Montag, 7. Juli 2008, Boston, Massachusetts
Vier Tage nach Chief Pratts Festnahme traf ich mich mit Roy Barnaski in einem Nebenzimmer des Bostoner Park-Plaza-Hotels, um für mein Buch über den Fall Harry Quebert einen Vertrag über eine Million Dollar zu unterzeichnen. Douglas war ebenfalls anwesend. Er schien über den glücklichen Ausgang der ganzen Angelegenheit sehr erleichtert.
»Das Blatt hat sich gewendet«, sagte Barnaski zu mir. »Der große Goldman hat sich endlich wieder an die Arbeit gemacht. Applaus, bitte!«
Ich erwiderte nichts darauf, sondern zog lediglich einen Papierstoß aus meiner Aktenmappe und überreichte ihn. Er setzte ein breites Lächeln auf. »Das sind also Ihre berühmten ersten fünfzig Seiten …«
»Ja.«
»Sie gestatten, dass ich mir die Zeit nehme, einen Blick darauf zu werfen?«
»Aber gern.«
Douglas und ich verließen den Raum, damit Barnaski in Ruhe lesen konnte, und gingen hinunter an die Hotelbar, wo wir dunkles Bier vom Fass bestellten.
»Wie geht’s dir, Marc?«, fragte mich Douglas.
»Geht so. Die letzten vier Tage waren verrückt …«
Er nickte und legte noch eins drauf: »Die ganze Geschichte ist total verrückt! Du hast keine Ahnung, was dein Buch für einen Erfolg haben wird! Barnaski weiß das, darum bietet er dir so viel Kohle. Eine Million Dollar ist nichts im Vergleich zu dem, was er dabei rausholen kann. Wenn du wüsstest, was in New York los ist: Alle reden nur über diesen Fall. Die Filmstudios planen bereits einen Film, alle Verlage wollen ein Buch über Quebert bringen. Aber jeder weiß auch, dass eigentlich nur du dieses Buch schreiben kannst. Du bist der Einzige, der Harry kennt, und auch der Einzige, der Aurora von innen heraus kennt. Barnaski will sich diese Geschichte unbedingt sichern. Er sagt, wenn er der Erste ist, der ein Buch darüber bringt, könnte Nola Kellergan zur Galionsfigur von Schmid & Hanson werden.«
»Was hälst du davon?«, fragte ich Douglas.
»Dass es für einen Schriftsteller eine aufregende Sache ist. Und eine schöne Gelegenheit, den Ungeheuerlichkeiten, die über Quebert verbreitet wurden, etwas entgegenzusetzen. Das war doch ursprünglich dein Wunsch: ihn zu verteidigen, oder?«
Ich nickte und warf einen Blick über unsere Köpfe in Richtung der höheren Etagen, in denen Barnaski gerade dabei war, einen Teil meines Berichts kennenzulernen, für den die Ereignisse der letzten Tage noch einmal richtig Stoff geliefert hatten.
3. Juli 2008, vier Tage vor Unterzeichnung des Vertrags
Seit Chief Pratts Festnahme waren ein paar Stunden vergangen. Ich befand mich auf der Rückfahrt vom Staatsgefängnis, wo Harry kurz zuvor aus der Haut gefahren war und mir beinahe seinen Stuhl ins Gesicht geschleudert hätte, nachdem ich ihn von der Existenz eines Aktgemäldes von Nola im Haus von Elijah Stern in Kenntnis gesetzt hatte. Ich parkte vor dem Haus in Goose Cove, und als ich aus dem Wagen stieg, fiel mir sofort der Zettel im Türrahmen auf: wieder einer dieser Briefe. Doch diesmal war der Ton ein anderer:
Letzte Warnung, Goldman
Ich gab nichts darauf: erste oder letzte Warnung, was machte das schon für einen Unterschied? Ich warf den Zettel in der Küche in den Mülleimer und schaltete den Fernseher ein: Überall wurde über die Festnahme von Chief Pratt berichtet. Es wurden Zweifel an den Ermittlungen geäußert, die er seinerzeit geleitet hatte, und die Frage gestellt, ob der ehemalige Polizeichef die Recherchen womöglich bewusst vernachlässigt hatte.
Es dämmerte bereits, und ein schöner, lauer Abend kündigte sich an, einer von diesen Abenden, an denen man eigentlich mit Freunden feiern und riesige Steaks auf den Grill werfen und Bier trinken sollte. Freunde hatte ich keine, aber ich bildete mir ein, zumindest ein Steak und Bier im Haus zu haben. Ich machte den Kühlschrank auf, aber der war leer. Ich hatte vergessen, einkaufen zu gehen. Ich hatte mich selbst vergessen. Da wurde mir klar, dass mein Kühlschrank so wie damals der von Harry war: der Kühlschrank eines Junggesellen. Ich bestellte eine Pizza und aß sie auf der Terrasse. Immerhin hatte ich bereits die Terrasse und das Meer, fehlten also nur noch der Grill, ein paar Kumpels und eine Freundin, um den Abend perfekt zu machen. Da bekam ich einen Anruf von einem meiner wenigen Freunde, von dem ich allerdings seit einiger Zeit nichts mehr gehört hatte: Douglas.
