Aurora verbracht und sie beobachtet …«

»Das weiß ich. Ich weiß auch, dass Sie ihn einmal in Goose Cove ertappt haben. Sie haben mit Sergeant Gahalowood darüber gesprochen.«

»Aber ich glaube, Sie unterschätzen das Ausmaß von Luthers Besessenheit. Im August 1975 hat er ganze Tage in Goose Cove verbracht. Er hat sich im Wald versteckt und Harry und Nola bespitzelt: auf der Terrasse, am Strand, überall. Überall! Er war vollkommen durchgeknallt, er wusste alles über sie! Alles! Er hat ständig mit mir darüber geredet. Er hat mir jeden Tag erzählt, was sie gemacht und zueinander gesagt hatten. Er hat mir ihre ganze Geschichte erzählt: dass sie sich am Strand kennengelernt hatten, dass sie an einem Buch arbeiteten, dass sie eine ganze Woche zusammen weggefahren waren. Er wusste alles! Alles! Mit der Zeit habe ich begriffen, dass er durch die beiden eine Liebesgeschichte erlebte. Er erlebte so aus zweiter Hand eine Liebe, wie er sie wegen seines abstoßenden Äußeren selbst nie hätte erleben können. Das ging so weit, dass ich ihn tagsüber nicht mehr zu sehen bekam! Mir blieb nichts anderes übrig, als mich selbst hinters Steuer zu setzen, um zu meinen Terminen zu fahren.«

»Verzeihen Sie, dass ich Sie unterbreche, Mr Stern, aber eines kann ich mir nicht erklären: Warum haben Sie Luther nicht entlassen? Ich meine, das ist doch absurd. Man gewinnt ja den Eindruck, dass Sie Ihrem Angestellten hörig waren: Er verlangt, Nola malen zu dürfen, er lässt Sie hängen, um seine Tage in Aurora zu verbringen … Entschuldigen Sie meine Frage, aber was war das zwischen Ihnen? Waren Sie …«

»Verliebt? Nein.«

»Aber was war das für ein sonderbares Verhältnis zwischen Ihnen? Sie sind ein einflussreicher Mann, keiner von denen, die sich auf der Nase herumtanzen lassen. Und trotzdem …«

»Ich stand in seiner Schuld. Ich … Ich … Gleich werden Sie es begreifen. Luther war also von Harry und Nola besessen, und die Sache artete allmählich aus. Eines Tages kam er übel zugerichtet nach Hause. Er erzählte, dass ihn ein Polizist aus Aurora zusammengeschlagen hatte, weil er ihn beim Herumlungern ertappt hatte, und dass ihn eine Kellnerin aus dem Clark’s sogar angezeigt hatte. Diese Geschichte steuerte auf eine Katastrophe zu. Also habe ich zu ihm gesagt, dass er nicht mehr nach Aurora fahren darf, dass er Urlaub nehmen und eine Weile wegfahren soll, zu seiner Familie nach Maine oder sonst wohin. Ich wollte für sämtliche Kosten aufkommen …«

»Aber er hat sich geweigert«, mutmaßte ich.

»Er hat sich nicht nur geweigert, sondern auch noch von mir verlangt, dass ich ihm einen Wagen leihe, weil er fand, dass sein blauer Mustang mittlerweile zu auffällig war. Natürlich habe ich das abgelehnt und gesagt, jetzt reicht es. Da hat er gerufen: ›Du verstehst das nicht, Eli! Sie wollen weggehen! In zehn Tagen, am 30., gehen sie für immer zusammen weg! Das haben sie am Strand beschlossen! Am 30. werden sie für immer verschwinden. Ich möchte Nola nur Adieu sagen können, es sind meine letzten Tage mit ihr. Du kannst sie mir nicht vorenthalten, jetzt, wo ich weiß, dass ich sie verlieren werde.‹ Aber ich bin standhaft geblieben und habe ihn im Auge behalten. Dann kam dieser vermaledeite 29. August. An jenem Tag habe ich überall nach Luther gesucht. Er war nirgends zu finden. Sein Mustang stand am gewohnten Platz. Schließlich ist einer meiner Angestellten mit der Sprache herausgerückt und hat mir gestanden, dass Luther mit einem Wagen aus meinem Fuhrpark weggefahren ist, mit einem schwarzen Monte Carlo. Luther hatte behauptet, ich hätte es ihm erlaubt, und da bekannt war, dass ich ihm alles durchgehen ließ, hatte keiner Fragen gestellt. Das hat mich rasend gemacht. Ich bin sofort in sein Zimmer gegangen und habe es durchsucht. Dabei bin ich auf das Gemälde von Nola gestoßen, bei dessen Anblick mir ganz elend wurde, und habe, in einer Schachtel unter seinem Bett versteckt, all diese Briefe gefunden … Briefe von Harry und Nola, die er gestohlen hatte. Offenbar hatte er sie aus ihren Briefkästen herausgefischt. Ich habe auf ihn gewartet, und als er abends nach Hause kam, hatten wir eine schreckliche Auseinandersetzung …« Stern verstummte und starrte ausdruckslos vor sich hin.

»Was genau ist passiert?«, fragte ich.

»Ich … Ich wollte, dass er damit aufhört, nach Aurora zu fahren, verstehen Sie? Ich wollte, dass diese Besessenheit in Bezug auf Nola ein Ende hat! Aber davon wollte er partout nichts wissen! Er hat gesagt, dass das mit ihm und Nola so stark sei wie noch nie! Dass niemand sie daran hindern könne, zusammen zu sein! Da bin ich durchgedreht. Wir sind aufeinander losgegangen, und ich habe ihn geschlagen. Ich habe ihn am Kragen gepackt, ihn angeschrien und geschlagen. Ich habe ihn einen Hinterwäldler genannt. Er hat auf dem Boden gelegen und sich an die blutende Nase gefasst. Ich war wie versteinert. Und dann hat er zu mir gesagt … Er hat gesagt …«

Stern brachte kein Wort mehr heraus. Er machte eine angewiderte Geste.

»Mr Stern, was hat er zu Ihnen gesagt?«, hakte ich nach, damit er den Faden nicht verlor.

»Er hat gesagt: ›Du warst es!‹ Er hat geschrien: ›Du warst es! Du warst es!‹ Ich stand wie gelähmt da. Er ist losgerannt, hat ein paar Sachen aus seinem Zimmer geholt und ist mit dem Chevrolet davongefahren, bevor ich reagieren konnte. Er hatte … Er hatte meine Stimme wiedererkannt.« Jetzt weinte Stern und ballte die Fäuste.

»Er hatte Ihre Stimme wiedererkannt?«, wiederholte ich. »Was meinen Sie damit?«

»Es … Es gab mal eine Zeit, in der ich mich mit alten Kumpels aus Harvard getroffen habe. Aus so einer schwachsinnigen Studentenverbindung Wir sind übers Wochenende nach Maine gefahren und zwei Tage in teuren Hotels abgestiegen, um zu saufen und Hummer zu essen. Wir hatten Spaß daran, uns zu prügeln und irgendwelchen armen Kerlen eine Abreibung zu verpassen. Wir haben uns eingeredet, dass in Maine nur Hinterwäldler leben und es unsere Mission ist, sie zu vermöbeln. Wir waren noch nicht mal dreißig, eingebildete Schnösel aus reichem Elternhaus. Wir waren ein bisschen rassistisch, wir waren unglücklich, und wir waren gewalttätig. Wir hatten uns ein Spiel ausgedacht: Field Goal. Es bestand darin, mit dem Fuß gegen den Kopf unserer Opfer zu treten, als würde man einen Ball wegschießen. Eines Tages im Jahr 1964 waren wir in der Nähe von Portland unterwegs. Wir waren sehr aufgedreht und ziemlich betrunken. Auf der Straße sind wir einem jungen Kerl begegnet. Ich habe den Wagen gefahren … Ich habe angehalten und vorgeschlagen, dass wir uns ein bisschen amüsieren …«

»Sie haben Caleb überfallen?«

»Ja! Ja!«, brach es aus ihm hervor. »Ich habe es mir nie verziehen! Als wir am nächsten Morgen in unserer Luxussuite im Hotel aufgewacht sind, hatten wir einen Mordskater. Alle Zeitungen haben über den Überfall berichtet. Der Junge lag im Koma. Die Polizei fahndete regelrecht nach uns, man nannte uns die Field-Goals-Bande. Wir haben beschlossen, eisern zu schweigen und den Vorfall tief in unserem Gedächtnis zu vergraben. Aber mir hat es keine Ruhe gelassen: In den Tagen und Monaten danach konnte ich an nichts anderes denken. Es hat mich richtig krank gemacht. Irgendwann habe ich damit angefangen, ab und zu nach Portland zu fahren, um zu sehen, wie es dem Jungen ging, den wir so malträtiert hatten. So verstrichen zwei Jahre, aber irgendwann konnte ich nicht mehr. Da habe ich beschlossen, ihm Arbeit und eine Chance zu geben, aus seinem Elend herauszukommen. Ich habe eine Reifenpanne vorgetäuscht, ihn um Hilfe gebeten und als Fahrer eingestellt. Ich habe ihm alles gegeben, was er wollte … Ich habe ihm im Wintergarten meines Hauses ein Atelier eingerichtet, ihm Geld gegeben, ein Auto geschenkt, aber das alles hat nicht gereicht, um meine Schuldgefühle zu besänftigen. Ich wollte noch mehr für ihn tun! Ich hatte seine Karriere als Maler zerstört, und deshalb habe ich allerlei Ausstellungen finanziert und ihn oft tagelang malen lassen. Irgendwann hat er gesagt, dass er sich einsam fühlt, weil keine ihn will. Er hat gesagt, das Einzige, was er mit einer Frau tun kann, ist, sie zu malen. Er wollte blonde Frauen malen, weil ihn das an seine ehemalige Verlobte aus der Zeit vor dem Überfall erinnerte. Also habe ich haufenweise blonde Prostituierte herankarren lassen, damit sie für ihn posierten. Aber eines Tages ist er in Aurora Nola begegnet und hat sich in sie verliebt. Er hat gesagt, dass er zum ersten Mal seit seiner Verlobten wieder jemanden liebt. Und dann ist Harry aufgekreuzt, der geniale, gut aussehende Schriftsteller. Er war so, wie Luther gern gewesen wäre. Und Nola hat sich in Harry verliebt. Darum hat Luther beschlossen, dass auch er Harry sein möchte … Was hätte ich denn tun sollen? Ich hatte ihm sein Leben gestohlen, ich hatte ihm alles genommen. Konnte ich ihm verbieten zu lieben?«

