Auszüge aus den großen Tageszeitungen
der Ostküste

10. Juli 2008

Auszug aus der New York Times

MARCUS GOLDMAN LÜFTET IM FALL HARRY QUEBERT DEN SCHLEIER

Das Gerücht, dass der Schriftsteller Marcus Goldman an einem Buch über Harry Quebert arbeitet, kursiert in Kulturkreisen schon seit einigen Tagen. Nun wurde es durch einige an die Öffentlichkeit gelangte Seiten des Werks, die am gestrigen Vormittag den Redaktionen zahlreicher nationaler Tageszeitungen zugegangen sind, bestätigt. Dieses Buch erzählt von den minutiösen Ermittlungen, die Goldman durchgeführt hat, um Licht in die Ereignisse zu bringen, die im Sommer 1975 zur Ermordung von Nola Kellergan geführt haben, einem Mädchen, das am 30. August 1975 verschwunden war und am 12. Juni 2008 in einem Waldstück nahe Aurora vergraben aufgefunden wurde.

Die Rechte hat sich für eine Million Dollar der mächtige New Yorker Verlag Schmid & Hanson gesichert. Dessen Geschäftsführer, Roy Barnaski, wollte sich zwar nicht dazu äußern, gab aber an, dass die Veröffentlichung des Buchs für kommenden Herbst unter dem Titel Der Fall Harry Quebert geplant sei. (…)

Auszug aus dem Concord Herald

DIE ENTHÜLLUNGEN DES MARCUS GOLDMAN

(…) Goldman, ein enger Freund und ehemaliger Student Harry Queberts, schildert als Insider die jüngsten Ereignisse in Aurora. Den Auftakt seiner Erzählung bildet die Entdeckung von Queberts Verhältnis mit der jungen, damals fünfzehnjährigen Nola Kellergan.

»Im Frühjahr 2008, rund ein Jahr nachdem ich zum neuen Star der amerikanischen Literaturszene geworden war, geschah etwas, das ich tief in meinem Gedächtnis zu vergraben beschloss: Ich fand heraus, dass mein siebenundsechzigjähriger Professor Harry Quebert, einer der angesehensten Schriftsteller des Landes, im Alter von vierunddreißig Jahren eine Beziehung zu einer Fünfzehnjährigen gehabt hatte. Und zwar im Sommer 1975.«

Auszug aus der Washington Post

MARCUS GOLDMANS BOMBE

(…) Bei seinen Ermittlungen scheint Goldman eine Entdeckung nach der anderen zu machen. So erzählt er insbesondere, dass Nola Kellergan ein hilfloses Mädchen war, das wiederholt geschlagen und gefoltert wurde, etwa durch simuliertes Ertränken. Ihre Freundschaft und Nähe zu Harry Quebert gaben ihr eine bis dahin nicht gekannte Stabilität und ließen sie von einem besseren Leben träumen. (…)

Auszug aus dem Boston Globe

DAS VERRUCHTE LEBEN DER NOLA KELLERGAN

Marcus Goldman fördert Fakten zutage, die der Presse bislang unbekannt waren.

Sie war das Sexobjekt von E. S., einem einflussreichen Geschäftsmann aus Concord, der seinen Handlanger nach ihr schickte wie nach Frischfleisch. Halb Frau, halb Kind, war sie den Phantasien der männlichen Einwohnerschaft Auroras ausgeliefert und fiel auch dem örtlichen Polizeichef zum Opfer, der sie zum Oralverkehr genötigt haben soll. Derselbe Polizeichef wurde nach ihrem Verschwinden mit der Leitung der Ermittlungen betraut (…)

Und ich hatte die Kontrolle über ein Buch verloren, das es noch gar nicht gab.

In den frühen Morgenstunden des 10. Juli, einem Donnerstag, entdeckte ich die reißerischen Schlagzeilen: Alle landesweiten Tageszeitungen hatten auf der Titelseite Versatzstücke meines Textes abgedruckt, aber sie hatten meine Sätze zerhackt und aus dem Zusammenhang gerissen. Meine Hypothesen waren zu abscheulichen Behauptungen, meine Mutmaßungen zu erwiesenen Tatsachen, meine Überlegungen zu unverschämten Werturteilen geworden. Man hatte meine Arbeit zerstückelt, meine Ideen verstümmelt, meine Gedanken vergewaltigt. Man hatte Goldman, den langsam genesenden, mühsam auf den Pfad der Bücher zurückfindenden Schriftsteller, gemeuchelt.

Als Aurora langsam erwachte, lief eine Woge der Entrüstung durch die Stadt. Versteinert lasen die Bewohner die Zeitungsartikel ein ums andere Mal. Im Haus läutete alle Augenblicke lang das Telefon; ein paar empörte Bürger klingelten sogar an meiner Tür und forderten von mir eine Erklärung. Ich hatte die Wahl, ob ich mich der Sache stellen oder mich verkriechen wollte. Ich entschied mich für die Konfrontation. Um Punkt zehn Uhr schüttete ich zwei doppelte Whiskys herunter und machte mich auf den Weg ins Clark’s.

Als ich durch die Glastür des Lokals trat, spürte ich, wie mich die Stammgäste mit Blicken durchbohrten. Mit pochendem Herzen setzte ich mich an Tisch 17, und Jenny stürzte aufgebracht auf mich zu und warf mir an den Kopf, dass ich der schlimmste Abschaum sei. Ich glaubte schon, sie würde mir ihre Kaffeekanne ins Gesicht schleudern.

»Du bist also nur hergekommen«, tobte sie, »um auf unsere Kosten Kohle zu machen und Schweinereien über uns zu verbreiten?«

In ihren Augen standen Tränen. Ich versuchte, die Sache abzuwiegeln. »Jenny, du weißt, dass das nicht wahr ist. Diese Auszüge hätten so nie gedruckt werden dürfen.«

»Hast du diese schrecklichen Dinge wirklich geschrieben?«

»Was da steht, ist ungeheuerlich, aber es ist aus dem Zusammenhang gerissen …«

»Aber du hast es geschrieben, oder nicht?«

»Ja, aber …«

»Da gibt es kein aber, Marcus!«

»Ich schwöre, dass ich niemandem damit schaden wollte.«

»Niemandem schaden? Soll ich aus deinem Meisterwerk zitieren?« Sie schlug ein Notizbuch auf. »Hör dir an, was hier steht: Jenny Quinn, die Kellnerin aus dem Clark’s, war vom ersten Tag an in Harry Quebert verliebt … So siehst du mich also? Als Kellnerin, als die Dienstmagd, die sich vor Sehnsucht nach Harry verzehrt?«

»Du weißt, dass das nicht stimmt …«

»Aber es steht da, verdammt noch mal! Es steht in sämtlichen Zeitungen dieses beschissenen Landes! Alle werden es lesen: meine Freunde, meine Familie, mein Mann …«

Jenny schrie. Die anderen Gäste beobachteten die Szene schweigend. Um des lieben Friedens willen zog ich es vor, zu verschwinden und in die Bibliothek zu gehen, weil ich hoffte, in Erne Pinkas einen Verbündeten zu finden, der für die Katastrophe der missbrauchten Worte Verständnis hätte. Aber auch er legte nicht gerade Wert auf meine Gesellschaft.