»Was gibt’s Neues, Marc?«
»Was es Neues gibt? Zwei Wochen lang hast du dich nicht gerührt! Wo hast du gesteckt? Scheiße, bist du mein Agent, oder nicht?«
»Ich weiß, Marc. Tut mir leid. Das war eine schwierige Zeit, ich meine, für dich und mich. Aber wenn du mich immer noch als Agent haben willst, wäre es mir eine Ehre, unsere Zusammenarbeit fortzuführen.«
»Klar. Ich habe nur eine Bedingung: dass du weiterhin mit mir zu Hause die Baseballmeisterschaften anschaust.«
Er lachte. »Geht klar. Du kümmerst dich ums Bier und ich mich um die Käsenachos.«
»Barnaski hat mir einen fetten Vertrag angeboten«, sagte ich.
»Ich weiß, er hat es mir erzählt. Wirst du ihn annehmen?«
»Ich denke, schon.«
»Barnaski ist sehr aufgeregt. Er will dich so schnell wie möglich sehen.«
»Mich sehen? Warum?«
»Um den Vertrag zu unterschreiben.«
»Jetzt schon?«
»Ja. Ich glaube, er will sichergehen, dass du schon angefangen hast. Die Frist wird diesmal kurz sein, du wirst beim Schreiben also Gas geben müssen. Barnaski sitzt der Präsidentenwahlkampf im Genick. Fühlst du dich dazu in der Lage?«
»Wird schon gehen. Ich habe wieder mit dem Schreiben angefangen. Aber ich weiß nicht genau, was ich schreiben soll: Soll ich alles erzählen, was ich weiß? Dass Harry vorhatte, mit dem Mädchen durchzubrennen? Diese Geschichte ist der totale Wahnsinn, Doug. Du hast ja keine Ahnung!«
»Die Wahrheit, Marc. Erzähl einfach die Wahrheit über Nola Kellergan.«
»Und wenn diese Wahrheit Harry schadet?«
»Als Schriftsteller hast du die Pflicht, die Wahrheit zu schreiben, selbst wenn sie unangenehm ist. Das ist mein Rat als Freund.«
»Und dein Rat als Agent?«
»Riskiere nicht deinen Arsch! Pass auf, dass du am Ende nicht so viele Prozesse am Hals hast, wie es Einwohner in New Hampshire gibt. Du hast mir doch erzählt, dass die Kleine von ihren Eltern geschlagen wurde, oder?«
»Ja, von ihrer Mutter.«
»Dann schreib einfach nur, dass Nola ein unglückliches, misshandeltes kleines Mädchen war. Alle Welt wird kapieren, dass ihre Eltern für diese Misshandlungen verantwortlich waren, aber du hast es nicht ausdrücklich gesagt. Also kann dir auch niemand am Zeug flicken.«
»Aber die Mutter spielt in der Geschichte eine wichtige Rolle.«
»Mein Rat als Agent, Marc: Du brauchst bombensichere Beweise, sonst ziehst du bei einem Prozess den Kürzeren, und ich glaube, du hattest in den letzten Monaten schon genug Scherereien. Finde einen vertrauenswürdigen Zeugen, der dir bestätigt, dass die Mutter das letzte Miststück war und das Mädchen grün und blau geschlagen hat. Andernfalls rede nur vom unglücklichen, misshandelten kleinen Mädchen. Wir wollen doch vermeiden, dass ein Richter zustimmt, den Verkauf des Buchs wegen übler Nachrede auszusetzen. Bei Pratt dagegen, von dem jetzt alle Welt weiß, was er getan hat, kannst du bis ins letzte schmutzige Detail gehen. Das fördert den Absatz.«
Barnaski schlug vor, sich am Montag, den 7. Juli, in Boston zu treffen. Die Stadt hatte den Vorteil, dass sie nur eine Flugstunde von New York und zwei Autostunden von Aurora entfernt lag. Ich ging auf seinen Vorschlag ein. Mir blieben also noch vier Tage, um pausenlos zu schreiben, damit ich ihm ein paar Kapitel präsentieren konnte.
»Ruf mich an, wenn du irgendwas brauchst«, sagte Douglas noch, bevor er auflegte.
»Mache ich, danke. Doug, warte …«
»Ja?«
»Du hast früher immer die Mojitos gemixt, weißt du noch?«
Ich hörte ihn schmunzeln. »Und ob!«
»Das war eine schöne Zeit, oder?«
»Es ist immer noch eine schöne Zeit, Marc. Wir haben ein tolles Leben, auch wenn es zwischendurch Phasen gibt, die ein bisschen schwieriger sind.«
1. Dezember 2006, New York City
»Doug, kannst du noch ein paar Mojitos machen?«
Hinter meiner Küchentheke stieß Douglas, der sich eine Schürze mit einer nackten Frau darauf umgebunden hatte, Wolfsgeheul aus, griff nach der Rumflasche und goss den Inhalt in einen mit zerstoßenem Eis gefüllten Shaker.
Das war drei Monate nachdem mein erstes Buch erschienen war. Ich war ganz oben angekommen. Zum fünften Mal in den drei Wochen, seit ich das Apartment im Village bezogen hatte, gab ich zu Hause eine Party. In meinem Wohnzimmer drängten sich Dutzende von Leuten, von denen ich nicht mal ein Viertel kannte. Aber ich liebte das. Douglas übernahm es, die Gäste mit Mojitos abzufüllen, ich kümmerte mich um die White Russians, den einzigen Cocktail, den ich je für trinkbar gehalten hatte.