»Sie haben das alles getan, um sich von Ihrer Schuld freizukaufen?«

»Nennen Sie es, wie Sie wollen.«

»Was ist am 29. August passiert?«

»Als Luther klar geworden ist, dass ich einer derjenigen war, die damals … hat er seine Tasche gepackt und ist mit dem schwarzen Chevrolet abgehauen. Ich bin ihm sofort hinterhergefahren. Ich wollte ihm alles erklären. Ich wollte, dass er mir vergibt. Aber ich konnte ihn nirgends finden. Ich habe den ganzen Tag und die halbe Nacht vergeblich nach ihm gesucht. Ich habe mir solche Vorwürfe gemacht und gehofft, dass er von allein zurückkommt. Aber dann wurde am nächsten Tag abends im Radio gemeldet, dass Nola Kellergan verschwunden war. Der Tatverdächtige fuhr einen schwarzen Chevrolet … Mehr brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen. Ich habe beschlossen, kein Wort darüber zu verlieren, damit Luther nicht verdächtigt wurde. Oder vielleicht auch, weil ich im Grunde genauso schuldig war wie Luther. Deshalb konnte ich es auch nicht ertragen, dass Sie die Geister wieder zum Leben erwecken wollten, Mr Goldman. Aber dank Ihnen weiß ich jetzt endlich, dass Luther Nola nicht getötet hat. Das ist so, als hätte auch ich sie nicht getötet. Sie haben mein Gewissen erleichtert, Mr Goldman.«

»Und der Mustang?«

»Der steht unter einer Plane in meiner Garage. Seit dreiunddreißig Jahren verstecke ich ihn dort.«

»Und die Briefe?«

»Die habe ich auch aufgehoben.«

»Ich würde sie gern sehen. Bitte.«

Stern hängte ein Bild von der Wand ab und legte die Tür eines kleinen Tresors frei. Er öffnete ihn und entnahm ihm einen Schuhkarton voller Briefe. So bekam ich die gesamte Korrespondenz von Harry und Nola zu Gesicht, die es möglich gemacht hatte, Der Ursprung des Übels zu schreiben. Den ersten Brief erkannte ich sofort wieder: Es war der, der das Buch eröffnete. Der Brief vom 5. Juli 1975, dieser furchtbar traurige Brief, den Nola geschrieben hatte, nachdem Harry sie zurückgewiesen und sie erfahren hatte, dass er den Abend des 4. Juli mit Jenny Dawn verbracht hatte. An jenem Tag hatte sie einen Umschlag mit dem Brief und zwei in Rockland aufgenommenen Fotos darin an seine Tür gelehnt. Eines der Fotos zeigte den Möwenschwarm am Meeresufer, das andere sie beide bei ihrem gemeinsamen Picknick.

»Wie zum Teufel hat Luther nur all diese Briefe an sich gebracht?«, fragte ich.

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Stern. »Aber es würde mich nicht wundern, wenn er in Harrys Haus eingedrungen ist.«

Ich überlegte: Er hätte die Briefe ohne Weiteres an den Tagen entwenden können, an denen Harry nicht in Aurora gewesen war. Aber warum hatte mir Harry nie erzählt, dass die Briefe verschwunden waren? Ich bat Stern, den Karton mitnehmen zu dürfen, und er willigte ein. Eine ungeheuerliche Ahnung stieg in mir auf.

Das Gesicht New York zugewandt, hörte Harry mir zu und weinte still vor sich hin.

»Als ich diese Briefe gesehen habe«, erklärte ich ihm, »haben sich meine Gedanken überschlagen. Ich musste an Ihr Buch Die Möwen von Aurora denken, das Sie im Garderobenschrank des Fitnessclubs hinterlegt hatten. Und mir ist etwas aufgefallen, was ich die ganze Zeit übersehen hatte: In Der Ursprung des Übels kommen keine Möwen vor! Wie hatte mir das entgehen können? Nicht eine Möwe! Dabei hatten Sie versprochen, über die Möwen zu schreiben! In diesem Augenblick ist mir klar geworden, dass Sie Der Ursprung des Übels nicht geschrieben haben. Das Buch, das Sie im Sommer 1975 verfasst haben, heißt Die Möwen von Aurora. Das ist das Buch, das Sie geschrieben haben und das Nola auf der Schreibmaschine getippt hat! Die Bestätigung habe ich erhalten, als ich Gahalowood gebeten habe, die Schrift aus den Briefen, die Stern mir überlassen hatte, mit dem handgeschriebenen Vermerk auf dem bei Nola gefundenen Manuskript vergleichen zu lassen. Als er mir mitgeteilt hat, dass die Schriften übereinstimmen, ist mir klar geworden, dass Sie mich schlicht und ergreifend benutzt haben, als Sie mich baten, Ihr angeblich eigenhändig geschriebenes Manuskript zu verbrennen. Es war nämlich gar nicht Ihre Handschrift! Sie haben das Buch, das Sie als Schriftsteller berühmt gemacht hat, nicht selbst verfasst! Sie haben es Luther gestohlen!«

»Seien Sie still, Marcus!«

»Irre ich mich etwa? Sie haben ein Buch gestohlen! Gibt es für einen Schriftsteller ein schlimmeres Vergehen? Der Ursprung des Übels – deshalb haben Sie das Buch so genannt! Und ich habe nie verstanden, wie man einer so schönen Geschichte einen so düsteren Titel geben kann! Dabei bezieht sich der Titel überhaupt nicht auf das Buch, sondern auf Sie. Dabei hatten Sie mir das immer wieder gesagt: Ein Buch stellt nicht unser Verhältnis zu den Wörtern dar, sondern das zu den Menschen. Dieses Buch ist der Ursprung des Übels, das Sie seither quält, nämlich das schlechte Gewissen wegen Ihres Betrugs!«

»Hören Sie auf, Marcus! Schweigen Sie!«

Er schluchzte. Trotzdem fuhr ich fort: »Eines Tages hat Nola einen Briefumschlag an Ihre Haustür gelehnt. Das war am 5. Juli 1975. Der Umschlag enthielt zwei Fotos und einen auf ihrem Lieblingspapier verfassten Brief, in dem sie von Rockland schrieb und darüber, dass sie Sie nie vergessen würde. Das war zu der Zeit, als Sie sie bewusst gemieden haben. Aber diesen Brief haben Sie nie erhalten, weil Luther Ihr Haus beobachtet und ihn an sich genommen hat, kaum dass Nola gegangen war. Und an diesem Tag hat er angefangen, sich mit Nola zu schreiben. Er hat auf ihren Brief geantwortet und sich als Sie ausgegeben. Sie hat ihm in der Annahme geantwortet, dass sie Ihnen schrieb, aber er hat ihre Post aus Ihrem Briefkasten abgefangen. Er hat ihr zurückgeschrieben und dabei immer so getan, als wäre er Sie. Deshalb hat er sich an Ihrem Haus herumgetrieben. Nola hat geglaubt, mit Ihnen zu korrespondieren, und aus dem Briefwechsel mit Luther Caleb ist Der Ursprung des Übels entstanden. Wie konnten Sie nur, Harry …«

»Ich war am Ende, Marcus! In jenem Sommer ist mir das Schreiben unsäglich schwergefallen. Ich habe geglaubt, ich würde es nie schaffen. Ich habe an diesem Buch, an Die Möwen von Aurora, geschrieben, aber es kam mir miserabel vor. Nola fand es wundervoll, aber mich konnte nichts beruhigen. Ich habe richtige Tobsuchtsanfälle bekommen. Sie hat meine handgeschriebenen Seiten auf der Maschine getippt, ich habe sie anschließend durchgelesen und zerrissen. Sie hat mich angefleht, damit aufzuhören, sie hat gesagt: ›Tun Sie das nicht! Es ist großartig! Bitte schreiben Sie das Buch fertig. Allerliebster Harry, ich ertrage es nicht, wenn Sie es nicht zu Ende schreiben!‹ Aber ich habe ihr nicht geglaubt. Ich dachte, aus mir würde nie ein Schriftsteller werden. Und dann hat eines Tages Luther Caleb an meiner Tür geklingelt. Er hat gesagt, er wüsste nicht, an wen er sich sonst wenden sollte, und sei deshalb zu mir gekommen. Er hatte ein Buch geschrieben und wollte wissen, ob es sich lohnte, es ein paar Verlegern zu zeigen. Ach, Marcus, er hat mich für einen bedeutenden Schriftsteller aus New York gehalten und gedacht, ich könnte ihm helfen.«

20. August 1975

»Luther?« Als Harry die Haustür öffnete und ihn sah, verbarg er sein Erstaunen nicht.