»Sieh an, der große Goldman!«, spottete er bei meinem Anblick. »Suchst du nach weiteren Horrorgeschichten über unsere Stadt?«

»Ich bin entsetzt darüber, dass mein Text an die Öffentlichkeit gelangt ist, Erne.«

»Entsetzt? Spar dir das Theater! Dein Buch ist in aller Munde. Zeitungen, Internet, Fernsehen – du bist in aller Munde! Du müsstest sehr zufrieden sein. Jedenfalls hoffe ich, dass du alle Informationen, die ich dir gegeben habe, richtig ausschlachten konntest. Marcus Goldman, der allmächtige Gott von Aurora, Marcus, der hier auftaucht und zu mir sagt: Ich muss dieses wissen, ich muss jenes wissen. Kein einziger Dank, als wäre das ganz normal, als müsste ich dem großen Schriftsteller Marcus Goldman die Stiefel lecken. Weißt du, was ich dieses Wochenende gemacht habe? Ich bin jetzt fünfundsiebzig und arbeite jeden zweiten Sonntag in Montburry im Supermarkt, damit ich bis zum Monatsende über die Runden komme. Ich sammle die Einkaufswagen auf dem Parkplatz ein und schiebe sie zum Eingang zurück. Mir ist klar, dass damit kein Ruhm zu ernten ist und dass ich nicht so wichtig wie du bin, aber ein ganz klein wenig Achtung habe ich trotzdem verdient, oder nicht?«

»Tut mir leid.«

»Es tut dir leid? Gar nichts tut dir leid! Du wusstest es nicht mal, weil es dich nicht interessiert hast, Marc! Du hast dich nie für irgendjemanden in Aurora interessiert. Für dich zählt nur der Ruhm. Aber der Ruhm hat seinen Preis!«

»Es tut mir aufrichtig leid, Erne. Lass uns zusammen mittagessen gehen, wenn du willst.«

»Ich will nicht essen gehen! Ich will, dass du mich in Ruhe lässt! Ich muss Bücher einsortieren. Bücher sind wichtig. Du nicht.«

Entsetzt fuhr ich zurück nach Goose Cove, um mich dort zu verkriechen. Marcus Goldman, der Adoptivsohn von Aurora, hatte ohne es zu wollen seine Familie verraten. Ich rief Douglas an und bat ihn, ein Dementi zu veröffentlichen.

»Ein Dementi? Die Zeitungen haben doch nur abgedruckt, was du geschrieben hast. In zwei Monaten wäre sowieso alles veröffentlicht worden.«

»Die Zeitungen haben alles entstellt! Nichts von dem, was sie gedruckt haben, wird so in meinem Buch stehen!«

»Hör mal, Marc, mach nicht so ein Bohei. Du musst dich auf deinen Text konzentrieren, das ist das einzige, was jetzt zählt. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit. Vielleicht erinnerst du dich, dass wir vor drei Tagen in Boston waren, wo du einen Vertrag über eine Million Dollar unterschrieben und dich verpflichtet hast, in sieben Wochen ein Buch zu schreiben?«

»Ich weiß, ich weiß! Aber das heißt nicht, dass ich es zusammenschmiere!«

»Ein Buch, das in ein paar Wochen geschrieben wird, ist ein Buch, das in ein paar Wochen geschrieben wird.«

»Genauso lang hat Harry gebraucht, um Der Ursprung des Übels zu schreiben.«

»Harry ist Harry, wenn du weißt, was ich meine.«

»Nein, weiß ich nicht.«

»Er ist ein wirklich großer Autor.«

»Danke für die Blumen! Und was bin ich?«

»Du weißt, dass ich es nicht so gemeint habe. Du bist ein, sagen wir … ein moderner Schriftsteller. Du kommst an, weil du jung und dynamisch und … angesagt bist. Du bist ein angesagter Autor, das ist es. Von dir erwartet niemand, dass du den Pulitzerpreis kriegst, die Leute lieben deine Bücher, weil sie im Trend liegen und unterhaltsam sind, und das ist auch absolut in Ordnung so.«

»So denkst du also über mich? Dass ich ein unterhaltsamer Autor bin?«

»Dreh mir nicht das Wort im Mund um, Marc. Dir ist doch wohl klar, dass das Publikum auf dich steht, weil du … so ein hübscher Kerl bist.«

»Ein hübscher Kerl? Das wird ja immer schlimmer!«

»Komm schon, Marc, du weißt, worauf ich hinauswill! Du transportierst ein bestimmtes Image. Wie schon gesagt, du liegst im Trend. Alle mögen dich. Du bist der gute Kumpel, der geheimnisvolle Liebhaber und der ideale Schwiegersohn in einem … Deshalb wird Der Fall Harry Quebert auch ein Riesenerfolg werden! Es ist verrückt, es gibt dein Buch noch gar nicht, und die Leute reißen sich schon darum. So etwas habe ich in meinem ganzen Berufsleben noch nicht erlebt.«

»Der Fall Harry Quebert?«

»Das ist der Titel.«

»Was soll das heißen – der Titel

»Du hast ihn doch selbst über deinen Text geschrieben.«

»Das war ein provisorischer Titel, und das habe ich auch extra drüber geschrieben: provisorischer Titel. Pro-vi-so-risch. Das ist ein Adjektiv und heißt, dass etwas nicht endgültig ist.«

»Hat Barnaski dich denn nicht informiert? Die Marketingabteilung hält es für den perfekten Titel. Das haben sie gestern Abend beschlossen. Dringlichkeitssitzung wegen der durchgesickerten Seiten. Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass es besser ist, die Indiskretion als Marketinginstrument zu nutzen, und deshalb haben sie heute Vormittag die Werbekampagne für das Buch gestartet. Ich dachte, du wüsstest davon. Schau mal ins Internet.«

»Du dachtest, ich wüsste davon? Scheiße, Doug, du bist mein Agent! Du sollst nicht denken, sondern handeln! Du musst dafür sorgen, dass ich über alles, was mit meinem Buch zu tun hat, auf dem Laufenden bin, verdammt!«

Wutentbrannt legte ich auf und stürzte an meinen Computer. Die Homepage von Schmid & Hanson stand ganz im Zeichen meines Projekts: Auf ihr wechselten sich ein großes Farbfoto von mir sowie Schwarzweißaufnahmen von Aurora und folgender Text ab:

DER FALL HARRY QUEBERT

Das neue Buch von Marcus Goldman über das

Verschwinden von Nola Kellergan

Erscheinungstermin: im Herbst.

Bestellen Sie es schon jetzt!

An diesem Tag sollte um dreizehn Uhr die Anhörung stattfinden, die auf Wunsch der Staatsanwaltschaft aufgrund des Ergebnisses der grafologischen Untersuchung anberaumt worden war. In Concord belagerten Journalisten die Stufen zum Gerichtsgebäude, während sich die Reporter der Fernsehsender, die das Ereignis live übertrugen, die von der Presse veröffentlichten Enthüllungen zu eigen machten. Es war die Rede von einer möglichen Einstellung des Verfahrens: ein saftiger Skandal.

Eine Stunde vor der Anhörung rief ich Roth an, um ihm mitzuteilen, dass ich nicht bei Gericht erscheinen würde.