»Was für ein Abend!«, sagte Douglas zu mir. »Ist das der Doorman, der da in deinem Wohnzimmer tanzt?«
»Ja, ich habe ihn eingeladen.«
»Und Lydia Gloor ist auch hier – wow! Ist dir das eigentlich klar? Lydia Gloor ist in deinem Apartment!«
»Wer ist Lydia Gloor?«
»Großer Gott, Marc, das musst du doch wissen! Sie ist die zurzeit angesagteste Schauspielerin, sie spielt in dieser Fernsehserie mit, die alle Welt sieht … Na gut, anscheinend alle Welt außer dir. Wie hast du es geschafft, sie herzukriegen?«
»Keine Ahnung. Die Leute klingeln, und ich mache ihnen die Tür auf. Mi casa es tu casa!«
Mit Petits Fours und Drinks bewaffnet, ging ich zurück ins Wohnzimmer. Durch die Fenster sah ich es schneien und bekam plötzlich Lust, an die frische Luft zu gehen. Nur im Hemd trat ich auf den Balkon. Es war eiskalt. Ich nahm die Unermesslichkeit New Yorks und die Abermillionen von Lichtpunkten in mich auf und schrie aus Leibeskräften: »Ich bin Marcus Goldman!«
Da hörte ich hinter mir eine Stimme: Sie gehörte einer hübschen Blondine meines Alters, die ich noch nie gesehen hatte. »Marcus Goldman, dein Telefon klingelt«, sagte sie zu mir.
Ihr Gesicht kam mir bekannt vor. »Ich habe dich schon mal irgendwo gesehen, stimmt’s?«, fragte ich sie.
»Wahrscheinlich im Fernsehen.«
»Bist du Lydia Gloor …?«
»Ja.«
»Oh, Mann …!«
Ich bat sie, brav auf dem Balkon zu warten, und eilte ans Telefon. »Hallo?«
»Marcus? Hier ist Harry.«
»Harry! Wie schön, Sie zu hören! Wie geht es Ihnen?«
»Nicht übel. Ich hatte einfach Lust, Ihnen Hallo zu sagen. Was für ein Lärm im Hintergrund … Haben Sie Gäste? Vielleicht kommt mein Anruf ungelegen …«
»Ich schmeiße eine kleine Party in meinem neuen Apartment.«
»Sie haben Montclair den Rücken gekehrt?«
»Ja, ich habe mir ein Apartment im Village gekauft. Sie müssen es sich unbedingt ansehen kommen, der Blick ist atemberaubend.«
»Das glaube ich gern. Jedenfalls hört es sich so an, als hätten Sie Spaß. Das freut mich für Sie. Sie haben bestimmt viele Freunde.«
»Haufenweise! Und das ist noch nicht alles. Stellen Sie sich vor: Auf meinem Balkon wartet eine unglaublich gut aussehende Schauspielerin auf mich. Ha, ha, ich kann es kaum glauben! Das Leben ist zu schön, Harry, viel zu schön. Und Sie? Was machen Sie heute Abend?«
»Ich … Ich geb ein kleines Fest für ein paar Freunde. Es gibt Steaks und Bier. Was will man mehr? Wir amüsieren uns gut, nur Sie fehlen. Aber jetzt klingelt es an der Tür, Marcus. Die nächsten Gäste sind da. Ich muss auflegen und aufmachen gehen. Ich weiß gar nicht, ob alle ins Haus passen, dabei ist es alles andere als klein!«
»Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Harry. Ich rufe Sie an, versprochen!«
Ich ging zurück auf den Balkon. An diesem Abend begann ich, Lydia Gloor, die meine Mutter später nur noch »die Fernsehschauspielerin« nennen sollte, zu »daten«. In Goose Cove ging Harry die Tür öffnen. Es war der Pizzabote. Harry nahm seine Bestellung entgegen und setzte sich zum Essen vor den Fernseher.
Wie versprochen, rief ich ihn nach diesem Abend zurück, doch zwischen den beiden Telefonaten lag etwa mehr als ein Jahr. Es war jetzt Februar 2008.
»Hallo?«
»Harry, ich bin es, Marcus.«
»Ah, Marcus! Sind Sie es wirklich? Kaum zu glauben! Seit Sie ein Star sind, lassen Sie nichts mehr von sich hören. Vor einem Monat habe ich versucht, Sie zu erreichen, aber Ihre Sekretärin hat mich wissen lassen, dass Sie für niemanden zu sprechen sind.«
Ich erwiderte unumwunden: »Mir geht’s schlecht, Harry. Ich glaube, ich kann nicht mehr schreiben.« Er wurde schlagartig ernst.
»Was reden Sie da, Marcus?«
»Ich weiß nicht mehr, was ich schreiben soll. Ich bin erledigt. Schreibhemmung … seit Monaten … vielleicht einem Jahr.«
Er stimmte ein warmes, beruhigendes Lachen an. »Eine geistige Blockade, Marcus, das meinen Sie! Schreibhemmung klingt genauso albern wie Ladehemmung beim Sex: Das Genie kriegt die Panik, genau wie Ihr Schwanz schlapp macht, wenn Sie gerade mit einer Ihrer Verehrerinnen Schubkarre spielen wollen und zu sehr daran denken wie Sie ihr einen Orgasmus verschaffen, den man auf der Richterskala messen kann. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über die Genialität, reihen Sie einfach nur ein Wort ans andere. Die Genialität kommt dann von ganz allein.«
»Meinen Sie?«
»Da bin ich mir sicher. Aber Sie sollten Ihr mondänes Leben mit den Cocktailpartys ein wenig zurückfahren. Schreiben ist eine ernste Angelegenheit. Ich dachte, das hätte ich Ihnen eingebläut.«
»Aber ich arbeite hart! Ich tue nichts anderes mehr! Und trotzdem kommt nichts dabei heraus.«
»Tja, das liegt daran, dass Ihnen die richtige Umgebung fehlt. New York ist schön und gut, aber die Stadt ist viel zu laut. Warum kommen Sie nicht hierher, so wie damals, als Sie noch bei mir studiert haben?«
4.–6. Juli 2008
In den Tagen vor meinem Treffen mit Barnaski in Boston hatten die Ermittlungen spektakuläre Fortschritte gemacht.
