Mein Buch machte Fortschritte. Ich verbrachte immer mehr Stunden schreibend, und ich spürte, wie dieses unvergleichliche Gefühl zurückkehrte, das ich für immer verloren geglaubt hatte. Es war, als würde ich endlich einen lebenswichtigen Sinn zurückerlangen, ohne den ich, solange der mich im Stich gelassen hatte, unter einer Funktionsstörung gelitten hatte. Es war, als hätte jemand auf einen Knopf in meinem Gehirn gedrückt und es wieder eingeschaltet; als würde ich wieder leben. So fühlte es sich an, ein Schriftsteller zu sein.

Meine Tage begannen, noch bevor es hell wurde: Die Kopfhörer meines Minidisc-Players im Ohr, lief ich einmal quer durch Concord. Zurück im Hotelzimmer, bestellte ich mindestens einen Liter Kaffee und machte mich an die Arbeit. Dabei konnte ich wieder auf die Hilfe von Denise zählen, die ich mir von Schmid & Hanson zurückgeholt hatte und die gerne wieder in dem Büro auf der Fifth Avenue für mich arbeiten wollte. Per Mail schickte ich ihr Zug um Zug die Seiten, die ich geschrieben hatte, und sie las sie Korrektur. Sobald ein Kapitel fertig war, schickte ich es Douglas, um seine Meinung einzuholen. Es war witzig, wie sehr er diesem Buch entgegenfieberte. Ich wusste, dass er buchstäblich an seinem Computer klebte und auf das nächste Kapitel wartete. Auch versäumte er es nicht, mich immer wieder an den bevorstehenden Abgabetermin zu erinnern, und wiederholte ein ums andere Mal: »Wenn wir nicht rechtzeitig fertig werden, sind wir erledigt!« Er sagte »wir«, obwohl er in der Sache eigentlich nichts riskierte, aber er fühlte sich genauso betroffen wie ich.

Ich glaube, Douglas wurde von Barnaski sehr unter Druck gesetzt und versuchte, diesen Druck von mir fernzuhalten. Barnaski fürchtete, dass ich es ohne fremde Hilfe nicht schaffen würde, den Termin einzuhalten. Er hatte mich deshalb bereits wiederholt angerufen.

»Sie müssen Ghostwriter einschalten, die das Buch für Sie schreiben«, hatte er gesagt, »sonst schaffen Sie es nie. Ich habe Teams an der Hand, die in solchen Fällen einspringen. Sie geben die groben Linien vor, und die legen los.«

»Nie im Leben!«, hatte ich erwidert. »Es ist meine Pflicht, dieses Buch zu schreiben. Niemand wird das für mich erledigen.«

»Ach, Goldman, Sie sind wirklich nicht auszuhalten mit Ihrem Anstand und Ihren guten Vorsätzen! Einfach jeder lässt Bücher heute von anderen schreiben. Selbst Soundso lehnt meine Teams nie ab.«

»Soundso schreibt seine Bücher nicht selbst?«

Er hatte sein typisches dämliches Lachen ausgestoßen. »Natürlich nicht! Wie zum Teufel sollte er sonst diesen Rhythmus durchhalten? Die Leser wollen nicht wissen, wie Soundso seine Bücher schreibt oder wer sie schreibt. Alles, was sie wollen, ist jedes Jahr zum Sommeranfang ein neues Buch von Soundso für ihren Urlaub. Und das geben wir ihnen. Das nennt man geschäftstüchtig.«

»Das nennt man Täuschung der Öffentlichkeit«, hielt ich dagegen.