»Sie verstecken sich, Marcus?«, rügte er mich. »Seien Sie kein Frosch! Ihr Buch ist ein Segen für uns alle. Es wird Harrys Unschuld beweisen, Ihre Karriere festigen und meiner einen großen Schub verleihen. Ich werde nicht länger nur der Roth aus Concord sein, sondern der Roth aus Ihrem Bestseller! Das Buch kommt genau zur rechten Zeit, vor allem für Sie. Wie lange haben Sie nichts mehr geschrieben? Zwei Jahre?«

»Halten Sie die Klappe, Roth! Sie wissen ja nicht, worum es geht!«

»Und hören Sie mit diesem Theater auf, Goldman! Ihr Buch wird ein Knüller, das wissen Sie genau. Sie werden dem ganzen Land verraten, warum Harry ein Perverser ist. Ihre Inspiration war Ihnen abhandengekommen, Sie wussten nicht, was Sie schreiben sollten, und jetzt schreiben Sie ein Buch mit Erfolgsgarantie.«

»Diese Seiten hätten nie an die Presse gelangen dürfen.«

»Aber Sie haben sie nun mal geschrieben. Machen Sie sich nichts daraus: Ich rechne fest damit, dass ich Harry noch heute aus dem Gefängnis freibekomme, und das habe ich ohne Frage Ihnen zu verdanken. Ich gehe davon aus, dass auch der Richter Zeitung liest, insofern dürfte es mir nicht schwerfallen, ihn davon zu überzeugen, dass Nola eine willige Schlampe war.«

»Tun Sie das nicht, Roth!«, rief ich.

»Warum nicht?«

»Weil sie das nicht war. Außerdem hat er sie geliebt! Er hat sie geliebt!«

Aber Roth hatte schon aufgelegt. Wenig später sah ich ihn in meinem Fernseher mit breitem Grinsen und triumphierender Miene die Stufen zum Gerichtsgebäude emporsteigen. Einige Journalisten streckten ihm das Mikrofon entgegen und wollten wissen, ob es wahr sei, was die Presse schrieb: Hatte Nola Kellergan mit allen Männern der Stadt etwas gehabt? Würde der Fall neu aufgerollt werden? Aufgeräumt bejahte er alle Fragen, die man ihm stellte.

Die Anhörung führte zu Harrys Freilassung. Sie dauerte nicht einmal zwanzig Minuten, in denen der ganze Fall im Zuge der richterlichen Aufzählungen wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel. Das Hauptbelastungsmaterial – das Manuskript – hatte jegliche Beweiskraft eingebüßt, seit der Nachweis erbracht war, dass die Aufschrift Adieu, allerliebste Nola nicht von Harrys Hand stammte. Die anderen Anhaltspunkte wurden wie Strohhalme vom Tisch gefegt. Tamara Quinns Anschuldigungen konnten durch keinerlei Sachbeweise gestützt werden, der schwarze Chevrolet Monte Carlo war schon damals nicht als Beweismittel betrachtet worden. Das gesamte Ermittlungsverfahren stellte sich als Riesenschlamperei dar, und der Richter beschloss auf der Grundlage neuer, ihm zur Kenntnis gebrachter Indizien, Harry gegen eine Kaution von einer halben Million Dollar freizulassen. Die Chancen standen gut, dass die Anklage vollständig fallen gelassen würde.

Diese spektakuläre Wende löste bei den Journalisten Hysterie aus. Man fragte sich, ob der Staatsanwalt nicht vielleicht einen gewaltigen PR-Coup hatte landen wollen, als er Harry verhaften und der Öffentlichkeit zum Fraß vorwerfen ließ. Kurz darauf sah man die Parteien nacheinander das Gerichtsgebäude verlassen: Zuerst kam Roth, der jubilierte und ankündigte, dass Harry schon am nächsten Tag, sobald sie das Geld für die Kaution zusammenhätten, ein freier Mann sein würde; dann folgte der Staatsanwalt, der vergeblich die Schlüssigkeit seines Ermittlungsverfahrens darzulegen versuchte.

Als ich vom großen Gerichtsspektakel auf der kleinen Mattscheibe genug hatte, ging ich joggen. Ich hatte das Bedürfnis, weit zu laufen und meinen Körper zu fühlen. Ich wollte spüren, dass ich lebendig war. Ich lief bis zu dem kleinen, von Kindern und Familien heimgesuchten See bei Montburry. Auf dem Rückweg überholte mich kurz vor Goose Cove ein Feuerwehrauto, unmittelbar gefolgt von einem zweiten sowie von einem Polizeiauto. Da sah ich auch schon den dichten, beißenden Qualm über den Kiefern aufsteigen und begriff sofort: Das Haus brannte. Der Brandstifter hatte erneut zugeschlagen!

Ich rannte, wie ich noch nie gerannt war, um das Schriftstellerhaus, das ich so liebte, zu retten. Die Feuerwehr war bereits im Einsatz, aber die riesigen Flammen verschlangen gerade die Fassade. Alles brannte lichterloh. In sicherem Abstand inspizierte ein Polizist meinen am Rand der Auffahrt geparkten Wagen, auf dessen Karosserie jemand mit roter Farbe geschrieben hatte: Brenne, Goldman, brenne.

Um zehn Uhr vormittags am nächsten Tag schwelte das Feuer immer noch. Das Haus war größtenteils zerstört worden. Experten der State Police sahen sich in den Ruinen um, während ein Team der Feuerwehr darüber wachte, dass der Brandherd nicht wieder aufloderte. Der Wucht der Flammen nach zu urteilen, hatte jemand Benzin oder einen vergleichbaren Brandbeschleuniger unter den Portalvorbau geschüttet. Von dort aus hatte sich das Feuer in Windeseile ausgebreitet. Terrasse und Wohnzimmer waren verwüstet, ebenso die Küche. Der erste Stock war zwar von den Flammen einigermaßen verschont geblieben, aber der Qualm und vor allem das von der Feuerwehr eingesetzte Wasser hatten irreversible Schäden angerichtet.

Noch immer in meinen Sportsachen, hockte ich starr vor Entsetzem im Gras und stierte das ausgebrannte Haus an. Ich hatte die ganze Nacht dort gesessen. Zu meinen Füßen stand eine unbeschädigte Tasche, die die Feuerwehrmänner aus meinem Zimmer geborgen hatten. Darin befanden sich ein paar Anziehsachen und mein Computer.

Ich hörte ein Auto kommen, und durch die Schaulustigen hinter mir ging ein Raunen. Es war Harry. Er war soeben freigelassen worden. Ich hatte Roth von der Tragödie in Kenntnis gesetzt und wusste, dass er Harry benachrichtigt hatte. Wortlos machte er ein paar Schritte in meine Richtung, dann setzte er sich ins Gras und sagte nur: »Was haben Sie sich bloß dabei gedacht, Marcus?«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Harry.«

»Sagen Sie nichts. Schauen Sie, was Sie angerichtet haben. Dafür braucht es keine Worte.«

»Harry, ich …«

Da bemerkte er die Aufschrift auf der Motorhaube meines Range Rovers. »Ihr Wagen hat nichts abgekriegt?«

»Nein.«

»Umso besser, weil Sie sich jetzt hineinsetzen und von hier verschwinden werden.«

»Harry …«

»Sie hat mich geliebt, Marcus! Und ich habe sie geliebt, wie ich danach nie wieder jemanden geliebt habe. Warum haben Sie diese unsäglichen Dinge geschrieben? Wissen Sie, was Ihr Problem ist? Sie wurden nie geliebt! Nie! Sie wollen Liebesromane schreiben, aber von der Liebe haben Sie keine Ahnung! Ich möchte, dass Sie jetzt gehen. Auf Wiedersehen.«