Zuerst wurde Chief Pratt beschuldigt, sexuelle Handlungen mit einer Jugendlichen unter sechzehn vorgenommen zu haben, und am Tag nach seiner Verhaftung gegen Kaution freigelassen. Er quartierte sich vorübergehend in einem Motel in Montburry ein, denn Amy hatte die Stadt verlassen und war zu ihrer Schwester in einen anderen Bundesstaat gezogen. Pratts weitere Vernehmung bestätigte, dass ihm nicht nur Tamara Quinn den bei Harry gefundenen Text über Nola gezeigt hatte, sondern dass Nancy Hattaway ihm überdies mitgeteilt hatte, was sie über Elijah Stern wusste. Pratt hatte beide Spuren absichtlich vernachlässigt, weil er befürchtete, dass sich Nola einer oder beiden bezüglich der Vorgänge im Polizeiauto anvertraut haben könnte, und er hatte sich nicht womöglich belasten wollen, indem er sie verhörte. Allerdings schwor er, nichts mit den Morden an Nola und Deborah Cooper zu tun und die Nachforschungen ansonsten auf untadelige Weise durchgeführt zu haben.
Anhand dieser Erklärungen gelang es Gahalowood, bei der Staatsanwaltschaft den Befehl für eine Hausdurchsuchung auf dem Anwesen von Elijah Stern zu erwirken, die am Freitagmorgen, den 4. Juli – also dem Nationalfeiertag – erfolgte. Das Gemälde von Nola wurde im Atelier gefunden und sichergestellt. Elijah Stern wurde zwar zur Vernehmung aufs Revier der State Police gebracht, aber nicht angeklagt. Trotzdem stachelte diese Entwicklung die Neugier der Öffentlichkeit noch mehr an, denn nach der Verhaftung des berühmten Schriftstellers Harry Quebert und des ehemaligen Polizeichefs von Aurora, Gareth Pratt, wurde nun auch der reichste Mann New Hampshires mit dem Tod der kleinen Kellergan in Verbindung gebracht.
Gahalowood lieferte mir einen detaillierten Bericht über Sterns Vernehmung: »Ein beeindruckender Mann«, sagte er. »Die Ruhe in Person. Er hatte seiner Armee von Anwälten sogar befohlen, draußen zu warten. Diese Präsenz und dann dieser stahlblaue Blick – ich habe mich fast unwohl gefühlt, dabei gehören solche Übungen für mich weiß Gott zur Routine. Ich habe ihm das Gemälde gezeigt, und er hat mir bestätigt, dass es sich bei der dargestellten Person um Nola handelt.«
»Weshalb befand sich dieses Gemälde bei Ihnen?«, hatte Gahalowood ihn gefragt.
Stern hatte erwidert, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt: »Weil es mir gehört. Gibt es in diesem Staat ein Gesetz, das es einem verbietet, sich Gemälde an die Wand zu hängen?«
»Nein. Aber es ist das Bildnis eines jungen Mädchens, das ermordet wurde.«
»Und wenn ich ein Gemälde von John Lennon besäße, der ebenfalls ermordet wurde – wäre das schlimm?«
»Sie wissen genau, was ich meine, Mr Stern. Woher stammt das Gemälde?«
»Einer meiner früheren Angestellten hat es gemalt: Luther Caleb.«
»Und warum hat er es angefertigt?«
»Weil er gern malte.«
»Wann ist es entstanden?«
»Im Sommer 1975. Im Juli oder August, wenn mich die Erinnerung nicht trügt.«
»Also kurz bevor die Kleine verschwunden ist.«
»Ja.«
»Wie hat er es gemalt?«
»Mit Pinseln, nehme ich an.«
»Hören Sie gefälligst auf, sich dumm zu stellen. Woher kannte er Nola?«
»Jeder in Aurora kannte Nola. Er hat sie als Inspiration genommen, um dieses Bild zu malen.«
»Und es hat Sie nicht gestört, dass bei Ihnen das Gemälde eines verschwundenen Mädchens hing?«
»Nein. Es ist ein gutes Bild. So etwas nennt man Kunst. Und wahre Kunst ist verstörend. Die angepasste Kunst ist das Resultat einer von politischer Korrektheit verseuchten, degenerierten Menschheit.«
»Sie sind sich darüber im Klaren, dass Ihnen der Besitz eines Kunstwerks, das eine Fünfzehnjährige nackt darstellt, Ärger einbringen könnte, Mr Stern?«
»Nackt? Weder ihre Brüste noch ihre Schamgegend sind zu sehen.«
»Aber es ist offensichtlich, dass sie nackt ist.«
»Sind Sie bereit, diesen Standpunkt auch vor Gericht zu vertreten, Sergeant? Sie wissen genauso gut wie ich, dass Sie damit nicht durchkommen.«
»Ich möchte nur herausfinden, warum Luther Caleb Nola Kellergan gemalt hat.«
»Das habe ich Ihnen schon gesagt: Er malte gern.«
»Kannten Sie Nola Kellergan?«
»Ein bisschen, wie jeder in Aurora.«
»Nur ein bisschen?«
»Nur ein bisschen.«
»Sie lügen, Mr Stern. Ich habe Zeugen, die aussagen, dass Sie ein Verhältnis mit ihr hatten und sie zu sich bringen ließen.«
Stern hatte schallend gelacht. »Haben Sie Beweise für das, was Sie da vorbringen? Das bezweifle ich, weil es nämlich nicht stimmt. Ich habe die Kleine nie angerührt. Hören Sie, Sergeant, Sie tun mir leid. Sie treten bei Ihren Ermittlungen offenbar auf der Stelle und müssen sich Ihre Verdächtigungen aus den Fingern saugen, deshalb helfe ich Ihnen auf die Sprünge. Es war Nola Kellergan, die mich angesprochen hat. Sie ist eines Tages zu mir gekommen und hat gesagt, dass sie Geld brauchte. Sie hat eingewilligt, für ein Gemälde zu posieren.«
»Sie haben sie fürs Posieren bezahlt?«