»Täuschung der Öffentlichkeit … Tsss, Goldman, Sie haben wirklich einen Hang zum Dramatisieren.«

Als ich ihm klargemacht hatte, dass es nicht infrage kam, dass jemand anderer als ich dieses Buch schrieb, war er ausfallend geworden. »Goldman, wenn ich mich recht erinnere, habe ich Ihnen für dieses verdammte Buch eine Million Dollar überwiesen, und deshalb erwarte ich, dass Sie sich ein wenig kooperativ zeigen. Wenn ich denke, dass Sie meine Autoren brauchen, dann werden wir sie auch einsetzen, verfluchte Scheiße!«

»Immer mit der Ruhe, Roy! Sie kriegen das Buch rechtzeitig, aber nur, wenn Sie aufhören, mich mit Ihren ständigen Anrufen von der Arbeit abzuhalten!«

Jetzt war Barnaski regelrecht ordinär geworden: »Herrgott noch mal, Goldman, hoffentlich ist Ihnen klar, dass ich für dieses Buch meinen Arsch riskiere! Jawohl, meinen Arsch! Ich habe eine Menge Kohle investiert und die Glaubwürdigkeit eines der größten Verlage dieses Landes aufs Spiel gesetzt. Wenn die Sache schiefläuft, wenn es wegen einer Ihrer Launen oder was für einer Scheiße auch immer kein Buch geben und ich untergehen sollte, dann nehme ich Sie mit, darauf können Sie sich verlassen! Und zwar nach ganz unten!«

»Schon gut, Roy. Ich schreibe es mir hinter die Ohren.«

Von seinen menschlichen Schwächen abgesehen, besaß Barnaski ein angeborenes Marketingtalent: Mein Buch war schon jetzt das Buch des Jahres, obwohl die Werbung mit großformatigen Plakaten auf den Fassaden von New York gerade erst begonnen hatte. Kurz nach dem Brand in Goose Cove hatte er eine aufsehenerregende Erklärung abgegeben. Er hatte gesagt: »Irgendwo in Amerika versteckt sich ein Schriftsteller, der die Wahrheit über die Geschehnisse von 1975 in Aurora ans Licht bringen will. Und weil die Wahrheit unbequem ist, gibt es da draußen jemanden, der ihn um jeden Preis zum Schweigen bringen will.« Am nächsten Tag hatte die New York Times einen Artikel Wer will Marcus Goldman ans Leder? betitelt.

Meine Mutter hatte das natürlich gelesen und mich sofort angerufen. »Wo um Himmels willen steckst du, Markie?«

»In Concord, im Regent’s. Suite 208.«

»Sei bloß still!«, hatte sie geschrien. »Ich will es gar nicht wissen!«

»Aber, Mama, du hast mich doch gerade danach gefr–«

»Wenn du es mir sagst, verplappere ich mich bestimmt beim Metzger, und der sagt es dann seinem Gehilfen, und der erzählt es seiner Mutter, und die ist keine andere als die Cousine des Hausmeisters der Felton Highschool und bindet es ihm bestimmt auf die Nase, und der Halunke erzählt es dann brühwarm dem Schulleiter, und der redet im Lehrerzimmer darüber, und bald weiß ganz Montclair, dass mein Sohn in Concord im Regent’s in der Suite 208 wohnt, und dann kommt dieser Kerl, der dir ans Leder will, und schneidet dir im Schlaf die Kehle durch … Warum eigentlich eine Suite? Hast du etwa eine Freundin? Wirst du heiraten?«

Sie hatte meinen Vater gerufen. Ich hatte sie schreien hören: »Nelson, komm ans Telefon, und hör dir das an! Markie wird heiraten!«

»Mama, ich werde nicht heiraten. Ich bin ganz allein in meiner Suite.«

Gahalowood, der bei mir im Zimmer war und sich gerade ein reichhaltiges Frühstück servieren ließ, hatte nichts Besseres zu tun, als laut zu rufen: »He! Ich bin schließlich hier!«

»Wer war das?«, fragte meine Mutter sofort.

»Niemand.«

»Von wegen niemand! Ich habe eine Männerstimme gehört. Marcus, ich werde dir jetzt eine äußerst wichtige medizinische Frage stellen, und du musst der Person, die dich neun Monate lang in ihrem Bauch ausgetragen hat, eine ehrliche Antwort geben: Hältst du in deinem Zimmer heimlich einen homosexuellen Mann versteckt?«

»Nein, Mama. Sergeant Gahalowood ist hier, er ist Polizist. Er ermittelt zusammen mit mir. Außerdem legt er es darauf an, meine Rechnung für den Zimmerservice in astronomische Höhen zu treiben.«

