Jackson, Alabama, 28. Oktober 2008

Wir landeten in Alabama.

Bei unserer Ankunft am Flughafen von Jackson wurden wir von einem jungen Officer der State Police namens Philip Thomas in Empfang genommen, den Gahalowood ein paar Tage zuvor kontaktiert hatte. Kerzengerade stand er mit tief ins Gesicht gezogener Mütze in seiner Uniform in der Ankunftshalle. Er begrüßte Gahalowood respektvoll, dann sah er mich an und schob die Mütze leicht nach hinten.

»Kenne ich Sie nicht schon irgendwoher?«, fragte er. »Aus dem Fernsehen vielleicht?«

»Schon möglich«, antwortete ich.

»Ich gebe Ihnen einen Tipp«, schaltete sich Gahalowood ein. »Das Buch, über das im Moment alle reden, das ist von ihm. Nehmen Sie sich vor ihm in Acht, er bringt es fertig und richtet ein Chaos an, wie Sie es sich im Traum nicht vorstellen können.«

»Dann sind die Kellergans also dieselben, die Sie in Ihrem Buch beschreiben?«, fragte mich Officer Thomas und versuchte sein Erstaunen zu überspielen.

»Exakt«, antwortete Gahalowood für mich. »Halten Sie sich von diesem Kerl fern, Officer. Ich selbst habe ein friedliches Leben geführt, bis ich ihm begegnet bin.«

Officer Thomas nahm seine Rolle sehr ernst. Auf Gahalowoods Bitte hin hatte er für uns eine kleine Akte über die Kellergans zusammengestellt, die wir in einem Restaurant in Flughafennähe durchgingen.

»David J. Kellergan wurde 1923 in Montgomery geboren«, erklärte uns Thomas. »Er hat dort Theologie studiert, ist dann Pfarrer geworden und nach Jackson gekommen, um die Gemeinde Mt Pleasant zu übernehmen. 1955 hat er Louisa Bonneville geheiratet. Sie haben ein Haus in einem ruhigen Viertel im Norden der Stadt bewohnt. 1960 hat Louisa Kellergan eine Tochter zur Welt gebracht: Nola. Weiter gibt es nichts zu berichten. Eine unauffällige, fromme Familie aus Alabama – bis zu der Tragödie im Jahr 1969.«

»Der Brand?«, fragte Gahalowood.

»Genau. Eines Nachts ist ihr Haus abgebrannt. Louisa Kellergan ist in den Flammen umgekommen.«

Thomas hatte Kopien von den Zeitungsartikeln aus jener Zeit beigelegt.

TÖDLICHES FEUER IN DER LOWER STREET

Gestern Abend kam bei einem Hausbrand in der Lower Street eine Frau ums Leben. Eine brennende Kerze könnte der Feuerwehr zufolge die Ursache für die Tragödie gewesen sein. Das Haus wurde restlos zerstört. Bei dem Opfer handelt es sich um die Ehefrau eines hiesigen Pfarrers.

Aus einem Auszug des Polizeiberichts ging hervor, dass Louisa und Nola in der Nacht zum 30. August 1969 gegen ein Uhr morgens, während Reverend David Kellergan am Sterbebett eines Gemeindemitglieds weilte, im Schlaf von einem Brand überrascht worden waren. Als Reverend Kellergan nach Hause kam, bemerkte er starke Rauchentwicklung. Er stürzte ins Innere: Der erste Stock brannte bereits. Es gelang ihm jedoch, ins Zimmer seiner Tochter vorzudringen. Er fand sie halb bewusstlos in ihrem Bett und trug sie in den Garten, dann wollte er seine Frau herausholen, aber das Feuer hatte mittlerweile auf die Treppe übergegriffen. Von seinen Schreien alarmiert, kamen Nachbarn herbeigelaufen, aber sie konnten nur machtlos zusehen. Bis die Feuerwehr eintraf, hatte bereits der ganze erste Stock Feuer gefangen: Die Flammen schlugen aus den Fenstern und verschlangen den Dachstuhl. Louisa Kellergan wurde später tot geborgen, sie war erstickt. Der Polizeibericht schloss mit den Worten, dass die Vorhänge offenbar an einer brennenden Kerze Feuer gefangen hatten und sich der Brand rasch auf das ganze aus Holz erbaute Haus ausgebreitet hatte. Im Übrigen gab David Kellergan zu Protokoll, dass seine Frau beim Einschlafen oft eine Duftkerze auf der Kommode hatte brennen lassen.