»Ja. Luther war ein begnadeter Maler. Er besaß ungeheueres Talent! Er hatte für mich schon vorher wunderschöne Bilder gemalt, etwa Ansichten von New Hampshire oder Alltagsszenen aus unserem schönen Amerika, und ich war ganz begeistert. Meiner Meinung nach hätte Luther einer der großen Maler dieses Jahrhunderts werden können. Ich habe mir gesagt, er könnte etwas Grandioses schaffen, wenn er dieses wunderschöne Mädchen malt. Der Beweis: Wenn ich das Gemälde jetzt verkaufe, bringt es mir durch den ganzen Wirbel um diesen Fall bestimmt ein bis zwei Millionen Dollar ein. Kennen Sie viele zeitgenössische Künstler, die ihre Werke für zwei Millionen Dollar verkaufen?«
Nach diesen Ausführungen hatte Stern verkündet, er habe nun genug Zeit verplempert und das Verhör sei beendet. Dann war er mit seiner Anwaltsschar im Schlepptau davongerauscht und hatte Gahalowood stumm und um eine ungeklärte Frage in seinen Ermittlungen reicher sitzen lassen.
»Haben Sie dafür eine Erklärung, Schriftsteller?«, fragte mich Gahalowood, nachdem er mir Sterns Vernehmung wortgetreu wiedergegeben hatte. »Die Kleine kreuzt eines Tages bei Stern auf und schlägt vor, sich für Kohle malen zu lassen. Nehmen Sie ihm das ab?«
»Das ist doch absurd. Wofür hätte sie das Geld brauchen sollen? Für die Flucht?«
»Vielleicht … Aber sie hat ja nicht einmal ihre Ersparnisse mitgenommen! In ihrem Zimmer steht eine Keksdose mit hundertzwanzig Dollar darin.«
»Was haben Sie eigentlich mit dem Gemälde gemacht?«, fragte ich.
»Das behalten wir noch eine Weile. Es ist ein Beweisstück.«
»Wozu, wenn Stern nicht angeklagt wird?«
»Als Beweis gegen Caleb.«
»Sie haben ihn also ernsthaft in Verdacht?«
»Keine Ahnung, Schriftsteller. Stern hat Nola malen lassen, Pratt hatte mit ihr Oralsex, aber welches Motiv hätten sie gehabt, Nola zu töten?«
»Die Angst, dass sie reden könnte?«, mutmaßte ich. »Vielleicht hatte sie gedroht, alles zu erzählen, und aus Panik hat einer der beiden sie erschlagen und anschließend im Wald vergraben.«
»Aber warum dann dieser Vermerk auf dem Manuskript? Adieu, allerliebste Nola. Das stammt von jemandem, der die Kleine geliebt hat. Und der Einzige, der sie geliebt hat, war Quebert. Alles führt uns zu Quebert. Was ist, wenn bei Quebert, nachdem er das von Pratt und Stern erfahren hatte, eine Sicherung durchgebrannt ist und er Nola getötet hat? Diese Geschichte riecht nach einem Verbrechen aus Leidenschaft. Das war übrigens ursprünglich Ihre Hypothese.«
»Harry und ein Verbrechen aus Leidenschaft? Nein, das passt nicht zusammen. Wann kommt eigentlich das Ergebnis von dieser verdammten grafologischen Untersuchung?«
»Bald, es kann sich nur noch um ein paar Tage handeln. Marcus, ich muss Ihnen etwas sagen. Die Staatsanwaltschaft wird Quebert einen Deal vorschlagen. Sie lässt den Vorwurf der Entführung fallen, und er bekennt sich des Verbrechens aus Leidenschaft für schuldig. Darauf stehen zwanzig Jahre Gefängnis. Bei guter Führung muss er fünfzehn davon absitzen. Keine Todesstrafe.«
»Einen Deal? Warum? Harry hat sich nichts zuschulden kommen lassen.«
Ich hatte das ungute Gefühl, dass wir irgendetwas außer Acht gelassen hatten, ein winziges Detail, das alles erklären konnte. Also ging ich noch einmal Nolas letzte Tage durch, aber im ganzen August 1975 bis zum fraglichen Abend am 30. August war in Aurora nichts Besonderes vorgefallen. Im Gegenteil: Durch die Gespräche mit Jenny Dawn, Tamara Quinn und anderen Bewohnern der Stadt hatte ich den Eindruck gewonnen, dass Nola Kellergan in den letzten drei Wochen ihres Lebens glücklich gewesen war. Harry hatte zwar von den Ertränkungsszenen berichtet, Pratt hatte beschrieben, wie er sie zum Oralsex gezwungen hatte, und Nancy hatte von fragwürdigen Verabredungen mit Luther Caleb erzählt, aber Jennys und Tamaras Aussagen vermittelten ein ganz anderes Bild: Ihren Schilderungen nach deutete nichts darauf hin, dass Nola geschlagen worden oder unglücklich gewesen war. Tamara Quinn hatte mir gegenüber sogar erwähnt, dass Nola sie gebeten habe, nach den Sommerferien wieder im Clark’s arbeiten zu dürfen, und dass sie eingewilligt habe. Das hatte mich dermaßen verblüfft, dass ich Tamara zweimal um Bestätigung gebeten hatte. Warum hätte Nola Vorkehrungen treffen sollen, um als Kellnerin weiterarbeiten zu können, wenn sie eine Flucht geplant hatte? Robert Quinn hatte mir berichtet, dass er ihr manchmal begegnet sei, als sie sich gerade mit einer Schreibmaschine abschleppte, aber sie habe dabei einen unbeschwerten Eindruck gemacht und vergnügt vor sich hingeträllert. Man hätte meinen können, Aurora wäre im August 1975 das Paradies auf Erden gewesen. Ich begann mich zu fragen, ob Nola tatsächlich die Absicht gehabt hatte, die Stadt zu verlassen. Plötzlich stieg in mir ein schrecklicher Zweifel auf: Wer garantierte, dass Harry mir die Wahrheit sagte? Woher konnte ich wissen, ob Nola ihn wirklich gebeten hatte, mit ihr fortzugehen? Und wenn alles nur eine List war, um sich vom Mord an ihr reinzuwaschen? Was, wenn Gahalowood von Anfang an recht gehabt hatte?