»Gut … Guten Tag, Harry.«

Betretenes Schweigen. »Kann ich etwas für Sie tun, Luther?«

»Ich bin auf perfönlichen Gründen hier. Um Fie um Rat fu fragen.«

»Um Rat? Ich höre. Aber möchten Sie nicht lieber hereinkommen?«

»Danke.«

Die beiden Männer setzten sich ins Wohnzimmer. Luther war nervös. Er hatte ein dickes Kuvert dabei, das er fest an sich drückte.

»Also, Luther, was gibt’s?«

»Ich … Ich habe ein Buch gefrieben. Eine Liebefgefichte.«

»Ach, wirklich?«

»Ja. Aber ich weif nicht, ob ef gut ift. Woher weif man eigentlich, ob ein Buch ef wert ift, veröffentlicht fu werden?«

»Keine Ahnung. Wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie Ihr Bestes gegeben haben … Haben Sie den Text dabei?«

»Ja, aber nur alf handgefriebenef Manufkript«, entschuldigte sich Luther. »Daf habe ich gerade erft gemerkt. Ef gibt auch eine Freibmafinenfaffung, aber auf Verfehen habe ich den verkehrten Umflag mitgenommen. Foll ich den anderen holen und fpäter nochmal wiederkommen?«

»Nein, zeigen Sie mal her.«

»Ef ift …«

»Na, na, nicht so schüchtern. Ich bin sicher, Ihre Schrift ist gut zu lesen.«

Luther reichte ihm den Umschlag. Harry zog die Seiten heraus und überflog einige von ihnen. Er war verblüfft, wie makellos die Schrift war. »Ist das Ihre Handschrift?«

»Ja.«

»Donnerwetter! Man könnte meinen … Das ist … Das ist unglaublich. Wie machen Sie das?«

»Keine Ahnung. Ich freibe eben fo.«

»Wenn Sie einverstanden sind, lassen Sie es mir doch zum Lesen hier. Ich werde Ihnen meine ehrliche Meinung sagen.«

»Wirklich?«

»Selbstverständlich.«

Luther nahm das Angebot gern an und ging. Doch anstatt Goose Cove zu verlassen, versteckte er sich im Gebüsch und wartete wie immer auf Nola. Kurz darauf erschien sie, voller Vorfreude auf ihre baldige Abreise. Sie bemerkte die im Dickicht versteckte Gestalt nicht, die sie beobachtete, sondern betrat das Haus, ohne zu klingeln, wie sie es in letzter Zeit immer tat.

»Allerliebster Harry!«, rief sie, um sich anzukündigen.

Keine Antwort. Das Haus wirkte verlassen. Sie rief noch einmal. Stille. Sie sah im Ess- und im Wohnzimmer nach, fand ihn jedoch nicht. Auch in seinem Arbeitszimmer und auf der Terrasse war er nicht. Also ging sie die Treppe zum Strand hinunter und rief dort nach ihm. Vielleicht war er schwimmen gegangen? Das tat er manchmal, wenn er zu viel gearbeitet hatte. Doch auch am Strand war niemand. Sie spürte, wie sich Unruhe in ihr breitmachte. Wo konnte er nur sein? Sie kehrte ins Haus zurück und rief erneut. Nichts. Sie sah in allen Zimmern im Erdgeschoss nach und ging dann nach oben. Als sie die Tür zu seinem Schlafzimmer öffnete, sah sie ihn auf dem Bett sitzen und einen Stapel Papiere lesen.

»Harry? Hier sind Sie. Seit zehn Minuten suche ich Sie überall …«

Er fuhr zusammen, als er sie hörte. »Entschuldige, Nola, ich habe gelesen … Ich habe dich nicht gehört.« Er stand auf, schob die Blätter in seinen Händen zusammen und legte sie in eine Schublade der Kommode.

Mit einem Lächeln fragte sie: »Und was lesen Sie so Spannendes, dass Sie nicht mal gehört haben, wie ich im Haus nach Ihnen gerufen habe?«

»Nichts Wichtiges.«

»Ist das die Fortsetzung Ihres Romans? Zeigen Sie her!«

»Nichts Wichtiges, ich zeige es dir gelegentlich.«

Sie sah ihn schelmisch an. »Sind Sie sich sicher, dass alles in Ordnung ist, Harry?«

Er lachte. »Es ist alles in Ordnung, Nola.«

Sie gingen an den Strand. Nola wollte die Möwen sehen. Sie breitete die Arme wie Flügel aus und lief in großen Kreisen umher. »Ich wollte, ich könnte fliegen, Harry! Nur noch zehn Tage! In zehn Tagen fliegen wir davon! Wir gehen für immer aus dieser Unglücksstadt fort!«

Sie glaubten sich allein am Strand. Weder Harry noch Nola ahnten, dass Luther Caleb sie von oberhalb der Felsen aus dem Wald beobachtete. Er wartete, bis sie ins Haus zurückkehrten, bevor er sein Versteck verließ. Dann rannte er die Auffahrt von Goose Cove entlang und zu seinem im parallel verlaufenden Waldweg geparkten Mustang. Er fuhr nach Aurora, hielt vor dem Clark’s und stürzte hinein. Er musste unbedingt mit Jenny reden. Jemand musste davon erfahren. Er hatte eine böse Vorahnung. Aber Jenny wollte ihn nicht sehen.

»Luther? Du solltest nicht hier sein«, sagte sie zu ihm, als er an der Theke auftauchte.

»Jenny … Ef tut mir leid wegen neulich früh. Ich hätte deinen Arm nicht fo feft anpacken dürfen.«

»Ich habe davon einen blauen Fleck bekommen.«

»Ef tut mir fo leid.«

»Du musst jetzt gehen.«

»Nein, warte …«

»Ich habe dich angezeigt, Luther. Travis hat gesagt, wenn du dich in der Stadt blicken lässt, soll ich ihn anrufen, und dann kriegst du es mit ihm zu tun. Du gehst jetzt besser, bevor er dich hier sieht.«

Der hünenhafte Luther wirkte gekränkt. »Du haft mich angefeigt?«

»Ja. Du hast mir neulich früh solche Angst eingejagt …«

»Aber ich muff dir waf Wichtigef erfählen …«

»Es gibt nichts Wichtiges, Luther, und jetzt geh …«

»Ef geht um Harry Quebert …«

»Um Harry?«

»Ja, fag mir, waf du von Harry Quebert hälft …«

»Warum willst du das wissen?«

»Trauft du ihm?«

»Ob ich ihm traue? Aber sicher. Warum fragst du mich das?«

»Ich muff dir waf fagen …«

»Mir was sagen? Was denn?«

Gerade als Luther antworten wollte, fuhr ein Polizeiauto auf den Platz gegenüber vom Clark’s.

»Das ist Travis!«, rief Jenny. »Verschwinde, Luther, schnell! Ich will nicht, dass du Ärger bekommst.«

»Es war ganz einfach das schönste Buch, das ich je gelesen hatte«, erklärte mir Harry. »Und ich wusste nicht einmal, dass es für Nola war! Ihr Name taucht nirgends auf. Es war eine außergewöhnliche Liebesgeschichte. Caleb habe ich nie wiedergesehen. Ich hatte keine Gelegenheit, ihm seinen Text zurückzugeben, denn was dann geschah, wissen Sie ja. Vier Wochen später habe ich erfahren, dass Luther Caleb bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Und ich befand mich im Besitz eines Originalmanuskripts, von dem ich wusste, dass es ein Meisterwerk war. Ich beschloss, es mir anzueignen. Ich habe meine Karriere und mein Leben auf einer Lüge aufgebaut. Wie hätte ich ahnen können, dass das Buch so erfolgreich sein würde? Dieser Erfolg hat mir mein Leben lang zu schaffen gemacht. Mein Leben lang! Und dann findet die Polizei dreiunddreißig Jahre später Nola und das Manuskript in meinem Garten. Ausgerechnet in meinem Garten! In diesem Augenblick hatte ich solche Angst, alles zu verlieren, dass ich behauptet habe, ich hätte das Buch für sie geschrieben.«

»Sie haben in Kauf genommen, dass man Sie des Mordes anklagt, nur damit die Wahrheit über dieses Manuskript nicht ans Licht kommt?«

»Ja! Weil mein ganzes Leben eine einzige Lüge ist, Marcus!«

»Nola hatte gar keine Kopie mitgenommen, stimmt’s? Das haben Sie nur behauptet, damit niemand Ihre Autorenschaft anzweifelt.«

»Ja. Aber woher stammt das Exemplar, das sie bei sich hatte?«

»Luther hatte es ihr in den Briefkasten gelegt«, erklärte ich.