»Das Datum!«, stieß ich hervor, nachdem ich den Bericht gelesen hatte. »Schauen Sie sich das Datum des Brands an, Sergeant!«

»Heiliger Himmel: 30. August 1969!«

»Der Beamte, der die Ermittlungen durchgeführt hat, hatte lange Zeit Zweifel in Bezug auf den Vater«, erklärte Thomas.

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe mit ihm gesprochen. Er heißt Edward Horowitz und ist im Ruhestand. Er verbringt seine Tage damit, vor dem Haus sein Boot aufzuarbeiten.«

»Können wir ihn besuchen?«, wollte Gahalowood wissen.

»Ich habe schon alles arrangiert. Er erwartet uns um drei Uhr.«

Horowitz, der pensionierte Inspektor, schmirgelte vor seinem Haus hingabevoll den Rumpf eines Holzboots ab. Da das Wetter jederzeit umschlagen konnte, hatte er das Garagentor geöffnet, um es als Unterstand zu nutzen. Er lud uns ein, uns ein Bier aus dem Sixpack zu fischen, das aufgerissen auf dem Boden lag, und redete mit uns, ohne seine Arbeit zu unterbrechen, wobei er uns jedoch zu verstehen gab, dass er ganz Ohr war. Er kam auf den Hausbrand bei den Kellergans zu sprechen und wiederholte im Wesentlichen, was wir bereits aus dem Polizeibericht wussten. »Dieser Brand war eine merkwürdige Geschichte«, meinte er zum Schluss.

»Inwiefern?«, fragte ich.

»Wir haben lange geglaubt, dass David Kellergan das Haus angezündet und seine Frau getötet hat. Seine Aussage ließ sich nämlich durch nichts belegen. Er sei wie durch ein Wunder gerade noch rechtzeitig zurückgekommen, um seine Tochter zu retten, aber zu spät für seine Frau. Da lag der Verdacht nahe, dass er den Brand selbst gelegt hatte, zumal er der Stadt ein paar Wochen später den Rücken gekehrt hat. Das Haus brennt ab, seine Frau stirbt, und er verduftet. Irgendetwas an der Geschichte war nicht ganz sauber, aber es gab nie den leisesten Beweis dafür, dass er der Täter war.«

»Im Fall seiner verschwundenen Tochter war es lange genau dasselbe«, stellte Gahalowood fest. »1975 verschwindet Nola von der Bildfläche. Vermutlich wurde sie ermordet, aber es gab keinerlei Hinweis, der diesen Verdacht erhärtet hätte.«

»Was denken Sie, Sergeant?«, wandte ich mich an Gahalowood. »Dass der Reverend zuerst seine Frau und später seine Tochter umgebracht hat? Glauben Sie, wir hatten den Falschen in Verdacht?«

»Falls ja, wäre das eine Katastrophe«, presste Gahalowood hervor. »Wen könnten wir in dieser Sache noch befragen, Mr Horowitz?«

»Hm, schwer zu sagen. Sie könnten es in der Mt-Pleasant-Kirche versuchen. Vielleicht besitzt man dort ein Verzeichnis der Gemeindemitglieder. Einige von ihnen haben Reverend Kellergan noch gekannt. Aber neununddreißig Jahre danach … Das wird Sie eine Menge Zeit kosten.«

»Die haben wir nicht«, fluchte Gahalowood.