Ich sah Harry am Nachmittag des 5. Juli im Gefängnis wieder. Er war in einer fürchterlichen Verfassung, sein Gesicht war aschfahl. Falten, die ich bei ihm noch nie gesehen hatte, hatten sich in seine Stirn gegraben.
»Der Staatsanwalt will Ihnen einen Deal vorschlagen«, sagte ich.
»Ich weiß. Roth hat es mir erzählt. Verbrechen aus Leidenschaft. Nach fünfzehn Jahren könnte ich rauskommen.« Am Klang seiner Stimme erkannte ich, dass er bereit war, diese Option in Erwägung zu ziehen.
»Sagen Sie bloß nicht, Sie wollen auf dieses Angebot eingehen!«, rief ich aufgebracht.
»Ich weiß nicht, Marcus … Immerhin ist es eine Möglichkeit, der Todesstrafe zu entgehen.«
»Der Todesstrafe zu entgehen? Was soll das heißen? Dass Sie schuldig sind?«
»Nein! Aber es spricht alles gegen mich! Und ich habe keine Lust, mich auf eine Pokerpartie mit den Geschworenen einzulassen, die ihr Urteil über mich sowieso längst gefällt haben. Fünfzehn Jahre Gefängnis, das ist immer noch besser als lebenslänglich oder der Todestrakt.«
»Harry, ich stelle Ihnen diese Frage jetzt zum letzten Mal: Haben Sie Nola getötet?«
»Natürlich nicht, Herrgott noch mal! Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen?«
»Dann werden wir es beweisen.« Ich holte erneut mein Aufnahmegerät hervor und stellte es auf den Tisch.
»Verschonen Sie mich, Marcus! Nicht schon wieder dieses Gerät!«
»Wir müssen herausfinden, was passiert ist.«
»Ich will nicht mehr, dass Sie mich aufnehmen. Bitte!«
»Also gut, dann mache ich mir eben Notizen.«
Ich zog ein Heft und einen Stift heraus.
»Ich würde gern an unsere Unterhaltung über Ihre geplante Flucht am 30. August 1975 anknüpfen. Wenn ich es richtig verstanden habe, war Ihr Buch zu dem Zeitpunkt, als Nola und Sie sich zur Flucht entschlossen haben, so gut wie fertig …«
»Ich habe es wenige Tage vor der Abreise beendet. Ich habe schnell geschrieben, sehr schnell. Ich war wie in Trance. Alles war so außergewöhnlich: Nola, die immerzu da war, las, korrigierte, tippte … Das klingt jetzt vielleicht kitschig, aber es war magisch. Das Buch wurde am 27. August im Laufe des Tages fertig. Das weiß ich genau, weil es der letzte Tag war, an dem ich Nola gesehen habe. Wir hatten vereinbart, dass ich die Stadt zwei oder drei Tage vor ihr verlassen müsste, um keinen Verdacht zu erregen. Der 27. August war also unser letzter gemeinsamer Tag. Ich hatte den Roman in nur einem Monat geschrieben. Das war Wahnsinn! Ich war so stolz auf mich. Ich erinnere mich noch daran, wie die beiden Manuskripte auf dem Terrassentisch lagen: das handgeschriebene Original und Nolas Herkulesarbeit, also die auf der Maschine getippte Abschrift. Wir waren eine Weile am Strand, an dem wir uns drei Monate zuvor kennengelernt hatten. Wir machten einen langen Spaziergang. Irgendwann hat Nola meine Hand genommen und gesagt: ›Dass ich Sie getroffen habe, Harry, hat mein Leben verändert! Sie werden sehen, wie glücklich wir zusammen sein werden.‹ Wir setzten unseren Spaziergang fort. Unser Plan stand fest: Ich sollte Aurora am nächsten Morgen verlassen und vorher im Clark’s vorbeischauen, um mich zu zeigen und zu verbreiten, dass ich wegen dringender Geschäfte ein oder zwei Wochen nach Boston musste. Anschließend sollte ich zwei Tage in Boston bleiben und die Hotelrechnung aufheben, damit alles überzeugend wäre, falls die Polizei mich befragen würde. Dann, am 30. August, sollte ich ein Zimmer im Sea Side Motel an der Route 1 mieten. Zimmer 8, hatte Nola gesagt, weil sie die Zahl Acht so mochte. Ich habe sie gefragt, wie sie es anstellen wolle, zum Motel zu kommen, das doch immerhin mehrere Meilen außerhalb von Aurora liegt, und sie hat gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen, sie würde eben schnell gehen, und außerdem kenne sie eine Abkürzung über den Strand. Sie wollte am frühen Abend gegen neunzehn Uhr in dem Zimmer zu mir stoßen. Dann wollten wir sofort aufbrechen, nach Kanada fahren und