»Ich habe Nola nie so beschrieben oder mir vorgestellt, wie die Presse es hinstellt. Diese Leute haben meine Worte verdreht, Harry!«

»Wie konnten Sie zulassen, dass Barnaski diesen Dreck an die gesamte landesweite Presse geschickt hat?«

»Es war Diebstahl.«

Er lachte zynisch. »Diebstahl! Sagen Sie bloß, Sie sind so naiv und glauben alles, was Barnaski Ihnen auftischt! Ich wette, er hat Ihren beschissenen Text eigenhändig kopiert und im ganzen Land herumgeschickt.«

»Was? Aber …«

Er schnitt mir das Wort ab. »Marcus, ich wünschte, ich wäre Ihnen nie begegnet. Gehen Sie jetzt. Sie befinden sich auf meinem Grundstück und sind hier nicht länger willkommen.«

Ein langes Schweigen machte sich breit. Die Feuerwehrleute und Polizisten starrten uns an. Ich griff nach meiner Tasche, stieg in meinen Wagen und fuhr los. Sofort rief ich Barnaski an.

»Schön, von Ihnen zu hören, Goldman«, begrüßte er mich. »Gerade habe ich das von Queberts Haus gehört, es läuft auf allen Nachrichtensendern. Ich bin froh, dass Ihnen nichts passiert ist. Lange kann ich nicht mit Ihnen reden, ich habe nämlich gleich einen Termin mit den Geschäftsführern von Warner Bros. Die schlagen sich darum, anhand Ihrer ersten Seiten ein Drehbuch zu dem Fall schreiben zu lassen. Alle sind hin und weg. Ich glaube, wir können ihnen die Filmrechte für ein kleines Vermögen verkaufen …«

Ich unterbrach ihn: »Es wird kein Buch geben, Roy.«

»Was sagen Sie?«

»Sie waren es, oder? Sie haben meinen Text an die Presse geschickt! Sie haben alles vermasselt!«

»Sie sind wetterwendisch, Goldman. Schlimmer: Sie führen sich auf wie eine Diva und das gefällt mir überhaupt nicht! Erst spielen Sie den Detektiv und ziehen eine Riesenshow ab, und dann schmeißen Sie aus einer Laune heraus alles wieder hin. Wissen Sie was? Ich schreibe das der Tatsache zu, dass Sie eine anstrengende Nacht hinter sich haben, und vergesse diesen Anruf. Kein Buch … also wirklich! Für wen halten Sie sich, Goldman?«

»Für einen echten Schriftsteller. Schreiben heißt frei sein.«

Er lachte gequält. »Wer hat Ihnen diese Flausen in den Kopf gesetzt? Sie sind ein Sklave Ihrer Karriere, Ihrer Ideen und Ihres Erfolgs. Sie sind ein Sklave Ihrer Lebensumstände. Schreiben heißt abhängig sein. Abhängig von denen, die Ihre Bücher lesen oder eben nicht. Freiheit ist gequirlter Schwachsinn! Niemand ist frei. Ich halte einen Teil Ihrer Freiheit in meiner Hand, so wie die Aktionäre dieses Unternehmens einen Teil meiner Freiheit in ihrer Hand halten. So ist das Leben, Goldman. Niemand ist frei. Wenn die Menschen frei wären, wären sie glücklich. Kennen Sie viele Menschen, die wirklich glücklich sind?« Als ich nicht darauf antwortete, fuhr er fort: »Wissen Sie, mit der Freiheit ist es so eine Sache. Ich kannte mal einen Typen, der war Börsenhändler an der Wall Street, ein Sonnyboy mit Geld wie Heu und einem glücklichen Händchen in allem, was er anpackte. Irgendwann wollte er ein freier Mensch sein. Er hatte im Fernsehen einen Bericht über Alaska gesehen, und das war für ihn eine Art Aha-Erlebnis. Er hat beschlossen, ein freier und glücklicher Jäger zu werden und von frischer Luft zu leben, hat alles hingeschmissen und ist in den Süden Alaskas ausgewandert, in den Wrangler-Nationalpark. Und stellen Sie sich vor, der Kerl, dem im Leben immer alles geglückt ist, hat auch das hingekriegt: Er ist wirklich ein freier Mann geworden. Ganz ungebunden, ohne Familie und ohne Haus, nur ein paar Hunde und ein Zelt. Er war der einzige wirklich freie Mensch, den ich je kennengelernt habe.«

»War?«

»War. Drei Monate lang war der Bursche tatsächlich ziemlich frei, und zwar von Juli bis Oktober. Im Winter ist er erfroren, nachdem er aus lauter Verzweiflung alle seine Hunde aufgegessen hatte. Niemand ist frei, Goldman, nicht einmal die Jäger in Alaska. Schon gar nicht in Amerika, wo die braven Amerikaner vom System abhängen, die Inuit von der Stütze der Regierung und vom Alkohol und wo die Indianer zwar frei, dafür aber in Menschenzoos, sogenannten Reservaten, geparkt und dazu verdammt sind, vor einer Horde Touristen immerzu ihren jämmerlichen Regentanz aufzuführen. Niemand ist frei, mein Junge. Wir sind die Gefangenen der anderen und unser selbst.«

Während Barnaski redete, hörte ich hinter mir plötzlich Sirenengeheul: Eine Zivilstreife folgte mir. Rasch legte ich auf und hielt auf dem Seitenstreifen, weil ich glaubte, wegen Benutzung eines Mobiltelefons am Steuer angehalten zu werden. Aber es war Sergeant Gahalowood. Er stieg aus dem Wagen, trat an mein Fenster und fragte: »Sagen Sie bloß, Sie gehen zurück nach New York, Schriftsteller!«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Sagen wir, weil Sie in der Richtung unterwegs waren?«

»Ich bin einfach nur durch die Gegend gefahren.«

»Hm. Purer Überlebensinstinkt?«

»Sie ahnen nicht, wie recht Sie haben. Wie haben Sie mich gefunden?«

»Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist: Auf der Motorhaube Ihres Wagens steht mit roter Farbe Ihr Name. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um nach Hause zu fahren, Schriftsteller.«

»Harrys Haus ist abgebrannt.«

»Ich weiß. Darum bin ich hier. Sie können jetzt nicht nach New York zurück.«

»Warum?«

»Weil Sie Mumm haben. So ein zäher Bursche wie Sie ist mir in meiner Laufbahn nicht oft untergekommen.«

»Man hat mein Buch geplündert.«

»Sie haben das Buch doch noch gar nicht geschrieben! Ihr Schicksal liegt in Ihren Händen! Ihnen stehen immer noch alle Möglichkeiten offen! Sie sind doch ein kreativer Mensch, also machen Sie sich an die Arbeit und schreiben Sie ein Meisterwerk! Sie sind ein Kämpfer, Schriftsteller. Sie sind ein Kämpfer und müssen ein Buch schreiben. Sie haben etwas zu sagen! Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Ihretwegen stecke auch ich bis zum Hals in der Scheiße. Der Staatsanwalt sitzt auf der Anklagebank und ich mit ihm. Schließlich war ich es, der ihn veranlasst hat, Harry schleunigst zu verhaften. Ich hätte gedacht, eine überraschende Festnahme dreiunddreißig Jahre nach der Tat würde ihn aus der Fassung bringen. Aber ich habe mich wie ein blutiger Anfänger getäuscht. Und dann sind Sie hier aufgekreuzt mit Ihren Lackschuhen, die so viel kosten, wie ich in einem ganzen Monat verdiene! Ich werde Ihnen hier am Straßenrand bestimmt keine Liebeserklärung machen, aber … Fahren Sie nicht zurück. Wir müssen diesen Fall abschließen.«