»Ich erinnere mich noch, dass David Kellergan ziemlich engen Kontakt zu einer Art Pfingstlersekte hier in der Gegend hatte«, fuhr Horowitz fort. »Religiöse Fanatiker, die eine Stunde Fahrt von hier auf einer Farm in einer Gemeinschaft leben. Der Reverend hat nach dem Brand dort gewohnt. Ich weiß das, weil ich ihn im Rahmen der Ermittlungen dort aufgesucht habe. Er ist bis zu seinem Umzug dort geblieben. Fragen Sie nach Pfarrer Lewis, falls es den noch gibt. Der ist so was wie ihr Guru.«

Der von Horowitz erwähnte Pfarrer Lewis leitete die »Gemeinde der Neuen Erlöserkirche« noch immer. Am nächsten Morgen fuhren wir hin. Officer Thomas holte uns in dem an der Autobahn gelegenen Holiday Inn ab, in dem wir zwei Zimmer gebucht hatten – das eine bezahlte der Staat New Hampshire, das andere ich –, und brachte uns zu einem riesigen Besitz, das zu einem Großteil aus Ackerland bestand. Nachdem wir uns zwischen den Maisfeldern verfahren hatten, begegneten wir einem Mann auf einem Traktor, der uns zu einer Ansammlung von Gebäuden brachte und uns das Haus des Pfarrers zeigte.

Wir wurden liebenswürdig von einer dicken netten Frau empfangen und in ein Büro geführt, in dem sich wenige Minuten später Lewis zu uns gesellte. Ich wusste, dass er schon in den Neunzigern sein musste, aber er wirkte zwanzig Jahre jünger. Er machte einen eher sympathischen Eindruck, ganz anders als in Horowitz’ Beschreibung.

»Polizei?«, fragte er, während er uns nacheinander begrüßte.

»State Police von New Hampshire und Alabama«, erklärte Gahalowood. »Wir ermitteln im Mordfall Nola Kellergan.«

»Ich habe den Eindruck, dass man in letzter Zeit über nichts anderes mehr redet.«

Als er mir die Hand drückte, musterte er mich kurz und fragte dann: »Sie sind nicht …?«

»Doch, ist er«, antwortete Gahalowood genervt.

»Also dann … Was kann ich für Sie tun, meine Herren?«

Gahalowood begann die Befragung. »Pfarrer Lewis, wenn ich mich nicht irre, kannten Sie Nola Kellergan.«

»Ja, das heißt, ich kannte vor allem ihre Eltern gut. Reizende Leute, sie standen unserer Gemeinde sehr nahe.«

»Was ist das für eine Gemeinde?«

»Wir gehören der Pfingstbewegung an, Sergeant, nicht mehr und nicht weniger. Wir haben christliche Ideale und teilen diese. Ja, ich weiß, manche bezeichnen uns als Sekte. Wir bekommen zweimal im Jahr Besuch vom Sozialamt, das überprüft, ob unsere Kinder auch die Schule besuchen, ordentlich ernährt oder misshandelt werden. Außerdem wird kontrolliert, ob wir Waffen besitzen oder weiße Suprematisten sind. Allmählich wird es albern. Unsere Kinder besuchen alle die örtliche Highschool, ich habe in meinem Leben noch nie ein Gewehr besessen und unterstütze in unserem Bezirk aktiv Barack Obamas Wahlkampf. Was genau wollen Sie wissen?«

»Was 1969 passiert ist.«

»Apollo 11 ist auf dem Mond gelandet«, antwortete Lewis. »Ein entscheidender Sieg Amerikas über den russischen Feind.«

»Sie wissen genau, was ich meine, nämlich den Brand bei den Kellergans. Was ist damals wirklich passiert?«

Obwohl ich noch kein einziges Wort gesagt hatte, betrachtete Lewis mich lange und wandte sich dann an mich: »Ich habe Sie in letzter Zeit oft im Fernsehen gesehen, Mr Goldman. Ich halte Sie für einen guten Schriftsteller, aber warum haben Sie sich nicht über Louisa Kellergan erkundigt? Ich könnte mir vorstellen, dass Sie deshalb hier sind. Habe ich recht? Ihr Buch hat weder Hand noch Fuß, und jetzt herrscht – um einen recht profanen Ausdruck zu gebrauchen – Panik an Bord. Liege ich richtig? Was suchen Sie hier? Eine Rechtfertigung für Ihre Lügen?«

»Die Wahrheit«, entgegnete ich.