»Ist er nackt?«

»Was? Natürlich nicht! Er ist Polizist, Mama! Wir arbeiten zusammen.«

»So, so, ein Polizist … Weißt du, ich lebe nicht hinter dem Mond. Da gibt es doch diese Band, diese Kerle, die zusammen singen: ein Motorradfahrer ganz in Leder, ein Klempner, ein Indianer und ein Polizist …«

»Mama, das hier ist ein echter Polizeibeamter.«

»Markie, im Namen deiner Ahnen, die vor den Pogromen fliehen mussten: Wenn du deine Mama liebst, wirf diesen nackten Mann aus dem Zimmer.«

»Ich werde niemanden hinauswerfen, Mama.«

»Ach, Markie, warum rufst du mich an, wenn du mir nur Kummer machen willst?«

»Du hast mich angerufen, Mama.«

»Weil dein Vater und ich Angst vor diesem verrückten Verbrecher haben, der hinter dir her ist.«

»Niemand ist hinter mir her. Die Zeitungen übertreiben.«

»Ich schaue jeden Morgen und jeden Abend in den Briefkasten.«

»Warum?«

»Warum? Er fragt mich, warum? Na, wegen einer Bombe!«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand eine Bombe bei euch legt, Mama.«

»Eine Bombe wird uns töten! Und das, ohne die Freude erlebt zu haben, Großeltern zu sein! Na? Bist du jetzt zufrieden? Stell dir vor, neulich wurde dein Vater von einem großen schwarzen Wagen bis vors Haus verfolgt. Papa ist schnell hineingegangen, und der Wagen hat gleich nebenan auf der Straße geparkt.«

»Habt ihr die Polizei gerufen?«

»Selbstverständlich. Zwei Polizeiautos kamen mit heulenden Sirenen angerast.«

»Und?«

»Es waren die Nachbarn. Diese Halunken hatten sich ein neues Auto gekauft! Ohne uns was zu sagen! Ein neues Auto, tsss …! Da reden alle davon, dass wir auf eine gewaltige Wirtschaftskrise zusteuern, und die schaffen sich ein neues Auto an! Wenn das nicht verdächtig ist! Ich glaube, der Mann ist in Drogengeschäfte oder so was in der Art verwickelt.«

»Mama, was redest du für einen Schwachsinn?«

»Ich weiß, wovon ich rede! Und sprich nicht so mit deiner armen Mutter, die jeden Augenblick einem Bombenattentat zum Opfer fallen kann! Wie weit bist du eigentlich mit deinem Buch?«

»Ich komme sehr gut voran. In vier Wochen muss ich es fertig haben.«

»Und wie geht es aus? Vielleicht will dich der Kerl umbringen, der die Kleine getötet hat.«

»Das ist mein einziges Problem: Ich weiß immer noch nicht, wie das Buch endet.«

Am Montag, den 21. Juli, kreuzte Gahalowood nachmittags in meiner Suite auf, als ich gerade das Kapitel schrieb, in dem Nola und Harry beschließen, gemeinsam nach Kanada zu gehen. Er befand sich in einem Zustand gesteigerter Erregung und genehmigte sich erst einmal ein Bier aus der Minibar. »Ich war bei Elijah Stern«, verkündete er.

»Bei Stern? Ohne mich?«

»Ich möchte Sie daran erinnern, dass Stern Klage gegen Ihr Buch eingereicht hat. Kurzum, ich bin gekommen, um Ihnen zu erzählen …« Gahalowood berichtete, dass er unangemeldet bei Stern erschienen war, damit es nicht wie ein offizieller Besuch aussah, und dass ihm Sterns Anwalt Bo Sylford, ein Starverteidiger aus Boston, in Sportsachen verschwitzt die Tür geöffnet und gesagt hatte: »Geben Sie mir fünf Minuten, Sergeant. Ich gehe nur schnell duschen, dann bin ich für Sie da.«

»Duschen?«, fragte ich.