»Ich weiß nicht, wo ich schlafen soll. Das Haus ist abgebrannt …«

»Sie haben gerade eine Million Dollar kassiert, das weiß ich aus der Zeitung. Mieten Sie sich eine Suite in einem Hotel in Concord. Ich lasse mein Mittagessen auf Ihre Rechnung setzen. Ich sterbe nämlich vor Hunger. Auf geht’s, Schriftsteller. Wir haben alle Hände voll zu tun.«

Die ganze nächste Woche ließ ich mich nicht in Aurora blicken. Ich hatte im Regent’s Hotel im Zentrum von Concord eine Suite bezogen, in der ich mich gleichzeitig mit den Ermittlungen und mit meinem Buch befasste. Was mit Harry war, erfuhr ich über Roth, der mich wissen ließ, dass Harry sich im Sea Side Motel in Zimmer 8 einquartiert hatte. Roth sagte, Harry wolle mich nicht mehr sehen, weil ich Nolas Namen beschmutzt hätte. Er fragte: »Warum mussten Sie eigentlich sämtlichen Zeitungen erzählen, dass Nola eine kleine Schlampe war und sich nicht wohl in ihrer Haut fühlte?«

Ich unternahm einen Anlauf, mich zu verteidigen: »Ich habe gar nichts erzählt! Ich habe ein paar Dutzend Seiten geschrieben und sie dieser Pestbeule Barnaski gegeben, weil er sichergehen wollte, dass ich vorankomme. Er hat die Seiten der Presse zugespielt und es als Diebstahl hingestellt.«

»Wenn Sie es sagen …«

»Verdammt noch mal, das ist die Wahrheit!«

»Wie auch immer: Hut ab! Ich hätte es nicht besser machen können.«

»Wie meinen Sie das?«

»Das Opfer zum Täter machen – es gibt nichts Besseres, um eine Anklage zu demontieren.«

»Harry wurde aufgrund des grafologischen Gutachtens freigelassen, das wissen Sie doch besser als ich.«

»Pah! Wie gesagt, Marcus: Auch Richter sind nur Menschen. Das Erste, was sie morgens beim Kaffeetrinken tun, ist Zeitung lesen.«

Roth, der ein ziemlich bodenständiger, aber nicht unsympathischer Zeitgenosse war, versuchte mich zu trösten, indem er erklärte, dass Harry wegen des Verlusts von Goose Cove sicherlich sehr durcheinander war und sich bestimmt viel besser fühlen würde, wenn die Polizei den Schuldigen geschnappt hätte. Was diesen Punkt betraf, hatten die ermittelnden Beamten übrigens eine ernst zu nehmende Spur: Am Tag nach dem Brand hatten sie bei einer gründlichen Durchsuchung der näheren Umgebung am Strand einen im Gestrüpp versteckten Benzinkanister gefunden, auf dem ein Fingerabdruck sichergestellt werden konnte. Aber leider hatte ein Abgleich mit der Datenbank der Polizei keinerlei Übereinstimmung ergeben, und Gahalowood war der Meinung, dass es ohne weitere Hinweise schwer werden dürfte, den Täter aufzuspüren. Dem Sergeant zufolge handelte es sich vermutlich um einen vollkommen rechtschaffenen, bis dato unbescholtenen Bürger, der nie wieder auffällig werden würde. Aber er ging trotzdem davon aus, dass man den Täterkreis auf eine Person aus der Gegend einengen konnte, genauer gesagt, auf jemanden aus Aurora, der die Tat am helllichten Tag begangen und sich des belastenden Beweisstücks aus Angst, von zufällig vorbeikommenden Spaziergängern erkannt zu werden, schnellstens entledigt hatte.

Mir blieben sechs Wochen, um das Ruder herumzureißen und aus meinem Buch ein gutes Buch zu machen. Es war an der Zeit, zu kämpfen und endlich der Schriftsteller zu werden, der ich sein wollte. Die Vormittage widmete ich meinem Buch, nachmittags arbeitete ich gemeinsam mit Gahalowood an dem Fall. Er hatte meine Suite in einen Ableger seines Büros umfunktioniert und spannte die Hotelpagen dafür ein, kistenweise Zeugenaussagen, Berichte, Zeitungsausschnitte, Fotos und Unterlagen aus dem Archiv hin und her zu schleppen.

Wir fingen noch einmal ganz von vorn an: Wir lasen sämtliche Polizeiberichte erneut und gingen alle Zeugenaussagen von damals durch. Wir zeichneten eine Karte von Aurora und Umgebung und berechneten die Entfernung vom Haus der Kellergans bis Goose Cove sowie von Goose Cove zur Side Creek Lane. Gahalowood begab sich vor Ort, um herauszufinden, wie lange man für jede Strecke zu Fuß und mit dem Auto benötigte, und überprüfte sogar die damaligen Reaktionszeiten der örtlichen Polizei, die sich als sehr kurz erwiesen.

»An Chief Pratts Arbeit gibt es eigentlich nichts auszusetzen«, sagte er zu mir. »Die Ermittlungen wurden sehr professionell durchgeführt.«

»Was Harry angeht, wissen wir jetzt, dass die Widmung auf dem Manuskript nicht von seiner Hand stammt«, sagte ich. »Warum wurde Nola dann aber in Goose Cove vergraben?«

»Weil der Täter dabei nicht gestört werden wollte«, mutmaßte Gahalowood. »Sie haben mir gesagt, Harry hätte überall herumerzählt, dass er für einige Zeit aus Aurora wegmüsse.«

»Das stimmt. Demnach wusste der Mörder, dass Harry nicht zu Hause war.«

»Möglich. Aber eines müssen Sie zugeben: Es ist ziemlich erstaunlich, dass Harry bei seiner Rückkehr nicht aufgefallen ist, dass jemand in der Nähe seines Hauses ein Loch gegraben hatte …«

»Er war nicht ganz bei Sinnen«, gab ich zu bedenken. »Er war krank vor Sorge, am Boden zerstört. Er wartete die ganze Zeit auf Nola. Da kann man schon mal ein Häuflein frisch umgegrabener Erde übersehen, noch dazu in Goose Cove. Sobald es ein wenig regnet, verwandelt sich dort alles in eine Schlammwüste.«

»Da mögen Sie recht haben. Der Mörder weiß also, dass ihn in Goose Cove niemand stören wird. Und sollte die Leiche je gefunden werden – wen wird man beschuldigen?«

»Harry.«

»Bingo, Schriftsteller!«

»Aber was soll dann diese Widmung?«, fragte ich. »Warum hat er Adieu, allerliebste Nola auf das Manuskript geschrieben?«

»Das ist die Eine-Million-Dollar-Frage, Schriftsteller. Und zwar für Sie, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«

Unser Hauptproblem bestand darin, dass unsere Spuren in alle möglichen Richtungen führten. Mehrere dringliche Fragen waren nach wie vor ungelöst.

Gahalowood notierte sie auf großen Blättern:

– Elijah Stern:
Warum bezahlt er Nola dafür, dass sie sich malen lässt? Mordmotiv?