Er lächelte betrübt. »Die Wahrheit? Welche, Mr Goldman? Die Wahrheit Gottes oder die der Menschen?«

»Ihre. Wie lautet Ihre Wahrheit über den Tod von Louisa Kellergan? Hat David Kellergan seine Frau getötet?«

Pfarrer Lewis erhob sich aus seinem Sessel und schloss die Tür zu seinem Büro. Dann stellte er sich ans Fenster und blickte nach draußen. Die Szene erinnerte mich an unseren Besuch bei Chief Pratt. Gahalowood gab mir mit einem Wink zu verstehen, dass er wieder das Ruder übernahm.

»David war so ein guter Mann«, sagte Lewis schließlich leise.

»War?«, hakte Gahalowood nach.

»Ich habe ihn seit neununddreißig Jahren nicht gesehen.«

»Hat er seine Tochter geschlagen?«

»Niemals! Er hatte ein reines Herz und war ein Mann des Glaubens. Als er in Mt Pleasant anfing, waren die Bankreihen leer. Ein halbes Jahr später war die Kirche jeden Sonntagmorgen brechend voll. Er hätte seiner Frau oder Tochter nie etwas antun können.«

»Was waren sie für Menschen?«, fragte Gahalowood sanft. »Wer waren die Kellergans?«

Pfarrer Lewis rief nach seiner Frau und bestellte Tee mit Honig für alle. Dann setzte er sich wieder in seinen Sessel und sah uns der Reihe nach an. Sein Blick war mild, seine Stimme warm. Er forderte uns auf: »Schließen Sie die Augen, meine Herren. Wir befinden uns jetzt im Jahr 1953 in Jackson, Alabama.«

Jackson, Alabama, Januar 1953

Es war eine Geschichte, wie Amerika sie liebt. Eines Tages zu Beginn des Jahres 1953 betrat ein junger Pfarrer aus Montgomery die baufällige Mt-Pleasant-Kirche im Stadtzentrum von Jackson. Es war ein stürmischer Tag: Vom Himmel ergossen sich Sturzbäche, Böen von ungewohnter Heftigkeit fegten durch die Straßen, die Bäume schwankten, Zeitungen, die ein Windstoß einem unter die Markise eines Ladens geflüchteten Straßenverkäufer entrissen hatte, wirbelten durch die Luft, und die Passanten kämpften sich durch das Unwetter, indem sie von Unterstand zu Unterstand hasteten.

Der Pfarrer stieß die Tür zum Gotteshaus auf, die der Wind sofort krachend hinter ihm zuwarf. Im Innern war es düster und eiskalt. Langsam schritt er die Bankreihen ab. Durch das undichte Dach tropfte der Regen und bildete vereinzelte Pfützen auf dem Boden. Die Kirche war wie ausgestorben, nicht ein Gläubiger war zu sehen, und auch sonst gab es nur wenige Anzeichen dafür, dass sie noch genutzt wurde. Anstelle der Kerzen fanden sich nur ein paar kümmerliche Wachsrückstände. Er ging auf den Altar zu, und als er die Kanzel erblickte, setzte er den Fuß auf die unterste Holzstufe, um hinaufzusteigen.

»Tun Sie das nicht!«

Die Stimme, die aus dem Nichts erklang, ließ ihn zusammenfahren. Er drehte sich um und sah einen kleinen rundlichen Mann aus dem Dunkel auftauchen.

»Tun Sie das nicht«, wiederholte er. »Die Treppe ist wurmzerfressen, Sie könnten sich den Hals brechen. Sie sind Reverend Kellergan, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete David beklommen.

»Willkommen in Ihrer neuen Kirche, Reverend. Ich bin Pastor Jeremy Lewis und leite die Gemeinde der Neuen Erlöserkirche. Als Ihr Vorgänger uns verlassen hat, hat man mich gebeten, mich einstweilen um Mt Pleasant zu kümmern. Jetzt gehört sie Ihnen.«

Die beiden Männer schüttelten sich herzlich die Hände. David Kellergan schlotterte vor Kälte.