uns dort nach einer sicheren Bleibe, etwa nach einer kleinen Mietwohnung, umsehen. Ich sollte ein paar Tage später nach Aurora zurückkehren, als wäre nichts gewesen. Die Polizei würde dann sicher schon nach Nola suchen, aber ich sollte Ruhe bewahren. Wenn man mich befragte, sollte ich antworten, dass ich in Boston war, und die Hotelrechnung vorweisen. Ich sollte eine Woche in Aurora bleiben, um keinen Verdacht zu erwecken, und sie wollte unterdessen in aller Ruhe in unserer Wohnung auf mich warten. Danach sollte ich das Haus in Goose Cove räumen und Aurora mit der Begründung, dass mein Roman fertig war und ich mich nun um seine Veröffentlichung kümmern musste, für immer verlassen. Ich wollte zu Nola zurückkehren, das Manuskript per Post an mehrere Verlage in New York schicken und anschließend zwischen unserem Versteck in Kanada und New York pendeln, um die Herausgabe des Buchs voranzutreiben.«
»Und was wollte Nola tun?«
»Wir hätten ihr falsche Papiere besorgt, und sie wäre wieder auf die Highschool und später aufs College gegangen. Und wir hätten ihren achtzehnten Geburtstag abgewartet, und dann wäre sie Mrs Harry Quebert geworden.«
»Falsche Papiere? Aber das ist doch Wahnsinn!«
»Ich weiß. Es war Wahnsinn.«
»Und was ist dann passiert?«
»An jenem 27. August haben wir den Plan am Strand mehrmals durchgesprochen und sind dann ins Haus zurückgegangen. Wir haben uns auf das alte Sofa im Wohnzimmer gesetzt, das damals noch nicht alt war, es aber inzwischen ist, weil ich mich nicht davon trennen kann, und uns ein letztes Mal unterhalten. Ihre Abschiedsworte werde ich nie vergessen, Marcus. Sie hat zu mir gesagt: ›Wir werden so glücklich sein, Harry. Ich werde Ihre Frau. Sie werden ein großer Schriftsteller und Professor. Ich habe immer davon geträumt, einen Professor zu heiraten. An Ihrer Seite werde ich die glücklichste Frau der Welt sein. Und wir werden uns einen großen sonnengelben Hund zulegen, einen Labrador, den wir Storm nennen. Warten Sie auf mich, bitte, warten Sie auf mich.‹ Und ich habe geantwortet: ›Wenn es sein muss, werde ich mein ganzes Leben auf dich warten, Nola.‹ Das waren ihre letzten Worte, Marcus. Danach bin ich eingedöst, und als ich wieder aufwachte, ging die Sonne gerade unter, und Nola war weg. Da war dieses rosafarbene Licht, das den Ozean schimmern lässt, und Scharen kreischender Möwen. Diese verdammten Möwen, die sie so liebte. Auf dem Terrassentisch lag nur noch ein Manuskript, nämlich das, das mir geblieben ist: das Original. Daneben der kurze Brief, den Sie in der Schachtel gefunden haben. Ich kenne ihn auswendig: Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen, Harry, ich schaffe es schon irgendwie zu unserem Treffpunkt. Warten Sie in Zimmer 8 auf mich. Ich liebe diese Zahl, das ist meine Lieblingszahl. Warten Sie dort um neunzehn Uhr auf mich. Und dann gehen wir für immer fort. Ich habe nicht nach dem Manuskript gesucht. Mir war klar, dass sie es mitgenommen hatte, um es noch einmal zu lesen. Oder vielleicht um sicherzugehen, dass ich am 30. auch wirklich zum Treffpunkt ins Motel kam. Sie hat dieses verfluchte Manuskript mitgenommen, Marcus, wie sie es manchmal getan hat. Und ich habe am nächsten Tag die Stadt verlassen. So, wie wir es abgesprochen hatten. Ich bin im Clark’s vorbeigefahren und habe einen Kaffee getrunken, um mich sehen zu lassen und zu erzählen, dass ich eine Weile weg sein würde. Wie jeden Morgen war Jenny da, und ich habe zu ihr gesagt, dass mein Buch fast fertig ist und ich ein paar wichtige Termine in Boston habe. Und dann bin ich abgefahren. Ich bin abgefahren, ohne zu ahnen, dass ich Nola nie wiedersehen würde.«
Ich legte den Stift hin. Harry weinte.
7. Juli 2008
In Boston nahm sich Barnaski im Nebenzimmer des Park Plaza eine halbe Stunde, um die rund fünfzig Seiten zu überfliegen, die ich ihm mitgebracht hatte, bevor er uns rufen ließ.
»Und?«, fragte ich ihn, als ich den Raum betrat.