»In den Briefkasten?«

»Luther wusste, dass Sie mit Nola durchbrennen wollten, er hatte Sie beide am Strand belauscht. Er wusste, dass Nola ohne ihn fortgehen würde, und so hat er seine Geschichte auch enden lassen: mit dem Fortgang der Hauptfigur. Er schreibt ihr einen letzten Brief, in dem er ihr ein schönes Leben wünscht. Dieser Brief findet sich auch in dem Manuskript, das er Ihnen gebracht hat. Luther wusste alles. Doch am Tag der Abreise, vermutlich in der Nacht vom 29. auf den 30. August, verspürt er das Bedürfnis, den Kreis zu schließen: Er will seine Geschichte mit Nola so beenden, wie sie in seinem Manuskript endet. Deshalb legt er einen letzten Brief in den Briefkasten der Kellergans oder, besser gesagt, ein letztes Paket: den Abschiedsbrief und das Manuskript seines Buchs, damit sie weiß, wie sehr er sie liebt. Und weil er weiß, dass er sie nie wiedersehen wird, schreibt er Adieu, allerliebste Nola auf das Deckblatt. Bestimmt hat er bis zum Morgen dort gewartet, um sicherzugehen, dass auch wirklich Nola die Post hereinholt. Das hat er immer so gemacht. Aber als Nola den Brief und das Manuskript findet, geht sie davon aus, dass Sie ihr geschrieben haben. Sie glaubt, dass Sie nicht zum Treffpunkt kommen werden, und dekompensiert. Sie dreht durch.«

Harry sackte in sich zusammen und legte beide Hände aufs Herz. »Erzählen Sie es mir, Marcus! Erzählen Sie es mir! Ich möchte es mit Ihren Worten hören! Erzählen Sie mir auf Ihre unvergleichliche Art, was am 30. August 1975 passiert ist.«

30. August 1975

An einem Tag Ende August wurde in Aurora ein fünfzehnjähriges Mädchen ermordet. Es hieß Nola Kellergan. Alle Beschreibungen, die Sie über Nola hören werden, werden sie als vor Lebendigkeit und Träumen gerade zu überschäumend schildern. Es wäre zu kurz gegriffen, die Ursachen ihres Todes auf die Geschehnisse des 30. August 1975 zu reduzieren. Vielleicht beginnt alles schon Jahre früher. Etwa in den 1960er-Jahren, in denen die Eltern nicht mitkriegen, was für eine Krankheit sich in ihrem Kind eingenistet hat. Oder in einer Nacht des Jahres 1964, in der ein junger Mann von einer Bande angetrunkener Rowdys entstellt wird und in deren Folge einer von ihnen, von Schuldgefühlen geplagt und ohne sich zu erkennen zu geben, die Nähe des Opfers sucht, um sein Gewissen zu beruhigen. Oder in jener Nacht des Jahres 1969, in der ein Vater beschließt, Stillschweigen über das Geheimnis seiner Tochter zu bewahren. Vielleicht nimmt aber auch alles an einem Nachmittag im Juni 1975 seinen Anfang, als Harry Quebert Nola begegnet und die beiden sich ineinander verlieben.

Dies ist die Geschichte von Eltern, die die Wahrheit über ihr Kind nicht sehen wollen.

Dies ist die Geschichte eines reichen Erben, der in seinen verspäteten Flegeljahren die Träume eines jungen Mannes zerstört hat und bis heute von seiner Tat verfolgt wird.

Dies ist die Geschichte eines Mannes, der davon träumt, ein großer Schriftsteller zu werden, und von seinem Ehrgeiz allmählich aufgefressen wird.

Am 30. August 1975 hielt im Morgengrauen ein Wagen vor der Terrace Avenue 245. Luther Caleb war gekommen, um Nola Lebewohl zu sagen. Er war total durcheinander. Er wusste nicht mehr, ob sie sich geliebt hatten oder ob er alles nur geträumt hatte. Er wusste nicht mehr, ob sie sich wirklich all diese Briefe geschrieben hatten. Aber er wusste, dass Harry und Nola heute fliehen wollten. Auch er wollte weg aus New Hampshire – weit weg von Stern. In seinem Kopf ging es drunter und drüber: Der Mann, der ihm die Freude am Leben zurückgegeben hatte, war derselbe, der sie ihm einst genommen hatte. Ein Albtraum! Doch jetzt zählte nur eines: Er musste seine Liebesgeschichte beenden. Er musste Nola den letzten Brief noch geben. Er hatte ihn schon vor knapp drei Wochen geschrieben, nämlich an dem Tag, an dem er Harry und Nola hatte sagen hören, dass sie am 30. August fliehen wollten. Danach hatte er in aller Eile sein Buch fertig geschrieben. Das Original hatte er Harry Quebert überlassen, weil er wissen wollte, ob es sich lohnte, es verlegen zu lassen. Doch jetzt spielte das alles keine Rolle mehr. Er hatte sogar darauf verzichtet, sich seinen Text zurückzuholen. Er hatte die Schreibmaschinenfassung behalten und sie für Nola hübsch binden lassen. An diesem Samstag, dem 30. August, wollte er den letzten Brief, der ihre Geschichte beenden sollte, in den Briefkasten der Kellergans legen, zusammen mit dem Manuskript, damit Nola sich immer an ihn erinnerte. Welchen Titel sollte er dem Buch geben? Er hatte keine Ahnung. Das Buch würde nie erscheinen – warum ihm also einen Titel geben? Er hatte lediglich eine Widmung auf das Deckblatt geschrieben, um ihr gute Reise zu wünschen: Adieu, allerliebste Nola.

Er wartete in seinem Wagen, bis es hell wurde. Er wartete, bis sie herauskam. Er wollte sichergehen, dass sie diejenige war, die das Buch fand. Seit sie sich schrieben, hatte immer sie die Post hereingeholt. Er wartete und versteckte sich, so gut er konnte. Niemand durfte ihn sehen, schon gar nicht dieser brutale Travis Dawn, sonst würde er sein blaues Wunder erleben. Er hatte für den Rest seines Lebens genug Schläge eingesteckt.

Um elf Uhr trat sie endlich aus dem Haus. Wie immer schaute sie sich um. Sie strahlte und trug ein hinreißendes rotes Kleid. Eilig lief sie zum Briefkasten und lächelte, als sie das Kuvert und das Paket erblickte. Als sie den Brief gelesen hatte, musste sie sich an der Wand festhalten. Dann rannte sie weinend ins Haus. Sie würden nicht zusammen fortgehen, Harry würde nicht im Motel auf sie warten. Sein letzter Brief war ein Abschiedsbrief.

Sie flüchtete sich in ihr Zimmer und warf sich kreuzunglücklich aufs Bett. Warum? Warum verstieß er sie? Warum hatte er ihr eingeredet, dass sie sich immer lieben würden? Sie blätterte im Manuskript. Was war das für ein Buch, von dem er ihr nie erzählt hatte? Ihre Tränen tropften aufs Papier und befleckten es. Das waren ihre Briefe! All die Briefe, die sie sich geschrieben hatten, waren darin, auch der letzte: Mit ihm endete das Buch. Er hatte sie von Anfang an belogen. Er hatte nie vorgehabt, mit ihr zu fliehen. Vom vielen Weinen bekam sie Kopfschmerzen. Ihr war so elend zumute, dass sie sterben wollte.

Leise öffnete sich ihre Zimmertür. Ihr Vater hatte sie schluchzen hören. »Was ist los, mein Schatz?«

»Nichts, Papa.«

»Von wegen nichts! Ich sehe doch, dass etwas nicht stimmt …«

»Ach, Papa! Ich bin traurig! Ich bin ja so traurig!« Sie fiel dem Reverend um den Hals.

»Lass sie los!«, rief plötzlich Louisa Kellergan. »Sie verdient keine Liebe! Lass sie los, David, hörst du?«

»Hör auf, Nola … Fang nicht wieder damit an!«

»Sei still, David! Du bist ein Versager! Du hast damals nichts unternommen! Jetzt muss ich die Sache selbst in die Hand nehmen.«

»Nola! Um Himmels willen! Beruhige dich! Beruhige dich doch! Ich werde nicht zulassen, dass du dir wieder etwas antust.«

»Lass uns allein, David!«, fauchte Louisa und stieß ihren Mann heftig von sich.

Hilflos wich er in den Flur zurück.

»Komm her, Nola!«, schrie die Mutter. »Komm hierher! Ich werd’s dir zeigen!«

Die Tür fiel zu. Reverend Kellergan war wie gelähmt. Durch die Wand hörte er, was sich im Zimmer abspielte.

»Mutter, bitte nicht! Hör auf! Bitte hör auf!«

»Hier, das kommt davon! Das macht man mit Mädchen, die ihre Mutter getötet haben.«

Der Reverend stürzte in die Garage, stellte den Plattenspieler an und drehte die Lautstärke voll auf.

Den ganzen Tag dröhnte die Musik durch das Haus und die Nachbarschaft. Die Passanten blickten missbilligend zu den Fenstern. Ein paar von ihnen sahen sich vielsagend an: Man wusste ja, was bei den Kellergans los war, wenn so laute Musik lief.

Luther hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Er saß immer noch am Steuer seines zwischen den am Straßenrand geparkten Autos versteckten Chevrolets und ließ das Haus nicht aus den Augen. Warum hatte sie angefangen zu weinen? Hatte ihr sein Brief nicht gefallen? Und sein Buch? Gefiel es ihr etwa auch nicht? Warum die Tränen? Er hatte sich solche Mühe gegeben. Er hatte für sie einen Liebesroman geschrieben, und die Liebe sollte einen nicht zum Weinen bringen.