»Sie zittern ja!«, stellte Lewis fest. »Sie sind sicher halb erfroren! Kommen Sie, an der Straßenecke gibt es ein Café. Dort trinken wir einen heißen Grog und plaudern ein bisschen.«

So lernten sich Jeremy Lewis und David Kellergan kennen. Sie setzten sich in das Café und warteten, bis das Unwetter vorbei war.

»Man hatte mir zwar gesagt, dass es nicht gut um Mt Pleasant steht«, meinte David Kellergan mit einem leicht fassungslosen Lächeln, »aber ich muss gestehen, das hatte ich nicht erwartet.«

»Ja. Ich kann Ihnen nicht verhehlen, dass sich die Gemeinde, die Sie übernehmen, in einem beklagenswerten Zustand befindet. Die Leute kommen nicht mehr in die Kirche, und sie spenden auch nichts mehr. Das Gebäude selbst ist eine Ruine. Es gibt jede Menge zu tun. Ich hoffe, das schreckt Sie nicht ab.«

»Mich erschreckt so schnell nichts, Reverend Lewis.«

Lewis lächelte. Die Persönlichkeit und Ausstrahlung seines Gegenübers hatte es ihm angetan. »Sind Sie verheiratet?«, fragte er.

»Nein, Reverend Lewis. Ich bin noch Junggeselle.«

Der neue Pfarrer von Mt Pleasant zog sechs Monate lang in seiner Gemeinde von Tür zu Tür, um sich den Gläubigen vorzustellen und sie zu überreden, sonntags wieder den Gottesdienst zu besuchen. Anschließend trieb er die erforderlichen Mittel für die Reparatur des Kirchendachs auf, und da er nicht im Koreakrieg gedient hatte, leistete er seinen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen, indem er ein Programm zur Wiedereingliederung von Veteranen auf die Beine stellte. Manche von ihnen melden sich daraufhin freiwillig zur Instandsetzung des angrenzenden Gemeindesaals. Nach und nach kam wieder Leben in die Pfarrei, die Mt-Pleasant-Kirche erstrahlte in neuem Glanz, und schon bald galt David Kellergan als aufsteigender Stern von Jackson. Einige Honoratioren und Gemeindemitglieder sahen ihn bereits in der Politik. Sie glaubten, er könne es in den Magistrat schaffen. Und später vielleicht ein Bundesmandat anvisieren. Als Senator, wer weiß. Das Potenzial hatte er.

Eines Abends zu Beginn des Jahres 1953 ging David Kellergan in einem kleinen Restaurant unweit der Kirche essen. Er setzte sich an den Tresen, wie er es häufig tat. Plötzlich drehte sich neben ihm eine junge Frau um, die er nicht bemerkt hatte, und als sie ihn erkannte, sagte sie lächelnd: »Guten Abend, Reverend.«

Leicht verlegen erwiderte er das Lächeln. »Entschuldigen Sie, Miss, aber kennen wir uns?«

Sie lachte, und ihre blonden Locken hüpften. »Ich bin ein Mitglied Ihrer Gemeinde. Ich heiße Louisa. Louisa Bonneville.«

Er errötete vor Peinlichkeit darüber, dass er sie nicht erkannt hatte, und da musste sie erst recht lachen. Um die Fassung zu bewahren, zündete er sich eine Zigarette an.

»Bekomme ich auch eine?«, fragte sie.

Er reichte ihr sein Päckchen.

»Sie werden doch niemandem erzählen, dass ich rauche, oder, Reverend?«, fragte Louisa.

Er grinste. »Versprochen.«

Louisa war die Tochter eines hoch angesehenen Gemeindemitglieds. David und sie trafen sich von da an öfter und verliebten sich schon bald ineinander. Alle fanden, dass sie ein wundervolles, freudestrahlendes Paar abgaben. Im Sommer 1955 heirateten sie. Sie waren überglücklich und wünschten sich viele Kinder, mindestens sechs, drei Jungen und drei Mädchen, fröhliche, lachende Kinder, die das Haus in der Lower Street, welches das junge Paar vor Kurzem bezogen hatte, mit Leben erfüllten. Aber Louisa wollte einfach nicht schwanger werden. Sie konsultierte mehrere Spezialisten, anfangs ohne Erfolg. Im Sommer 1959 endlich verkündete ihr Arzt ihr die frohe Botschaft: Sie erwartete ein Baby.