– Luther Caleb:
Warum malt er Nola? Warum treibt er sich in Aurora herum? Mordmotiv?

– David und Louisa Kellergan:
Haben sie ihre Tochter zu brutal geschlagen?
Warum halten sie Nolas Selbstmordversuch und ihr Ausreißen nach Martha’s Vineyard geheim?

– Harry Quebert:
Schuldig?

– Chief Gareth Pratt:
Warum hat Nola ein Verhältnis mit ihm?
Motiv: Hat sie angedroht, alles zu verraten?

– Tamara Quinn behauptet, dass das Blatt Papier, das sie Harry gestohlen hatte, verschwunden ist.
Wer hat es aus dem Büro des Clark’s entwendet?

– Wer hat die anonymen Briefe an Harry geschrieben?
Wer weiß seit dreiunddreißig Jahren Bescheid und hat nie etwas gesagt?

– Wer hat das Feuer in Goose Cove gelegt? Wer hat kein Interesse daran, dass der Fall aufgeklärt wird?

An dem Abend, an dem Gahalowood diese Seiten in meiner Suite mit Reißzwecken an die Wand heftete, stieß er einen langen, verzweifelten Seufzer aus. »Je weiter wir vordringen, desto weniger blicke ich durch«, sagte er. »Ich glaube, es gibt ein zentrales Element, das alle diese Menschen und Ereignisse miteinander verbindet. Das ist der Schlüssel zu den Ermittlungen! Wenn wir diese Verbindung finden, haben wir den Täter.«

Er ließ sich in einen Sessel sinken. Es war neunzehn Uhr, und er hatte keine Kraft mehr zum Nachdenken. Wie an den anderen Tagen um diese Uhrzeit suchte ich meine Sportsachen zusammen, um etwas zu machen, womit ich wieder angefangen hatte, nämlich zu boxen. Ich hatte einen Boxclub ausfindig gemacht, der rund eine Viertelstunde Autofahrt entfernt lag, und beschlossen, mein großes Comeback im Ring zu geben. Seit meiner Ankunft im Regent’s war ich jeden Abend dort gewesen. Der Empfangschef des Hotels hatte mir den Club empfohlen, er war dort selbst Mitglied.

»Wo gehen Sie in diesem Aufzug hin?«, fragte Gahalowood.

»Zum Boxen. Wollen Sie mitkommen?«

»Bestimmt nicht.«

Ich warf meine Sachen in eine Tasche und verabschiedete mich. »Bleiben Sie hier, so lange Sie wollen, Sergeant. Ziehen Sie einfach die Tür hinter sich zu, wenn Sie gehen.«

»Oh, keine Sorge, ich habe mir einen Nachschlüssel machen lassen. Gehen Sie wirklich boxen?«

»Ja.«

Er zögerte, und als ich über die Türschwelle trat, rief er mir nach: »Warten Sie, Schriftsteller. Ich komme doch mit.«

»Was hat Sie veranlasst, Ihre Meinung zu ändern?«

»Die Aussicht, Sie verprügeln zu dürfen. Was finden Sie eigentlich am Boxen, Schriftsteller?«

»Das ist eine lange Geschichte, Sergeant.«

Am Donnerstag, den 17. Juli, statteten wir Captain Neil Rodik, der sich 1975 an den Ermittlungen beteiligt hatte, einen Besuch ab. Er war mittlerweile fünfundachtzig, saß im Rollstuhl und wohnte in einem Altersheim am Meer. Rodik konnte sich noch gut an die schreckliche Suche nach Nola erinnern. Er meinte, es sei der Fall seines Lebens gewesen.

»Das mit dem verschwundenen Mädchen war eine total verrückte Geschichte!«, rief er. »Eine Frau hatte die Kleine blutend aus dem Wald kommen sehen, aber als die Polizei eintraf, war sie spurlos verschwunden. Das Merkwürdigste von allem war meiner Meinung nach die Musik, die der alte Kellergan die ganze Zeit gehört hat. Das hat mich noch lange beschäftigt. Und ich habe mich immer gefragt, wie es sein kann, dass man nicht mitkriegt, wenn die eigene Tochter entführt wird.«

»In Ihren Augen war es also eine Entführung?«, fragte Gahalowood.

»Schwer zu sagen. Es fehlten die Beweise. Könnte die Kleine draußen spazieren gegangen und von einem Irren in seinen Lieferwagen gezerrt worden sein? Ja, durchaus.«

»Erinnern Sie sich zufällig noch, was für ein Wetter bei der Suchaktion herrschte?«

»Die Wetterbedingungen waren miserabel. Es regnete und war sehr neblig. Warum fragen Sie danach?«

»Um herauszufinden, ob es sein kann, dass Harry Quebert das Loch nicht aufgefallen ist, das jemand in seinem Garten gegraben hatte.«

»Das ist nicht auszuschließen. Sein Grundstück ist riesig. Haben Sie einen Garten, Sergeant?«

»Ja.«

»Wie groß?«

»Klein.«

»Halten Sie es für möglich, dass jemand in Ihrer Abwesenheit ein mittelgroßes Loch darin gräbt und Sie es bei Ihrer Heimkehr nicht bemerken?«

»Das halte ich in der Tat für denkbar.«

Auf der Rückfahrt nach Concord wollte Gahalowood wissen, wie ich die Dinge sah.

»Für mich ist das Manuskript der Beweis dafür, dass Nola nicht von zu Hause entführt wurde«, sagte ich. »Sie ist weggelaufen, um sich mit Harry zu treffen. Sie waren in diesem Motel verabredet. Sie hat sich davongeschlichen und den einzigen Gegenstand mitgenommen, der ihr etwas bedeutete: Harrys Buch, das sie bei sich zu Hause hatte. Unterwegs ist sie entführt worden.«

Gahalowood lächelte flüchtig. »Ich glaube, mit dieser Hypothese könnte ich mich anfreunden«, sagte er. »Sie haut also von zu Hause ab, was erklärt, dass niemand etwas gehört hat. Sie geht an der Route 1 entlang zum Sea Side Motel und wird unterwegs entführt oder am Straßenrand von jemandem aufgegabelt, dem sie vertraut. Allerliebste Nola, hat der Mörder geschrieben. Er kannte sie also. Er bietet ihr an, sie am Hotel abzusetzen. Aber dann wird er zudringlich. Vielleicht hält er am Straßenrand an und schiebt ihr die Hand unters Kleid. Sie sträubt sich. Er schlägt sie und befiehlt ihr, stillzuhalten. Aber er hat die Wagentüren nicht verriegelt, und ihr gelingt die Flucht. Sie will sich im Wald verstecken, und wer wohnt gleich an der Route 1 am Waldrand bei Side Creek?«