Er wartete bis achtzehn Uhr. Er war sich unschlüssig, ob er warten sollte, bis sie erneut erschien, oder ob er an der Tür klingeln sollte. Er wollte sie sprechen, wollte ihr sagen, dass sie nicht weinen sollte. Da sah er sie im Garten auftauchen: Sie war aus dem Fenster geklettert. Sie beobachtete die Straße, um sicherzugehen, dass niemand sie sah, und trat dann unauffällig auf den Gehsteig. Sie hatte sich eine Schultertasche umgehängt. Kurz darauf fing sie an zu rennen. Luther ließ den Motor an.

Der schwarze Chevrolet hielt auf ihrer Höhe.

»Luther?«, fragte Nola.

»Nicht weinen … Ich bin nur gekommen, um dir zu fagen, daff du nicht weinen follft.«

»Ach, Luther, mir ist gerade etwas so Trauriges passiert … Nimm mich mit! Bitte nimm mich mit!«

»Wohin willft du?«

»Weit weg von allem!«

Ohne Luthers Antwort abzuwarten, schlüpfte sie auf den Beifahrersitz. »Fahr los, mein guter Luther! Ich muss zum Sea Side Motel. Es ist ausgeschlossen, dass er mich nicht liebt! Wir lieben uns wie niemand sonst auf der Welt!«

Luther gehorchte. Weder er noch Nola hatten den Streifenwagen bemerkt, der an der Kreuzung aufgetaucht war. Travis Dawn war gerade zum x-ten Mal bei den Quinns vorbeigefahren, um zu warten, bis Jenny allein zu Hause war, weil er ihr die wilden Rosen schenken wollte, die er für sie gepflückt hatte. Ungläubig sah er, wie Nola in diesen unbekannten Wagen stieg. Da erkannte er Luther am Steuer. Als der Chevrolet losfuhr, wartete er ein wenig, bevor er ihm folgte. Er durfte ihn nicht aus den Augen verlieren, aber auch nicht zu dicht auffahren. Er wollte unbedingt herausfinden, warum Luther so viel Zeit in Aurora verbrachte. Kam er, um Jenny nachzuspionieren? Warum nahm er Nola mit? Plante er ein Verbrechen? Beim Fahren griff Travis nach dem Mikrofon seines Bordfunkgeräts: Er wollte Verstärkung anfordern, um Luther in die Zange nehmen zu können, falls die Festnahme missglückte. Aber er überlegte es sich anders. Er wollte sich nicht mit einem Kollegen belasten, sondern die Sache auf seine Art regeln. Aurora war ein beschauliches Städtchen, und er wollte dafür sorgen, dass es das blieb. Er wollte Luther eine Lektion verpassen, die er nie vergessen würde. Das würde das letzte Mal sein, dass er einen Fuß hierher gesetzt hatte. Und wieder fragte sich Travis, wie Jenny sich in dieses Monster hatte verlieben können.

»Du hast die Briefe geschrieben?«, empörte sich Nola im Wagen, nachdem sie Calebs Erklärungen gehört hatte.

»Ja …«

Sie trocknete mit dem Handrücken ihre Tränen. »Luther, du spinnst! Die Post anderer Leute stiehlt man nicht! Das gehört sich nicht!«

Beschämt ließ er den Kopf hängen. »Ef tut mir leid … Ich war fo einfam …«

Sie legte ihm freundschaftlich die Hand auf die kräftige Schulter. »Ist ja nicht so schlimm, Luther! Das bedeutet nämlich, dass Harry auf mich wartet! Er wartet auf mich! Wir gehen zusammen weg!« Bei dieser Vorstellung hellte sich ihre Miene auf.

»Du haft ef gut, Nola. Ihr liebt euch … Daf heift, daff ihr nie allein fein werdet.«

Sie waren nun auf der Route 1 unterwegs und kamen gerade an der Abbiegung nach Goose Cove vorbei.

»Leb wohl, Goose Cove!«, rief Nola glücklich. »Dieses Haus ist der einzige Ort hier, an den ich glückliche Erinnerungen habe.«

Sie lachte ohne Grund. Luther lachte mit. Er und Nola gingen auseinander, aber sie trennten sich im Guten. Plötzlich hörten sie hinter sich eine Polizeisirene. Sie waren nicht mehr weit vom Wald entfernt. Travis hatte beschlossen, sie dort abzufangen und Luther einen Denkzettel zu verpassen. Im Wald würde sie niemand sehen.

»Daf ift Travif!«, rief Luther. »Wenn er uns erwift, find wir verloren.«

Nola überkam panische Angst. »Keine Polizei! Oh, Luther, ich flehe dich an, tu was!«

Der Chevrolet beschleunigte. Es war ein leistungsstarkes Modell. Travis fluchte und forderte Luther per Lautsprecher auf, am Straßenrand zu halten.

»Nicht anhalten!«, bettelte Nola. »Gib Vollgas!«

Luther trat das Gaspedal des Chevrolets durch. Der Abstand zu Travis vergrößerte sich ein wenig. Hinter Goose Cove beschrieb die Route 1 mehrere Kurven. Luther nahm sie sehr eng und schaffte es, seinen Vorsprung weiter auszubauen. Sie hörten, wie sich die Sirene entfernte.

»Er fordert beftimmt Verftärkung an«, meinte Luther.

»Wenn er uns einholt, werde ich nie mit Harry fortgehen!«

»Dann laff unf in den Wald fliehen. Der Wald ift riefig, dort findet unf niemand. Du kannft von dort fum Motel gehen. Wenn fie mich fnappen, werde ich nichtf verraten. Ich werde nicht erfählen, daff du bei mir warft. Dann kannft du mit Harry fliehen.«

»Ach, Luther …«

»Verfprich mir, daff du mein Buch aufhebft! Verfprich, daff du ef alf Andenken an mich aufhebft!«

»Ich verspreche es!«

Bei diesen Worten riss Luther jäh das Lenkrad herum. Der Wagen drang durch das Dickicht am Waldrand und kam hinter dichten Brombeersträuchern zum Stehen. Hastig sprangen sie heraus.

»Lauf!«, befahl Luther Nola. »Lauf!«

Sie schlugen sich durch das Gestrüpp. Die Dornen zerfetzten Nolas Kleid und zerkratzten ihr das Gesicht.

Travis fluchte. Der schwarze Chevrolet war nicht mehr zu sehen. Travis gab Gas und fuhr auf der Route 1 weiter, ohne die schwarze Karosserie im Gebüsch zu entdecken.

Sie rannten durch den Wald. Nola vorneweg, Luther hinterher. Ihm fiel es wegen seiner kräftigen Statur schwerer, sich unter den niedrigen Ästen hindurchzuschlängeln.

»Lauf, Nola! Nicht ftehen bleiben!«, schrie er.

Sie hatten sich, ohne es zu merken, dem Waldrand genähert und befanden sich nun unweit der Side Creek Lane.

Deborah Cooper stand am Küchenfenster und spähte in den Wald. Plötzlich war ihr, als hätte sie eine Bewegung wahrgenommen. Sie sah genauer hin und erblickte ein Mädchen, das um sein Leben rannte und von einem Mann verfolgt wurde. Da stürzte sie ans Telefon und wählte die Nummer der Polizei.

Travis hatte gerade am Straßenrand angehalten, als er der Ruf aus der Zentrale kam: In der Nähe der Side Creek Lane war ein Mädchen gesichtet worden, das offenbar von einem Mann verfolgt wurde. Er bestätigte, dass er die Sache übernahm, machte auf der Stelle kehrt und fuhr mit eingeschaltetem Blaulicht und heulender Sirene in Richtung Side Creek Lane. Nach etwa einer halben Meile wurde sein Blick von einem Lichtreflex angezogen: eine Windschutzscheibe! Er hielt an und ging mit gezückter Waffe auf das Fahrzeug zu, doch es war leer. Sofort kehrte er zum Wagen zurück und raste weiter zu Deborah Cooper.

In Strandnähe blieben sie stehen, um Atem zu schöpfen.

»Glaubst du, wir haben es geschafft?«, fragte Nola.

Luther spitzte die Ohren: Es war nichts zu hören.

»Wir follten hier kurf warten. Im Wald find wir gefüft.«

Nolas Herz pochte heftig. Sie dachte an Harry. Und an ihre Mutter. Ihre Mutter fehlte ihr.

»Ein Mädchen in einem roten Kleid«, erklärte Deborah Cooper Officer Dawn. »Sie ist in Richtung Strand gerannt. Ein Mann war hinter der Kleinen her. Ich konnte ihn nicht richtig sehen, aber er wirkte eher stämmig.«

»Das sind sie«, sagte Travis. »Darf ich Ihr Telefon benutzen?«

»Selbstverständlich.«

Travis rief bei Chief Pratt zu Hause an. »Chief, es tut mir leid, dass ich Sie an Ihrem freien Tag störe, aber hier passiert wahrscheinlich gerade etwas Schlimmes. Ich habe Luther Caleb in Aurora erwischt …«

»Schon wieder?«

»Ja. Aber diesmal hat er Nola Kellergan in seinen Wagen gelockt. Ich habe versucht, sie aufzuhalten, aber er hat mich abgeschüttelt. Er ist mit Nola in den Wald geflohen. Ich glaube, er hat sich an ihr vergangen, Chief. Der Wald ist so dicht, da habe ich allein keine Chance.«

»Großer Gott! Gut, dass du angerufen hast! Ich komme sofort!«

»Wir wollen nach Kanada gehen. Ich liebe Kanada. Wir werden in einem hübschen Haus am See wohnen. Wir werden so glücklich sein.«

Luther lächelte. Er saß auf einem Baumstumpf und hörte sich Nolas Träumereien an.