Am 12. April 1960 brachte Louisa Kellergan im städtischen Krankenhaus von Jackson ihr erstes und einziges Kind zur Welt.

»Es ist ein Mädchen«, informierte der Arzt David Kellergan, der auf dem Korridor auf und ab marschiert war.

»Ein Mädchen!«, rief Reverend Kellergan glückstrahlend. Er eilte zu seiner Frau, die das Neugeborene in den Armen hielt. Er umarmte sie und betrachtete das Baby mit den noch geschlossenen Augen. Das blonde Haar der Mutter war bereits zu erahnen.

»Wie wäre es, wenn wir sie Nola nennen?«, schlug Louisa vor.

Der Reverend fand diesen Vornamen sehr schön und nickte.

»Willkommen, Nola«, begrüßte er seine Tochter.

In den folgenden Jahren wurden die Kellergans bei jeder Gelegenheit als Vorbild zitiert: der gütige Vater, die sanftmütige Mutter und ihre wunderbare Tochter. David Kellergan verausgabte sich: Er sprühte nur so vor Ideen und Plänen, bei denen ihn seine Frau stets tatkräftig unterstützte. Aus Freundschaft zu Pfarrer Jeremy Lewis, mit dem David Kellergan seit ihrer ersten Begegnung an jenem stürmischen Tag vor knapp zehn Jahren engen Kontakt gehalten hatte, fuhren sie im Sommer sonntags oft zum Picknick in die Gemeinde der Neuen Erlöserkirche. Die Menschen, die sie damals kannten, sprachen alle bewundernd über die glückliche Familie Kellergan.

»Ich bin nie Menschen begegnet, die glücklicher wirkten als sie«, erzählte uns Pfarrer Lewis. »David und Louisa liebten sich abgöttisch – als hätte der Herr sie füreinander bestimmt. Und sie waren großartige Eltern. Nola war ein ganz besonderes kleines Mädchen, so lebhaft und goldig. Diese Familie machte einem Lust, selbst eine Familie zu gründen, und ließ einen an die Menschheit glauben. Es war eine Freude, sie zu erleben, vor allem in den finsteren 1960er-Jahren, als Alabama von den Rassenunruhen gebeutelt wurde.«

»Aber dann kam alles anders«, wagte sich Gahalowood vor.

»Ja.«

»Inwiefern?«

Langes Schweigen. Pfarrer Lewis’ Gesicht wirkte plötzlich eingefallen. Wieder stand er auf, weil er nicht ruhig sitzen konnte, und ging im Zimmer auf und ab. »Warum müssen wir das wieder ausgragen?«, klagte er. »Es ist so lange her …«

»Reverend Lewis: Was ist 1969 passiert?«

Der Pfarrer drehte sich zu einem großen Kreuz an der Wand um und sagte: »Wir haben ihr den Teufel ausgetrieben. Aber es ist nicht vollständig gelungen.«

»Was?«, stieß Gahalowood hervor. »Was reden Sie da?«

»Wir haben die kleine Nola exorziert. Aber es war ein Misserfolg. Ich glaube, in ihr steckte einfach zu viel Böses.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Der Brand … Die Brandnacht … Die Dinge in jener Nacht haben sich anders zugetragen, als David Kellergan der Polizei erzählt hat. Er war tatsächlich am Sterbebett einer Frau aus der Gemeinde. Als er gegen ein Uhr morgens nach Hause kam, stand das Haus in Flammen. Aber … Wie soll ich sagen … Es hat sich anders abgespielt, als David Kellergan es der Polizei erzählt hat.«

30. August 1969

Jeremy Lewis schlief so fest, dass er das Klingeln an der Tür nicht hörte. Seine Frau Matilda ging öffnen und kam sofort zurück, um ihn zu wecken. Es war vier Uhr morgens. »Jeremy, wach auf!«, sagte sie mit Tränen in den Augen. »Es ist etwas Schreckliches passiert … Reverend Kellergan ist hier … Es hat gebrannt. Louisa ist … umgekommen.«

Lewis sprang mit einem Satz aus dem Bett. Er fand den Reverend verstört und in sich zusammengesunken im Wohnzimmer. Er weinte. Seine Tochter saß neben ihm. Matilda nahm Nola mit, um sie im Gästezimmer ins Bett zu bringen.