Seine Augen leuchteten. »Es ist einfach genial, Goldman! Genial! Ich wusste, dass Sie der richtige Mann sind!«
»Vorsicht, bei diesen Seiten handelt es sich vor allem um Notizen von mir. Es sind Fakten darunter, die nicht veröffentlicht werden dürfen.«
»Aber sicher, Goldman, aber sicher. Die Korrekturfahnen müssen sowieso Sie absegnen.«
Er bestellte Champagner, breitete die beiden Ausfertigungen des Vertrags auf dem Tisch aus und fasste den Inhalt noch einmal zusammen: »Ablieferung des Manuskripts Ende August. Bis dahin sind die Schutzumschläge schon fertig. Redaktion und Satz innerhalb von zwei Wochen, Druck im Lauf des Monats September. Voraussichtlicher Erscheinungstermin letzte Septemberwoche. Spätestens. Ein perfektes Timing! Genau vor den Präsidentschaftswahlen und mehr oder weniger parallel zu Queberts Prozess! Ein phänomenaler Marketingcoup, mein lieber Goldman! Hipp, hipp, hurra!«
»Was ist, wenn der Fall bis dahin noch nicht abgeschlossen ist?«, wollte ich wissen. »Was soll ich dann für ein Ende schreiben?«
Barnaski hatte bereits eine von seiner Rechtsabteilung auf Herz und Nieren geprüfte Lösung parat: »Wenn der Fall abgeschlossen ist, wird es ein authentischer Tatsachenbericht. Wenn nicht, lassen wir das Ende offen, oder Sie denken sich eines aus. Dann ist es ein Roman. Juristisch gesehen, ist das eine saubere Lösung, und für den Leser ist es sowieso egal. Und sollten die Ermittlungen tatsächlich noch zu keinem Ergebnis gekommen sein – umso besser, dann könnten wir einen zweiten Band machen. Das wäre ein Glücksfall!«
Er warf mir einen vielsagenden Blick zu. In diesem Augenblick brachte ein Hotelpage den Champagner, und Barnaski ließ es sich nicht nehmen, ihn höchstpersönlich zu öffnen. Ich unterschrieb seinen Vertrag, er ließ den Korken knallen und verspritzte dabei reichlich Champagner, füllte zwei Gläser und reichte eins davon Douglas und das andere mir.
»Trinken Sie nicht mit?«, fragte ich.
Er verzog angewidert das Gesicht und wischte sich die Hände an einem Kissen ab. »Ich mag das Zeug nicht. Champagner ist nur gut für die Show. Die Show, Goldman, macht neunzig Prozent des Interesses aus, das die Leute dem fertigen Produkt entgegenbringen!«
Mit diesen Worten verließ er den Raum, um Warner Bros. anzurufen und über die Filmrechte zu verhandeln.
Nachmittags erhielt ich auf der Rückfahrt nach Aurora einen Anruf von Roth. Er war vollkommen aus dem Häuschen.
»Wir haben das Ergebnis, Goldman!«
»Was für ein Ergebnis?«
»Die Handschrift! Sie ist nicht von Harry! Er hat diese Worte nicht aufs Manuskript geschrieben!«
Ich stieß einen Freudenschrei aus.
»Und was heißt das genau?«, fragte ich dann.
»Das lässt sich noch nicht sagen. Aber wenn es nicht seine Handschrift ist, dann bestätigt das, dass sich das Manuskript zum Zeitpunkt von Nolas Ermordung nicht in seinem Besitz befunden hat. Und das Manuskript ist immerhin eines der wichtigsten Beweisstücke der Anklage. Der Richter hat für Donnerstag, den 10. Juli, um elf Uhr eine erneute Anhörung angesetzt. Dass er es so eilig hat, ist bestimmt eine gute Nachricht für Harry!«
Ich war sehr aufgeregt: Bald würde Harry freikommen. Er hatte also die Wahrheit gesagt, er war unschuldig. Voller Ungeduld sah ich dem Donnerstag entgegen. Doch am Abend vor der neuerlichen Anhörung, am Mittwoch, den 9. Juli, ereignete sich eine Katastrophe. An diesem Abend saß ich gerade in Harrys Arbeitszimmer in Goose Cove und las meine Aufzeichnungen über Nola durch, als Barnaski mich gegen neunzehn Uhr auf meinem Handy anrief. Seine Stimme bebte. »Marcus, ich habe eine schreckliche Nachricht«, fiel er mit der Tür ins Haus.
»Was ist los?«
»Es wurde etwas gestohlen …«
»Gestohlen? Was?«
»Ihre Aufzeichnungen … Die Seiten, die Sie mir nach Boston mitgebracht haben.«
»Was? Wie kann das sein?«
»Sie lagen in einer Schublade in meinem Büro. Gestern Morgen konnte ich sie nicht mehr finden … Zuerst dachte ich, Marisa hätte aufgeräumt und sie in den Safe gelegt, wie sie es manchmal tut. Aber als ich sie darauf angesprochen habe, hat sie gesagt, sie hätte nichts angerührt. Ich habe gestern den ganzen Tag danach gesucht – ohne Erfolg.«
Mein Herz raste. Ich fühlte, wie sich ein Unwetter zusammenbraute. »Und wie kommen Sie darauf, dass sie gestohlen wurden?«, fragte ich.
Lange Pause, dann erwiderte Barnaski: »Ich habe den ganzen Nachmittag über Anrufe bekommen: vom Globe, von USA Today, der New York Times … Jemand hat Kopien Ihrer Aufzeichnungen an sämtliche Zeitungen des Landes verteilt, und die sind gerade dabei, sie in Umlauf zu bringen. Marcus: Morgen wird wahrscheinlich die ganze Nation erfahren, was in Ihrem Buch steht.«