»Ein föner Plan«, meinte er.

»Ja. Wie spät ist es?«

»Gleich Viertel vor Fieben.«

»Dann muss ich los. Ich bin um neunzehn Uhr in Zimmer 8 verabredet. Jetzt sind wir außer Gefahr.«

Doch in diesem Augenblick hörten sie Geräusche und gleich darauf laute Stimmen.

»Die Polizei!«, rief Nola in Panik.

Chief Pratt und Travis durchkämmten in Strandnähe den Waldrand. Mit den Gummiknüppeln in der Hand schlugen sie sich durchs Gehölz.

»Geh, Nola«, sagte Luther. »Geh. Ich bleibe hier.«

»Nein! Ich kann dich nicht allein hierlassen!«

»Geh, verdammt! Geh endlich! Du kommft noch rechtfeitig fum Hotel! Harry wird dort fein! Und dann flieht! Fo fnell wie möglich! Flieht und werdet glücklich!«

»Luther, ich …«

»Adieu, Nola. Werde glücklich. Liebe mein Buch fo, wie ich mir gewünft hätte, daff du mich liebft.«

Nola weinte wieder. Sie winkte ihm zu und verschwand zwischen den Bäumen.

Die beiden Polizisten kamen zügig voran. Nach ein paar hundert Metern erblickten sie eine schemenhafte Gestalt.

»Das ist Luther!«, brüllte Travis. »Das ist er!«

Luther saß noch immer auf dem Baumstumpf. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Travis stürzte sich auf ihn und packte ihn am Kragen.

»Wo ist die Kleine?«, rief er und schüttelte ihn.

»Wen meinst du?«, fragte Luther. Er versuchte auszurechnen, wie lange Nola zum Motel brauchen würde.

»Wo ist Nola? Was hast du mit ihr angestellt?«, wiederholte Travis.

Als Luther nicht antwortete, trat Chief Pratt vor und zertrümmerte ihm mit einem kräftigen Schlag mit dem Gummiknüppel das Knie.

Nola hörte einen lauten Schrei. Sie blieb mitten im Lauf stehen und erschauerte. Sie hatten Luther gefunden und verprügelten ihn. Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte sie: Sie musste umdrehen und sich den Polizisten zeigen. Es war nicht fair, wenn Luther ihretwegen solchen Ärger bekam. Schon wollte sie zum Baumstumpf zurücklaufen, als sie spürte, wie sich eine Hand auf ihre Schulter legte.

»Mutter?«, fragte sie.

Mit zertrümmerten Kniescheiben lag Luther auf dem Boden und stöhnte. Travis und Pratt traten und schlugen abwechselnd mit den Knüppeln auf ihn ein.

»Was hast du mit Nola gemacht?«, brüllte Travis. »Du hast ihr was angetan, stimmt’s? Du bist total gestört, verdammt noch mal! Konntest dich wohl nicht beherrschen, was?«

Luther schrie bei jedem Schlag auf und flehte die Polizisten an, damit aufzuhören.

»Mutter?«

Louisa Kellergan lächelte ihrer Tochter liebevoll zu. »Was machst du hier, mein Schatz?«, fragte sie.

»Ich bin weggelaufen.«

»Warum?«

»Weil ich zu Harry will. Ich liebe ihn so sehr.«

»Du darfst deinen Vater nicht allein lassen. Er wäre ohne dich so unglücklich. Du kannst nicht einfach davonlaufen …«

»Mutter … Mutter, es tut mir leid, was ich dir angetan habe.«

»Ich verzeihe dir, mein Schatz. Aber du musst endlich aufhören, dir selbst wehzutun.«

»Ist gut.«

»Versprichst du es mir?«

»Ich verspreche es dir, Mutter. Was soll ich jetzt machen?«

»Geh nach Hause zu deinem Vater. Er braucht dich.«

»Und was wird aus Harry? Ich will ihn nicht verlieren.«

»Du wirst ihn nicht verlieren. Er wird auf dich warten.«

»Wirklich?«

»Ja. Er wird bis ans Lebensende auf dich warten.«

Wieder hörte Nola Schreie. Luther! So schnell sie konnte, rannte sie zum Baumstumpf zurück, und dabei schrie sie. Sie schrie aus Leibeskräften, damit die Schläge aufhörten. Aber als sie aus dem Dickicht kam, lag Luther tot auf dem Boden. Chief Pratt und Officer Travis standen vor der Leiche und starrten sie entgeistert an. Alles war voller Blut.

»Was haben Sie getan?«, keuchte Nola.

»Nola?«, entfuhr es Pratt. »Was …«

»Sie haben Luther umgebracht!« Nola stürzte sich auf Chief Pratt, aber er stieß sie von sich und schlug ihr ins Gesicht. Sofort trat Blut aus ihrer Nase. Sie zitterte vor Angst.

»Verzeih mir, Nola, ich wollte dir nicht weh tun«, sagte Pratt stockend.

Sie wich zurück. »Sie … Sie haben Luther umgebracht!«

»Bleib stehen, Nola!«

Sie rannte Hals über Kopf davon. Travis griff nach ihren Haaren, um sie festzuhalten, und riss ihr ein Büschel blonder Strähnen aus.

»Schnapp sie dir, gottverdammt!«, schrie Pratt Travis an. »Schnapp sie!«

Nola brach durchs Unterholz und schürfte sich die Wangen auf. Hinter der letzten Baumreihe erblickte sie ein Haus. Ein Haus! Sie stürzte zur Küchentür. Ihre Nase blutete noch immer, ihr Gesicht war blutverschmiert. Erschrocken öffnete Deborah Cooper ihr und ließ sie herein. »Hilfe!«, stöhnte Nola. »Rufen Sie Hilfe!«

Abermals eilte Deborah Cooper zum Telefon, um die Polizei zu verständigen.

Nola spürte, wie ihr eine Hand den Mund zuhielt. Mit einer kraftvollen Bewegung hob Travis sie hoch. Sie schlug um sich, aber er hatte sie fest im Griff. Ihm blieb jedoch nicht die Zeit, sie aus dem Haus zu zerren, denn in diesem Augenblick kam Deborah Cooper aus dem Wohnzimmer zurück. Vor Entsetzen stieß sie einen Schrei aus.

»Keine Sorge«, stammelte Travis. »Ich bin von der Polizei. Es ist alles in Ordnung.«

»Hilfe!«, rief Nola und versuchte sich zu befreien. »Diese Polizisten haben einen Mann getötet! Sie haben einen Mann umgebracht! Im Wald liegt ein toter Mann!«

Es verging ein Augenblick von unbestimmter Dauer. Deborah Cooper und Travis starrten sich schweigend an: Sie wagte nicht, ans Telefon zu stürzen, er wagte nicht zu fliehen. Da knallte ein Schuss, und Deborah Cooper sank zu Boden. Chief Pratt stand in der Tür. Er hatte sie mit seiner Dienstwaffe erschossen.

»Sie sind ja verrückt!«, schrie Travis. »Vollkommen verrückt! Warum haben Sie das getan?«

»Ich hatte keine Wahl, Travis. Du weißt, was mit uns passiert wäre, wenn die Alte gequatscht hätte …«

Travis zitterte. »Was machen wir jetzt?«, fragte der junge Officer.

»Keine Ahnung.«

Voller Todesangst und mit der Kraft der Verzweiflung nutzte Nola den Moment der Unentschlossenheit, um sich aus Travis’ Gewalt zu befreien. Bevor Chief Pratt reagieren konnte, stürzte sie durch die Küchentür ins Freie. Doch auf den Stufen verlor sie das Gleichgewicht und fiel hin. Sie rappelte sich sofort wieder auf, aber der Chief hatte sie an den Haaren zu fassen bekommen. Sie heulte laut auf und biss ihm in den Arm, der sich direkt vor ihrem Gesicht befand. Der Chief ließ sie los, doch ihr blieb keine Zeit zur Flucht: Travis verpasste ihr mit dem Gummiknüppel einen Schlag auf den Hinterkopf. Nola brach zusammen. Entsetzt wich Travis zurück. Überall war Blut. Sie war tot.

Travis beugte sich über die Leiche. Fast hätte er sich übergeben. Pratt zitterte. Im Wald zwitscherten die Vögel. »Was sollen wir bloß tun?«, murmelte Travis verstört.

»Immer mit der Ruhe! Jetzt bloß keine Panik.«

»Jawohl, Chief.«

»Wir müssen Caleb und Nola verschwinden lassen. Auf so was steht der elektrische Stuhl, kapierst du?«

»Ja, Chief. Und was ist mit der alten Cooper?«

»Wir lassen es wie einen Mord aussehen. Ein Raubüberfall, der böse geendet ist. Du tust genau, was ich dir sage.«

Travis weinte. »Jawohl, Chief. Ich tue alles, was nötig ist.«

»Du hast gesagt, du hast Calebs Wagen an der Route 1 gesehen?«

»Ja. Die Schlüssel stecken.«

»Sehr gut. Wir schaffen die Leichen ins Auto. Und du beseitigst sie, in Ordnung?«

»Ja.«

»Sobald du weg bist, fordere ich Verstärkung an, damit auf uns kein Verdacht fällt. Wir müssen uns beeilen, hörst du? Wenn die Kavallerie anrückt, bist du schon weit weg. In dem Durcheinander wird niemandem auffallen, dass du nicht hier bist.«

»Ja. Chief … Aber ich glaube, die alte Cooper hat noch mal die Notrufzentrale angerufen.«

»Scheiße! Dann müssen wir uns ranhalten!«

Sie schleppten Luthers und Nolas Leichen zum Chevrolet. Danach ging Chief Pratt sofort durch den Wald zurück zu Deborah Coopers Haus und den beiden Polizeiautos. Er griff nach dem Mikro seines Bordfunkgeräts, um die Zentrale zu informieren, dass er Deborah Cooper erschossen aufgefunden hatte.