»Gütiger Gott, David! Was ist passiert?«, fragte Lewis.

»Es hat gebrannt … Das Haus ist abgebrannt. Louisa ist tot. Sie ist tot!« David Kellergan konnte nicht länger an sich halten. Er brach in seinem Sessel zusammen und ließ den Tränen freien Lauf. Er zitterte am ganzen Körper. Jeremy Lewis schenkte ihm ein großes Glas Whisky ein.

»Und Nola? Ist sie unversehrt?«, erkundigte er sich.

»Ja, dem Herrn sei Dank. Die Ärzte haben sie untersucht. Ihr fehlt nichts.«

Auch Jeremy Lewis stiegen die Tränen in die Augen: »Mein Gott, David … Was für eine Tragödie! Was für eine Tragödie!« Er legte seinem Freund die Hände auf die Schultern, um ihn zu trösten.

»Ich weiß nicht, wie das passieren konnte, Jeremy. Ich war am Sterbebett einer Frau aus der Gemeinde. Als ich zurückkam, brannte das Haus. Die Flammen waren schon riesengroß.«

»Haben Sie Nola herausgeholt?«

»Jeremy … Ich muss mit Ihnen etwas besprechen.«

»Was denn? Sie können mir alles sagen, ich bin für Sie da!«

»Jeremy … Als ich heimkam, stand das Haus in Flammen … Der ganze erste Stock hatte Feuer gefangen! Ich wollte nach oben gehen, um meine Frau zu retten, aber die Treppe brannte bereits. Ich konnte nichts tun! Nichts!«

»Du lieber Himmel … Und was war mit Nola?«

David Kellergan würgte, dann keuchte er: »Der Polizei habe ich erzählt, dass ich nach oben gegangen bin und Nola aus dem Haus geholt habe, aber dass ich nicht noch einmal hineingehen konnte, um meine Frau zu retten …«

»Und? Stimmt das nicht?«

»Nein, Jeremy. Als ich heimkam, brannte das Haus lichterloh. Und Nola … Nola stand auf der Veranda und sang.«

Am nächsten Morgen ging David Kellergan zu seiner Tochter ins Gästezimmer, um mit ihr zu reden. Er wollte ihr begreiflich machen, dass ihre Mutter tot war. »Mein Schatz«, sagte er zu ihr, »erinnerst du dich an gestern Abend? Da war dieses Feuer, weißt du noch?«

»Ja.«

»Es ist etwas sehr Schlimmes passiert. Etwas sehr Schlimmes und sehr Trauriges, das dir großen Kummer bereiten wird. Mama war in ihrem Zimmer, als das Feuer ausgebrochen ist, und sie konnte nicht weglaufen.«

»Ja, ich weiß. Mama ist tot«, erklärte Nola. »Sie war böse. Darum habe ich ihr Zimmer angezündet.«

»Was? Was erzählst du da?«

»Ich bin in ihr Zimmer gegangen, als sie geschlafen hat. Sie sah böse aus. Böse Mama! Ich wollte, dass sie stirbt. Darum habe ich die Streichhölzer von der Kommode genommen und die Vorhänge angezündet.«

Nola strahlte ihren Vater an. Er bat sie, ihre Worte zu wiederholen, was Nola tat. In diesem Augenblick hörte er den Fußboden knarren und drehte sich um: Pfarrer Lewis, der gekommen war, um sich nach der Kleinen zu erkundigen, hatte alles mitangehört.

Sie zogen sich in sein Büro zurück.

»Nola hat das Haus angezündet? Nola hat ihre Mutter getötet?«, rief Lewis entgeistert.