»Wenn ich es Ihnen doch sage, Schriftsteller! Dieser Sylford ist halb nackt in der Eingangshalle herumspaziert. Ich habe in einem kleinen Salon gewartet, und kurz darauf ist er zurückgekommen, diesmal im Anzug und in Begleitung von Stern, der zu mir gesagt hat: ›Nun, Sergeant, meinen Lebensgefährten haben Sie ja bereits kennengelernt.‹«

»Seinen Lebensgefährten?«, wiederholte ich. »Wollen Sie damit sagen, dass Stern …«

»… homosexuell ist, ja. Was bedeutet, dass er sich wahrscheinlich nie auch nur im Geringsten zu Nola Kellergan hingezogen gefühlt hat.«

»Und was heißt das jetzt?«, fragte ich.

»Diese Frage habe ich ihm auch gestellt. Es war ein ziemlich offenes Gespräch.«

Stern hatte ihm gesagt, dass er über mein Buch sehr verärgert sei. Er war der Ansicht, dass ich nicht wisse, wovon ich redete. Gahalowood hatte den Ball aufgenommen und ihm vorgeschlagen, doch ein wenig Licht in die Ermittlungen zu bringen.

»Mr Stern«, hatte er gesagt, »können Sie mir vor dem Hintergrund dessen, was ich soeben über Ihre sexuelle … Präferenz erfahren habe, beschreiben, was für eine Art Verhältnis zwischen Nola und Ihnen bestand?«

»Das habe ich Ihnen von Anfang an gesagt«, hatte Stern, ohne mit der Wimper zu zucken, geantwortet. »Es war ein Arbeitsverhältnis.«

»Ein Arbeitsverhältnis?«

»Das nennt man so, wenn jemand etwas für Sie macht und Sie ihn dafür bezahlen, Sergeant. Im fraglichen Fall posierte sie.«

»Nola Kellergan kam also wirklich hierher, um für Sie zu posieren?«

»Ja, aber nicht für mich.«

»Nicht für Sie? Für wen dann?«

»Für Luther Caleb.«

»Für Luther? Warum?«

»Damit er seinen Spaß hatte.«

Die Szene, die Stern anschließend schilderte, hatte sich an einem Abend im Juli 1975 abgespielt. An das genaue Datum konnte sich Stern nicht mehr erinnern, aber es war gegen Ende des Monats gewesen. Ein Abgleich mit meinen anderen Informationen ließ darauf schließen, dass es kurz vor der Abreise nach Martha’s Vineyard gewesen sein musste.

Concord, Ende Juli 1975

Es war schon spät. Stern und Luther waren allein zu Hause und spielten auf der Terrasse Schach. Plötzlich klingelte es an der Haustür, und sie fragten sich, wer das um diese Uhrzeit wohl sein konnte. Luther ging öffnen. Kurz darauf kehrte er in Begleitung eines bezaubernden blonden Mädchens mit rot geweinten Augen auf die Terrasse zurück. Nola.

»Guten Abend, Mr Stern«, sagte sie schüchtern. »Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie so überfalle. Ich heiße Nola Kellergan und bin die Tochter des Pfarrers von Aurora.«

»Aurora? Du bist den weiten Weg von Aurora hierhergekommen?«, fragte er. »Wie hast du das gemacht?«

»Ich bin per Anhalter gefahren, Mr Stern. Ich muss Sie unbedingt sprechen.«

»Kennen wir uns?«

»Nein, Sir. Aber ich habe ein äußerst wichtiges Anliegen.«

Stern betrachtete die zierliche junge Frau mit den sprühenden, aber auch traurigen Augen, die zu so später Stunde wegen eines äußerst wichtigen Anliegens zu ihm kam. Er ließ sie in einem bequemen Sessel Platz nehmen, und Caleb brachte ihr ein Glas Limonade und ein paar Kekse.

»Ich höre«, sagte er fast ein wenig amüsiert, nachdem sie die Limonade in einem Zug ausgetrunken hatte. »Was möchtest du mich denn so Wichtiges fragen?«

»Ich bitte Sie nochmals um Entschuldigung, dass ich Sie um diese Uhrzeit störe, Mr Stern. Aber es geht um einen Fall von höherer Gewalt. Ich bin zu Ihnen gekommen, um Sie in aller Vertraulichkeit zu fragen … ob Sie mich einstellen können.«