Travis setzte sich hinters Steuer des Chevrolets und ließ den Motor an. Als er aus dem Unterholz rollte, begegnete er einem Streifenwagen des Sheriffs, den die Zentrale nach Deborah Coopers zweitem Anruf als Verstärkung losgeschickt hatte.

Gerade wollte Pratt Kontakt mit der Zentrale aufnehmen, als er in der Nähe eine Polizeisirene aufheulen hörte. Über Funk wurde eine Verfolgungsjagd auf der Route 1 zwischen einem Einsatzfahrzeug des Sheriffs und einem schwarzen Chevrolet Monte Carlo gemeldet, der unweit der Side Creek Lane gesichtet worden war. Chief Pratt gab durch, dass er sofort zur Verstärkung eilen würde. Er schaltete die Sirene an und nahm den parallel zur Route 1 verlaufenden Waldweg. An der Einmündung zur Route 1 wäre er um ein Haar mit Travis zusammengestoßen. Voller Entsetzen starrten sich die beiden kurz an.

Im Verlauf der Verfolgungsjagd gelang es Travis, den Wagen des Hilfssheriffs abzuschütteln. Anschließend folgte er der Route 1 Richtung Süden und nahm die Abzweigung nach Goose Cove. Pratt hielt sich dicht hinter ihm, als würde er ihn verfolgen. Über Funk gab er eine falsche Position durch und behauptete, er befände sich auf der Straße nach Montburry. Dann schaltete er die Sirene aus, bog nach Goose Cove ab und traf dort vor dem Haus auf Travis. Die beiden Männer stiegen aus. Sie waren geradezu hysterisch vor Angst, sie standen mit dem Rücken zur Wand.

»Ist es nicht Wahnsinn, hier anzuhalten?«, fragte Pratt.

»Quebert ist nicht zu Hause«, erwiderte Travis. »Ich weiß, dass er ein paar Tage nicht in der Stadt ist. Er hat es Jenny erzählt, und sie hat es mir erzählt.«

»Ich habe angeordnet, sämtliche Straßen sperren zu lassen. Ich musste es tun.«

»Scheiße! Scheiße!«, stöhnte Travis. »Ich sitze in der Falle! Was machen wir jetzt?«

Pratt sah sich um. Sein Blick fiel auf die leere Garage.

»Stell den Wagen da rein, verriegle die Tür, und sieh zu, dass du über den Strand zurück zur Side Creek Lane kommst. Dort tust du so, als würdest du Coopers Haus durchsuchen. Ich nehme die Verfolgung wieder auf. Die Leichen beseitigen wir heute Nacht. Hast du in deinem Wagen eine Jacke?«

»Ja.«

»Dann hol sie dir und zieh sie über. Du bist voller Blut.«

Als Pratt eine Viertelstunde später kurz vor Montburry den zur Verstärkung gerufenen Streifenwagen begegnete, riegelte Travis schon in seiner Jacke und mit Unterstützung der aus ganz New Hampshire herbeigeeilten Kollegen die unmittelbare Umgebung des Hauses in der Side Creek Lane ab, wo man Deborah Coopers Leiche gefunden hatte.

Mitten in der Nacht kehrten Travis und Pratt nach Goose Cove zurück. Sie vergruben Nola zwanzig Meter vom Haus entfernt. Pratt hatte zuvor mit Captain Rodik von der State Police das zu durchsuchende Terrain abgesteckt und wusste daher, dass Goose Cove nicht dazugehörte und dorthin niemand kommen würde. Um Nolas Hals hing immer noch die Schultertasche, und sie begruben sie mit ihr, ohne einen Blick hineinzuwerfen.

Als das Loch wieder geschlossen war, stieg Travis in den schwarzen Chevrolet und schlug sich auf der Route 1 mit Luthers Leiche im Kofferraum bis nach Massachusetts durch. Unterwegs musste er zwei Straßensperren passieren.

»Die Papiere, bitte!«, verlangten die Polizisten beide Male nervös, als sie den Wagen sahen.

Und beide Male wedelte Travis mit seiner Dienstmarke. »Polizei Aurora, Jungs. Ich bin hinter dem Verdächtigen her.«

Die Polizisten grüßten ihren Kollegen respektvoll und wünschten ihm viel Erfolg.

Travis fuhr zu einem kleinen Küstenort, den er gut kannte: Sagamore. Dort bog er in die Straße ein, die an den Klippen von Sunset Cove entlangführte. Der Parkplatz lag verlassen da. Tagsüber genoß man von hier oben einen traumhaften Blick. Er hatte schon oft davon geträumt mit Jenny eine Spritztour hierher zu machen. Travis stellte den Wagen ab, hievte Luther auf den Fahrersitz und schüttete ihm billigen Fusel in den Rachen. Dann legte er den Leerlauf ein und schob den Wagen an. Langsam rollte der Chevrolet das leichte, grasbewachsene Gefälle hinab, kippte über die Felskante und verschwand mit metallischem Krachen in der Tiefe. Travis ging die Straße ein paar Hundert Meter zurück. Dort wartete am Rand ein Auto auf ihn. Schweißgebadet und blutverschmiert, ließ er sich auf den Beifahrersitz fallen.

»Das wäre erledigt!«, sagte er zu Pratt, der am Steuer saß.

Der Chief fuhr los. »Wir dürfen über das, was passiert ist, nie wieder reden, Travis. Wenn der Wagen gefunden wird, müssen wir die Sache vertuschen. Nur wenn es keinen Verdächtigen gibt, können wir sicher sein, dass wir nie behelligt werden, kapiert?«

Travis nickte. Er schob eine Hand in die Tasche und umschloss die Kette, die er Nola beim Verscharren heimlich abgerissen hatte: eine hübsche Goldkette mit dem eingravierten Namen NOLA.

Harry hatte sich wieder auf die Couch gesetzt. »Also haben die beiden Nola, Luther und Deborah Cooper getötet.«

»Ja. Und sie haben dafür gesorgt, dass die Ermittlungen nie zu einem Ergebnis kommen. Harry, Sie wussten, dass Nola psychotische Phasen hatte, stimmt’s? Sie haben damals mit Reverend Kellergan darüber gesprochen …«

»Die Sache mit dem Brand wusste ich nicht. Aber schon als ich zu den Kellergans gegangen bin, um ihnen wegen der Misshandlung ihrer Tochter die Meinung zu sagen, hatte ich begriffen, dass Nola labil war. Ich hatte ihr zwar versprochen, nicht zu ihren Eltern zu gehen, aber ich konnte doch nicht einfach tatenlos zusehen, verstehen Sie? Bei diesem Besuch ist mir dann klargeworden, dass ihre ›Eltern‹ nur aus Reverend Kellergan bestanden, der seit sechs Jahren Witwer und mit der Situation vollkommen überfordert war. Er … Er weigerte sich, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Ich musste Nola aus Aurora wegbringen, um sie behandeln zu lassen.«

»Sie wollten fliehen, um sie behandeln zu lassen?«

»Für mich war das immer mehr zum Hauptgrund geworden. Wir hätten gute Ärzte gefunden, und sie wäre geheilt worden! Sie war ein außergewöhnliches Mädchen, Marcus! Sie hätte einen großen Autor aus mir gemacht, und ich hätte ihre schlimmen Gedanken vertrieben! Sie hat mich inspiriert und geführt! Sie hat mich mein ganzes Leben geführt! Sie wissen das, nicht wahr? Sie wissen es besser als jeder andere!«

»Ja, Harry. Aber warum haben Sie mir das nicht erzählt?«

»Ich wollte es! Ich hätte es getan, wenn Ihr Manuskript nicht an die Öffentlichkeit gelangt wäre. Damals dachte ich, Sie hätten mein Vertrauen missbraucht. Ich war wütend auf Sie. Ich wollte wohl sogar, dass Ihr Buch ein Misserfolg wurde. Nach der Sache mit Nolas Mutter würde niemand Sie mehr ernst nehmen. Ja, genau – ich wollte, dass Ihr zweites Buch ein Flop wurde – so wie meines, im Grunde.«

Wir schwiegen eine Weile.