»Deborah Cooper.«

»Richtig! Der Täter verfolgt Nola und lässt den Wagen am Straßenrand stehen. Deborah Cooper sieht die beiden und ruft die Polizei. Unterdessen holt der Täter Nola ein, und zwar an der Stelle, wo man das Blut und die Haare gefunden hat. Sie wehrt sich, und er schlägt brutal zu. Vielleicht vergeht er sich sogar an ihr. Doch dann trifft die Polizei ein. Officer Dawn und Chief Pratt machen sich daran, den Wald zu durchsuchen, und kommen immer näher. Er zerrt Nola tiefer in den Wald hinein, aber es gelingt ihr, ihm zu entkommen, zu Deborah Coopers Haus zu laufen und sich hineinzuflüchten. Dawn und Pratt setzen unterdessen ihre Suche im Wald fort. Sie sind schon zu weit weg, um etwas mitzukriegen. Deborah Cooper lässt Nola in ihre Küche und eilt ins Wohnzimmer, um die Polizei zu rufen. Als sie zurückkommt, steht der Täter im Raum. Er ist ins Haus eingedrungen, um sich Nola zu holen. Er tötet Cooper mit einem Schuss mitten ins Herz und nimmt Nola mit. Er schleppt sie zu seinem Wagen und wirft sie in den Kofferraum. Vielleicht lebt sie zu dem Zeitpunkt noch, aber vermutlich ist sie bewusstlos. Schließlich hat sie jede Menge Blut verloren. Er fährt los und begegnet kurz darauf dem Wagen des Hilfssheriffs. Es kommt zu einer Verfolgungsjagd. Nachdem er die Polizei abgeschüttelt hat, verkriecht er sich in Goose Cove. Er weiß, dass dort niemand zu Hause ist und ihn keiner stören wird. Die Polizei sucht weiter oben, auf der Straße nach Montburry, nach ihm. Er lässt den Wagen mit Nola im Kofferraum in Goose Cove stehen. Vielleicht versteckt er ihn sogar in der Garage. Dann geht er zum Strand hinunter und kehrt zu Fuß nach Aurora zurück. Ja, ich bin mir sicher, dass unser Mann aus Aurora stammt: Er kennt sich auf den Straßen und im Wald aus, und er weiß, dass Harry nicht da ist. Er weiß alles. Unbemerkt geht er zu sich nach Hause. Er duscht, zieht sich um, und als die Polizei bei den Kellergans eintrifft, weil der Vater seine Tochter als vermisst gemeldet hat, mischt er sich in der Terrace Avenue unter die Gaffer. Deshalb wurde der Mörder nie gefunden: Weil er, während ihn alle außerhalb der Stadt gesucht haben, mitten im Geschehen war, im Herzen von Aurora.«

»Verdammt!«, entfuhr es mir. »Dort hat er also gesteckt?«

»Ja. Ich glaube, er war die ganze Zeit über dort. Nachts muss er dann nur am Strand entlang zurück nach Goose Cove gehen. Ich nehme an, zu diesem Zeitpunkt ist Nola bereits tot. Er verscharrt sie auf dem Grundstück, und zwar am Waldrand, wo die umgegrabene Erde niemandem auffallen wird. Dann nimmt er seinen Wagen, fährt nach Hause, stellt ihn schön ordentlich in die Garage und holt ihn eine Weile nicht mehr heraus, um keinen Verdacht auf sich zu ziehen. Ein perfektes Verbrechen.«

Ich war von Gahalowoods Ausführungen schwer beeindruckt. »Und was sagt uns das über unseren Verdächtigen?«

»Er ist alleinstehend. Er kann tun und lassen, was er will, ohne dass jemand ihm neugierige Fragen stellt oder wissen will, warum er seinen Wagen nicht mehr aus der Garage holt. Und er besitzt einen schwarzen Chevrolet Monte Carlo.«

In meiner Aufregung preschte ich vor: »Dann müssen wir also nur herauskriegen, wer damals in Aurora einen schwarzen Chevrolet fuhr, und wir haben unseren Mann!«

Gahalowood verpasste meinem Eifer sofort einen Dämpfer: »Daran hat Pratt damals auch schon gedacht. Pratt hat an alles gedacht. Sein Bericht enthält eine Liste sämtlicher Chevrolet-Besitzer in Aurora und Umgebung. Er hat sie nacheinander abgeklappert, und alle hatten ein wasserdichtes Alibi. Alle bis auf einen: Harry Quebert.«

Schon wieder Harry! Immer landeten wir bei Harry. Jedes Kriterium, das wir heranzogen, um den Mörder einzukreisen, traf auf ihn zu.

»Was ist mit Luther Caleb?«, fragte ich mit einem Fünkchen Hoffnung. »Was für einen Wagen fuhr er?«

Gahalowood schüttelte den Kopf. »Einen blauen Mustang«, antwortete er.

Ich seufzte. »Was sollen wir Ihrer Meinung nach jetzt tun, Sergeant?«

»Da wäre immer noch Calebs Schwester, die wir noch nicht befragt haben. Ich glaube, es ist an der Zeit, ihr einen Besuch abzustatten. Sie ist die einzige Fährte, die wir noch nicht weiterverfolgt haben.«

An diesem Abend nahm ich nach dem Boxtraining meinen ganzen Mut zusammen und fuhr zum Sea Side Motel. Es war ungefähr einundzwanzig Uhr dreißig. Harry saß auf einem Plastikstuhl vor Zimmer 8, um den milden Abend zu genießen, und trank eine Dose Cola. Bei meinem Anblick sagte er kein Wort. Zum ersten Mal fühlte ich mich in seiner Gegenwart unwohl.

»Ich musste Sie einfach sehen, Harry. Ich wollte Ihnen sagen, wie leid mir das alles tut …«

Er bot mir mit einer Geste den Stuhl neben sich an. »Cola?«, schlug er vor.

»Gern.«

»Der Automat steht am Ende des Gangs.«

Ich grinste und ging mir eine Cola light holen. Als ich zurückkam, sagte ich: »Das haben Sie auch zu mir gesagt, als ich zum ersten Mal nach Goose Cove gekommen bin. Ich war damals das erste Jahr auf dem College. Sie hatten Zitronenlimonade gemacht und mich gefragt, ob ich welche möchte, und als ich Ja sagte, haben Sie geantwortet, ich soll sie mir aus dem Kühlschrank holen.«

»Das waren schöne Zeiten.«

»Stimmt.«

»Was hat sich seitdem verändert, Marcus?«

»Nichts. Alles und nichts. Wir haben uns alle verändert, die Welt hat sich verändert. Das World Trade Center ist eingestürzt, Amerika ist in den Krieg gezogen … Aber an meiner Achtung vor Ihnen hat sich nichts geändert. Sie sind immer noch mein Lehrmeister, Sie sind immer noch Harry.«

»Auch der Kampf zwischen Lehrer und Schüler hat sich verändert, Marcus.«

»Wir bekämpfen uns doch gar nicht.«

»Doch, das tun wir! Ich habe Sie gelehrt, Bücher zu schreiben, und schauen Sie, was Ihre Bücher machen: Sie schaden mir.«

»Ich wollte Ihnen nie schaden, Harry. Wir werden den Kerl schnappen, der Goose Cove niedergebrannt hat, das verspreche ich Ihnen.«

»Als ob mir das die dreißig Jahre voller Erinnerungen zurückbringen würde, die ich verloren habe! Mein ganzes Leben ist in Rauch aufgegangen! Warum haben Sie diese unsäglichen Dinge über Nola geschrieben?«

Ich antwortete nicht darauf. Wir schwiegen eine Weile. Trotz des trüben Lichts der Wandleuchten fielen ihm die Abschürfungen an meinen Fäusten auf, die ich mir beim Einschlagen auf den Sandsack zugezogen hatte.