»Dich einstellen? Als was denn?«

»Als was Sie wollen, Sir. Ich tue alles für Sie.«

»Dich einstellen?«, wiederholte Stern noch einmal. Er verstand nicht recht. »Aber warum? Brauchst du Geld, meine Kleine?«

»Als Gegenleistung sollen Sie Harry Quebert erlauben, in Goose Cove zu bleiben.«

»Harry Quebert will Goose Cove verlassen?«

»Er hat kein Geld mehr. Er hat schon Kontakt zu der Agentur aufgenommen, die das Haus vermietet, weil er die Miete für August nicht mehr bezahlen kann. Aber er muss bleiben! Er hat gerade angefangen, dieses Buch zu schreiben, und ich spüre, dass es ein wundervolles Buch wird! Wenn er weggeht, wird er es nie fertig kriegen! Das wäre das Ende seiner Karriere! Und das wäre jammerschade, Mr Stern! Und dann sind da noch wir! Ich liebe ihn, Mr Stern! Ich liebe ihn, wie ich in meinem Leben nie wieder jemanden lieben werde! Bestimmt kommt Ihnen das albern vor, und Sie sagen sich, dass ich doch erst fünfzehn bin und keine Ahnung vom Leben habe. Mag sein, dass ich vom Leben keine Ahnung habe, Mr Stern, aber ich kenne mein Herz! Ohne Harry bin ich nichts mehr.«

Sie legte die Hände aneinander, als wollte sie beten, und Stern fragte: »Was erwartest du von mir?«

»Ich habe kein Geld, sonst hätte ich Ihnen die Miete für das Haus bezahlt, damit Harry bleiben kann. Aber Sie könnten mich doch einstellen! Ich wäre Ihre Angestellte und würde so lange für Sie arbeiten, bis die Miete für ein paar weitere Monate abgeleistet ist.«

»Ich habe genügend Personal.«

»Ich kann alles tun, was Sie wollen. Alles! Oder Sie lassen mich die Miete nach und nach abzahlen. Hundertzwanzig Dollar habe ich schon!« Sie zog ein paar Geldscheine aus der Tasche. »Das sind meine ganzen Ersparnisse! Samstags arbeite ich immer im Clark’s. Ich werde so lange arbeiten, bis ich Ihnen alles zurückgezahlt habe!«

»Wie viel verdienst du denn?«

Stolz antwortete sie: »Drei Dollar die Stunde! Plus Trinkgeld!«

Stern lächelte. Ihr Ansinnen rührte ihn. Er sah Nola liebevoll an. Im Grunde war er auf die Mieteinnahmen von Goose Cove nicht angewiesen, er konnte Quebert also ruhig noch ein paar Monate dort wohnen lassen. Doch da bat Luther darum, ihn unter vier Augen zu sprechen. Sie zogen sich ins Nebenzimmer zurück.

»Eli«, sagte Caleb, »ich würde fie gern malen. Bitte … Bitte!«

»Nein, Luther. Fang nicht schon wieder damit an …«

»Ich flehe dich an … Laff fie mich malen … Ef ift fo lange her …«

»Warum gerade sie?«

»Weil fie mich an Eleanore erinnert.«

»Schon wieder Eleanore? Jetzt reicht es! Hör auf damit!«

Stern weigerte sich zunächst, aber Caleb ließ nicht locker, und schließlich gab Stern nach. Er kehrte zu Nola zurück, die gerade an einem Keks knabberte.

»Nola, ich habe es mir überlegt«, verkündete er. »Ich bin bereit, Harry Quebert so lange in dem Haus wohnen zu lassen, wie er will.«

Sie fiel ihm um den Hals. »Oh, danke! Danke, Mr Stern!«

»Warte, es gibt eine Bedingung …«

»Natürlich! Alles, was Sie wollen! Sie sind so großzügig, Mr Stern.«

»Du wirst für ein Gemälde Modell stehen. Luther wird dich malen. Du musst dich nackt ausziehen, und er wird dich malen.«

Sie schluckte schwer. »Nackt ausziehen? Ganz nackt?«

»Ja. Aber nur, um zu posieren. Niemand wird dich anrühren.«

»Aber, Sir, ich schäme mich so, wenn ich mich ausziehen soll … Ich meine …« Sie fing an zu schluchzen. »Ich dachte, ich könnte zum Beispiel im Garten arbeiten oder die Bücher in Ihrer Bibliothek ordnen. Ich dachte nicht an … An so etwas habe ich nicht gedacht.«

Sie wischte ihre Wangen trocken. Stern betrachtete diese sanftmütige kleine Person, die er nötigte, als Aktmodell zu posieren. Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen und getröstet, aber er durfte sich nicht von seinen Gefühlen überwältigen lassen.