»Scht! Nicht so laut, Jeremy! Sie … Sie hat gesagt, dass sie das Haus angezündet hat, aber das darf doch nicht wahr sein, Herrgott noch mal!«

»Ist Nola von Dämonen besessen?«, fragte Lewis.

»Von Dämonen besessen? Nein, nein! Ihrer Mutter und mir ist sie manchmal ein bisschen merkwürdig vorgekommen, aber das war nie weiter schlimm.«

»Nola hat ihre Mutter auf dem Gewissen, David! Sind Sie sich darüber im Klaren, wie ernst die Situation ist?«

David Kellergan zitterte. Er weinte. In seinem Kopf drehte sich alles, er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er musste sich übergeben, und Jeremy Lewis reichte ihm einen Papierkorb, damit er sich erleichtern konnte.

»Bitte sagen Sie der Polizei nichts, Jeremy, ich flehe Sie an!«

»Aber die Sache ist sehr ernst, David!«

»Bitte sagen Sie nichts! Um Himmels willen, sagen Sie nichts. Wenn die Polizei das erfährt, kommt Nola ins Gefängnis oder wer weiß wohin. Sie ist doch erst neun!«

»Dann müssen wir uns um sie kümmern«, beschloss Lewis. »Nola ist von bösen Geistern besessen, wir müssen sie heilen.«

»Nein, Jeremy! Bitte nicht!«

»Wir müssen ihr den Teufel austreiben, David. Es ist die einzige Möglichkeit, sie vom Bösen zu befreien.«

»Ich habe ihr den Teufel ausgetrieben«, erklärte uns Pfarrer Lewis. »Wir haben mehrere Tage lang versucht, den Dämon aus ihrem Körper zu verjagen.«

»Was ist das für ein Wahnsinn?«, sagte ich leise.

»Also wirklich!«, erregte sich Lewis. »Warum sind Sie so skeptisch? Nola war nicht mehr sie selbst: Der Teufel hatte Besitz von ihrem Leib ergriffen!«

»Was haben Sie mit ihr angestellt?«, fragte Gahalowood mit dröhnender Stimme.

»Normalerweise reichen Gebete aus, Sergeant!«

»Lassen Sie mich raten: Bei ihr haben sie nicht gereicht!«

»Der Teufel war stark! Also haben wir ihren Kopf in einen Kübel mit Weihwasser getaucht, um ihm beizukommen.«

»Simuliertes Ertränken«, bemerkte ich.

»Aber auch das hat nicht gereicht. Deshalb haben wir sie geschlagen, um den Dämon zu bezwingen und aus ihrem Körper zu vertreiben.«

»Sie haben die Kleine geschlagen?«, polterte Gahalowood los.

»Nein, nicht die Kleine: den Leibhaftigen!«

»Sie sind ja verrückt, Lewis!«

»Wir mussten sie erlösen! Und wir dachten, es wäre uns geglückt. Aber dann hat Nola diese Zustände bekommen. Sie und ihr Vater haben eine Weile bei uns gewohnt, und die Kleine wurde unberechenbar. Ihre Mutter ist ihr erschienen.«

»Wollen Sie damit sagen, Nola hatte Halluzinationen?«, fragte Gahalowood.

»Schlimmer: Sie hat eine Art Persönlichkeitsspaltung entwickelt. Manchmal ist sie in die Rolle ihrer Mutter geschlüpft und hat sich für das bestraft, was sie getan hatte. Einmal habe ich miterlebt, wie sie im Bad geschrien hat. Sie hatte die Wanne gefüllt, ihren Kopf mit einer Hand an den Haaren gepackt und ins eiskalte Wasser gedrückt. So konnte es nicht weitergehen. Deshalb hat David beschlossen wegzuziehen, und zwar ganz weit weg. Er hat gesagt, dass er aus Jackson, aus Alabama fortmüsse und dass der räumliche und zeitliche Abstand Nola bestimmt helfen würde. Ich hatte damals gehört, dass die Gemeinde von Aurora einen Pfarrer suchte, und er hat nicht eine Sekunde gezögert. So kam es, dass er sich ans andere Ende des Landes nach New Hampshire abgesetzt hat.«