»Was ist mit Ihren Händen?«, fragte er. »Haben Sie wieder mit dem Boxen angefangen?«

»Ja.«

»Ihre Handhaltung stimmt nicht. Das war schon immer Ihr Manko. Sie haben einen guten Schlag, aber das erste Glied Ihres Mittelfingers steht zu weit vor, deshalb wird er beim Zuschlagen aufgeschürft.«

»Boxen wir«, schlug ich vor.

»Wenn Sie wollen.«

Wir zogen die Hemden aus und stellten uns mit nacktem Oberkörper auf den verlassenen Parkplatz. Harry war stark abgemagert. Er betrachtete mich einen Moment und sagte dann: »Sie sehen prächtig aus, Marcus. Heiraten Sie endlich, verdammt noch mal! Fangen Sie an zu leben!«

»Erst muss ich die Ermittlungen abschließen.«

»Zum Teufel mit Ihren Ermittlungen!«

Wir stellten uns einander gegenüber auf und machten abwechselnd ein paar Haken: Der eine schlug zu, der andere musste seine Deckung wahren und sich schützen. Harry schlug hart zu.

»Wollen Sie nicht wissen, wer Nola getötet hat?«, fragte ich.

Er hörte abrupt auf. »Wissen Sie es denn?«

»Nein. Aber die Hinweise verdichten sich. Sergeant Gahalowood und ich fahren morgen zu Luther Calebs Schwester nach Portland. Und es gibt noch ein paar Personen in Aurora, die wir befragen müssen.«

»Aurora … Seit ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, habe ich niemanden mehr aus Aurora gesehen. Neulich stand ich eine Weile vor meinem zerstörten Haus. Ein Feuerwehrmann meinte, ich könnte hineingehen. Also habe ich ein paar Sachen herausgeholt und bin zu Fuß hergegangen. Seitdem habe ich mich hier nicht weggerührt. Roth kümmert sich um den Versicherungskram und so weiter. In Aurora kann ich mich nicht mehr blicken lassen. Ich kann den Leuten dort nicht mehr in die Augen sehen und ihnen sagen, dass ich Nola geliebt und für sie ein Buch geschrieben habe. Ich kann mir ja nicht einmal mehr selbst ins Gesicht sehen. Roth hat mir übrigens erzählt, dass Ihr Buch Der Fall Harry Quebert heißen wird.«

»Das ist richtig. In meinem Buch schreibe ich darüber, was für ein schöner Roman Der Ursprung des Übels ist! Ich liebe diesen Roman! Er hat in mir den Wunsch ausgelöst, Schriftsteller zu werden!«

»Sagen Sie das nicht, Marcus!«

»Es ist die Wahrheit! Es ist wahrscheinlich das schönste Buch, das ich je gelesen habe. Sie sind mein Lieblingsschriftsteller!«

»In Gottes Namen, schweigen Sie!«

»Ich will ein Buch schreiben, um Ihres zu verteidigen, Harry. Als ich erfahren habe, dass Sie es für Nola geschrieben haben, war ich zunächst schockiert, das stimmt. Aber dann habe ich es noch einmal gelesen. Es ist ein wunderbares Buch! Sie erzählen alles, vor allem zum Schluss. Sie schreiben über das Leid, das Sie immer niederdrücken wird. Ich kann nicht zulassen, dass die Leute Ihr Buch schlechtmachen, weil dieses Buch mich zu dem gemacht hat, der ich heute bin. Erinnern Sie sich noch an die Sache mit der Zitronenlimonade bei meinem ersten Besuch … Als ich Ihren Kühlschrank geöffnet habe, Ihren leeren Kühlschrank, ist mir klar geworden, wie einsam Sie sind. An jenem Tag habe ich begriffen, dass Der Ursprung des Übels ein Buch über die Einsamkeit ist. Sie haben die Einsamkeit auf einzigartige Weise beschrieben. Sie sind ein großartiger Schriftsteller!«

»Hören Sie schon auf, Marcus!«

»Der Schluss Ihres Buchs ist so schön! Sie entsagen Nola. Sie ist für immer fort, und obwohl Sie das wussten, haben Sie auf sie gewartet … Jetzt, wo ich Ihr Buch wirklich begreife, habe ich nur noch eine Frage, und die betrifft den Titel: Warum haben Sie einem so schönen Buch einen so düsteren Titel gegeben?«

»Das ist kompliziert, Marcus.«

»Ich bin hier, weil ich es verstehen will …«

»Es ist zu kompliziert …«

Wir standen uns wie zwei Krieger in Deckungsposition gegenüber. Schließlich sagte er: »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen verzeihen kann, Marcus …«

»Ich werde Goose Cove wieder aufbauen lassen und alles bezahlen! Mit dem Geld, das ich für mein Buch bekomme, bauen wir Ihnen ein neues Haus! Sie können unsere Freundschaft nicht einfach so wegwerfen!«

Harry fing an zu weinen. »Sie verstehen mich nicht, Marcus. Es hat nichts mit Ihnen zu tun! Sie trifft überhaupt keine Schuld, und trotzdem kann ich Ihnen nicht verzeihen.«

»Was können Sie mir nicht verzeihen?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sie würden es nicht begreifen …«

»Kommen Sie, Harry! Was soll dieses Versteckspiel? Was, verdammt noch mal, ist los?«

Er wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. »Erinnern Sie sich noch an meinen Rat?«, fragte er. »Als Sie noch mein Student waren, habe ich einmal zu Ihnen gesagt: Schreiben Sie nie ein Buch, dessen Ausgang Sie nicht kennen.«

»Ja, ich erinnere mich noch gut. Ich werde es nie vergessen.«

»Wie geht Ihr Buch aus?«

»Es hat ein schönes Ende.«

»Aber sie stirbt doch zum Schluss!«

»Nein, mein Buch endet nicht mit dem Tod der Protagonistin. Es passieren danach noch ein paar schöne Dinge.«

»Zum Beispiel?«

»Der Mann, der dreißig Jahre auf sie gewartet hat, fängt wieder an zu leben.«

Auszüge aus: DER URSPRUNG DES ÜBELS
(letzte Seite)

Als er erkannte, dass nichts jemals möglich wäre und die Hoffnungen nur Lügen waren, schrieb er ihr ein letztes Mal. Nach den Liebesbriefen war nun die Zeit für einen Trauerbrief gekommen. Das musste er akzeptieren. Von nun an würde er einfach nur noch auf sie warten. Sein ganzes Leben lang würde er auf sie warten. Dabei wusste er genau, dass sie nicht zurückkommen würde. Er wusste, dass er sie nicht wiedersehen, sie nicht wiederfinden, sie nie wieder hören würde.

Als er erkannte, dass nichts jemals wieder möglich wäre, schrieb er ihr ein letztes Mal.

Meine Allerliebste,
das ist mein letzter Brief. Das sind meine letzten Worte. Ich schreibe Ihnen, um Adieu zu sagen.

Von heute an wird es kein »wir« mehr geben. Die Liebenden trennen sich und finden nicht mehr zusammen, so enden Liebesgeschichten.

Meine Allerliebste, Sie werden mir fehlen. Sie werden mir so fehlen.

Meine Augen weinen. Alles in mir brennt.

Wir werden uns nie wiedersehen. Sie werden mir so fehlen.

Ich hoffe, dass Sie glücklich werden.

Ich sage mir, dass das zwischen Ihnen und mir ein Traum war und es jetzt Zeit ist aufzuwachen.

Sie werden mir mein Leben lang fehlen.

Adieu. Ich liebe Sie, wie ich nie wieder lieben werde.