»Das bedaure ich jetzt, Marcus. Ich bedaure alles. Sie müssen unendlich enttäuscht von mir sein …«

»Nein.«

»Ich weiß, dass Sie es sind. Sie haben mir so sehr vertraut. Aber ich hatte mein Leben auf einer Lüge aufgebaut!«

»Ich habe Sie immer für das bewundert, was Sie sind, Harry. Und mir ist es herzlich egal, ob Sie dieses Buch geschrieben haben oder nicht. Sie haben mir so viel über das Leben beigebracht. Das gilt auch weiterhin.«

»Nein, Marcus. Sie werden mich nie wieder so sehen wie früher, und das wissen Sie! Mein Leben ist ein einziger Schwindel! Ich bin ein Hochstapler! Deshalb habe ich zu Ihnen gesagt, dass wir keine Freunde mehr sein können. Es ist vorbei, Marcus. Sie sind im Begriff, ein fabelhafter Schriftsteller zu werden, aber ich bin nichts mehr. Sie sind ein wahrhaftiger Schriftsteller, ich bin es nie gewesen. Sie haben für Ihr Buch gekämpft, Sie haben darum gekämpft, Ihre Inspiration wiederzufinden, und Sie haben die Schwierigkeiten gemeistert! Als ich dagegen in derselben Lage wie Sie war, habe ich Verrat begangen.«

»Harry, ich …«

»So ist das Leben, Marcus, und Sie wissen, dass ich recht habe. Sie werden mir von jetzt an nicht mehr in die Augen blicken können. Und ich werde Sie nicht mehr ansehen können, ohne eine überwältigende, zerstörerische Eifersucht zu verspüren, weil Sie dort, wo ich versagt habe, erfolgreich waren.« Er drückte mich an sich.

»Harry«, murmelte ich. »Ich will Sie nicht verlieren.«

»Sie werden sehr gut allein zurechtkommen, Marcus. Sie sind ein verdammt anständiger Kerl und ein verdammt guter Autor geworden. Sie werden bestens klarkommen, das weiß ich! Jetzt trennen sich unsere Wege für immer. Das nennt man Schicksal. Mein Schicksal war es nie, ein großer Schriftsteller zu werden, aber ich habe versucht, das zu ändern: Ich habe ein Buch gestohlen und dreißig Jahre lang gelogen. Aber das Schicksal lässt sich nicht überlisten: Am Ende setzt es sich immer durch.«

»Harry …«

»Ihr Schicksal, Marcus, war es schon immer, Schriftsteller zu werden. Das habe ich von Anfang an gewusst. Und ich habe gewusst, dass der Augenblick, den wir jetzt erleben, eines Tages kommen würde.«

»Sie werden immer mein Freund bleiben, Harry.«

»Marcus, schreiben Sie Ihr Buch zu Ende. Schreiben Sie dieses Buch über mich zu Ende! Jetzt, wo Sie alles wissen, müssen Sie der ganzen Welt die Wahrheit erzählen. Die Wahrheit wird uns alle erlösen. Schreiben Sie die Wahrheit über den Fall Harry Quebert. Erlösen Sie mich von dem Übel, das mich seit dreißig Jahren quält. Das ist das Letzte, worum ich Sie bitte.«

»Aber wie? Ich kann die Vergangenheit nicht ungeschehen machen.«

»Nein, aber Sie können die Gegenwart verändern. Darin liegt die Macht der Schriftsteller. Das Paradies der Schriftsteller – erinnern Sie sich? Ich weiß, dass Sie wissen, wie es geht.«

»Harry, mit Ihrer Hilfe bin ich erwachsen geworden! Sie haben aus mir den gemacht, der ich heute bin!«

»Das bilden Sie sich nur ein, Marcus. Ich habe gar nichts gemacht. Sie sind von ganz allein erwachsen geworden.«

»Nein! Das stimmt nicht! Ich habe Ihre Ratschläge befolgt! Ich habe Ihre einunddreißig Ratschläge befolgt! So habe ich mein erstes Buch geschrieben! Und auch das nächste! Und alle anderen! Ihre einunddreißig Ratschläge, Harry, wissen Sie noch?«

Er lächelte traurig. »Natürlich weiß ich noch, Marcus.«

Burrows, Weihnachten 1999

»Frohe Weihnachten, Marcus!«

»Ein Geschenk? Danke, Harry. Was ist das?«

»Machen Sie es auf. Es ist ein Minidisc-Player, offenbar der neueste Stand der Technik. Sie machen sich andauernd Notizen zu allem, was ich Ihnen erzähle, aber wenn Sie sie verlieren, muss ich alles wiederholen. Damit können Sie alles aufnehmen, habe ich mir gedacht.«

»Sehr gut. Los geht’s!«

»Was?«

»Geben Sie mir den ersten Rat. Ich werde alle Ihre Ratschläge gewissenhaft aufnehmen.«

»In Ordnung. Was für Ratschläge?«

»Was weiß ich …? Für Schriftsteller, Boxer und Menschen.«

»Für alle drei? Von mir aus. Wie viele wollen Sie?«

»Mindestens hundert!«

»Hundert? Ein paar sollte ich mir schon aufheben, damit ich Ihnen später noch etwas beibringen kann.«

»Sie werden mir immer etwas beibringen können. Sie sind der große Harry Quebert.«

»Ich werde Ihnen einunddreißig Ratschläge geben, und zwar im Lauf der nächsten Jahre. Nicht alle auf einmal.«

»Warum gerade einunddreißig?«

»Weil einunddreißig ein wichtiges Alter ist. Das erste Jahrzehnt formt Sie als Kind. Das zweite als Erwachsener. Und das dritte macht Sie zum Mann oder auch nicht. Mit einunddreißig sind Sie aus dem Gröbsten raus. Wie sehen Sie sich mit einunddreißig?«

»So wie Sie.«

»Na, na, reden Sie keinen Unsinn, nehmen Sie lieber auf. Ich werde in absteigender Reihenfolge vorgehen. Ratschlag Nummer 31 betrifft die Bücher. Hier kommt also die 31: Das erste Kapitel, Marcus, ist entscheidend. Gefällt es den Lesern nicht, werden sie Ihr Buch nicht weiterlesen. Was für ein Einstieg schwebt Ihnen vor?«

»Keine Ahnung, Harry. Glauben Sie, ich schaffe es irgendwann?«

»Was?«

»Ein Buch zu schreiben.«

»Da bin ich mir sicher.«

Er sah mich eindringlich an und lächelte. »Demnächst werden Sie einunddreißig, Marcus. Sie haben es geschafft: Sie sind ein fabelhafter Mensch geworden. Der Fabelhafte zu werden war nichts dagegen, aber ein fabelhafter Mensch zu werden ist die Krönung eines langen, großartigen Kampfes gegen sich selbst. Ich bin sehr stolz auf Sie.« Er zog seine Jacke an und band sich den Schal um.

»Wohin wollen Sie, Harry?«

»Ich muss jetzt gehen.«

»Gehen Sie nicht! Bleiben Sie!«

»Ich kann nicht …«

»Bleiben Sie, Harry! Nur noch ein bisschen!«

»Ich kann nicht.«

»Ich will Sie nicht verlieren!«

»Auf Wiedersehen, Marcus. Sie sind das Beste, was mir im Leben passiert ist.«

»Wohin gehen Sie?«

»Ich muss irgendwo auf Nola warten.« Er drückte mich noch einmal. »Finden Sie die Liebe, Marcus! Die Liebe gibt dem Leben einen Sinn. Wenn man liebt, ist man stärker, größer und bringt es weiter!«

»Harry! Verlassen Sie mich nicht!«

»Auf Wiedersehen, Marcus.«

Er ging und ließ die Tür hinter sich offen. Ich machte sie lange nicht zu, denn dies war das letzte Mal, dass ich meinen Lehrmeister und Freund Harry Quebert sah.

Mai 2002, Finale der Hochschulmeisterschaften im Boxen

»Sind Sie bereit, Marcus? In drei Minuten steigen Sie in den Ring.«

»Ich habe Schiss, Harry.«

»Das kann ich mir denken. Umso besser: Ohne Angst kann man nicht gewinnen. Und vergessen Sie nicht: Boxen Sie so, wie man ein Buch aufbaut … Erinnern Sie sich? Kapitel 1, Kapitel 2 und so weiter …«

»Ja. Eins: zuschlagen. Zwei: fertigmachen …«

»So ist es gut, Sie Champion. Bereit? Ha, wir sind im Finale, Marcus! Im Finale! Vor Kurzem haben Sie noch auf Säcke eingedroschen, und jetzt stehen Sie bei den Meisterschaften im Finale! Hören Sie die Ansage? ›Marcus Goldman und sein Coach Harry Quebert vom Burrows College.‹ Das sind wir! Auf geht’s!«

»Warten Sie, Harry!«

»Was ist?«

»Ich habe ein Geschenk für Sie.«

»Ein Geschenk? Sind Sie sich sicher, dass das der richtige Moment ist?«

»Absolut. Ich möchte, dass Sie es vor dem Kampf bekommen. Es ist in meiner Tasche, holen Sie es heraus. Es ist zu klein, ich komm mit den Handschuhen nicht dran.«

»Ist es eine Disc?«

»Ja, eine Zusammenstellung! Ihre einunddreißig wichtigsten Sätze. Über das Boxen, das Leben und die Bücher.«

»Danke, Marcus. Ich bin tief gerührt. Bereit für den Kampf?«

»Mehr denn je …«

»Na, dann los.«

»Halt, eine Frage habe ich noch …«

»Marcus! Es wird Zeit!«

»Aber es ist wichtig! Ich habe mir alle Aufnahmen noch einmal angehört, aber diese Frage haben Sie mir nie beantwortet.«

»Also gut, schießen Sie los. Ich höre.«

»Harry, wie weiß man, dass ein Buch fertig ist?«

»Bücher sind wie das Leben, Marcus. Sie sind nie wirklich zu Ende.«