»Das ist mein Preis«, sagte er knapp. »Du posierst nackt, und Quebert behält das Haus.«

Sie nickte. »Ich tue es, Mr Stern. Ich tue alles, was Sie wollen. Ab jetzt gehöre ich Ihnen.«

Dreiunddreißig Jahre nach dieser Szene hatte Stern, von Gewissensbissen geplagt und als wollte er Abbitte leisten, Gahalowood auf die Terrasse seines Hauses geführt, an jenen Ort, an dem er von Nola verlangt hatte, sich auf Wunsch seines Fahrers nackt auszuziehen, wenn sie wollte, dass die Liebe ihres Lebens in der Stadt bleiben konnte.

»So ist Nola in mein Leben getreten«, hatte er gesagt. »Am Tag nach ihrem Besuch habe ich versucht, Kontakt zu Quebert aufzunehmen, um ihm zu sagen, dass er in Goose Cove bleiben kann, aber ich konnte ihn nicht erreichen. Eine Woche lang war er unauffindbar. Ich habe sogar Luther losgeschickt, und er hat sich vor seinem Haus die Beine in den Bauch gestanden. Schließlich konnte Luther Quebert gerade noch mit dem Wagen einholen, als er Aurora verlassen wollte.«

Dann hatte Gahalowood gefragt: »Kam Ihnen Nolas Ansinnen nicht befremdlich vor? Dieses fünfzehnjährige Mädchen, das eine Beziehung zu einem über dreißig Jahre alten Mann hatte, kam zu Ihnen, um Sie um einen Gefallen für ihn zu bitten?«

»Wissen Sie, Sergeant, sie hat so schön über die Liebe gesprochen … So schön, wie ich es selbst nie hätte sagen dürfen. Denn ich liebe ja Männer. Wissen Sie, was man damals von der Homosexualität hielt? Übrigens ist es noch heute so … Der Beweis: Ich verstecke mich immer noch. Das geht so weit, dass ich nicht wage, den Mund aufzumachen, wenn dieser Goldman mich als sadistischen alten Knacker hinstellt und andeutet, dass ich Nola missbraucht hätte. Ich schicke meine Anwälte an die Front, strenge einen Prozess an und versuche, das Buch verbieten zu lassen. Dabei würde es reichen zu erzählen, dass ich vom anderen Ufer bin. Aber unsere Mitbürger sind eben immer noch sehr prüde, und ich habe schließlich einen Ruf zu verlieren.«

Gahalowood hatte das Gespräch wieder zum ursprünglichen Thema zurückgeführt: »Ihr Arrangement mit Nola – wie sah das aus?«

»Luther hat es übernommen, sie in Aurora abzuholen. Ich hatte ihm gesagt, dass ich mit der Sache nichts zu tun haben wollte. Außerdem habe ich verlangt, dass er dazu seinen eigenen Wagen benutzt, einen blauen Mustang, und nicht den Dienstwagen, also den schwarzen Lincoln. Kaum habe ich ihn nach Aurora fahren sehen, habe ich alle Angestellten aus dem Haus geschickt. Ich wollte niemanden hier haben, dafür schämte ich mich zu sehr. Und ich wollte auch nicht, dass das Ganze im Wintergarten stattfand, den Luther normalerweise als Atelier nutzte, weil ich zu große Angst hatte, dass jemand sie überraschen könnte. Also ging er mit Nola immer in einen kleinen Salon neben meinem Arbeitszimmer. Ich habe sie bei ihrer Ankunft begrüßt und sie verabschiedet, bevor sie ging. Das hatte ich Luther zur Bedingung gemacht: Ich wollte mich vergewissern, dass alles seine Ordnung hatte. Oder sagen wir: dass es nicht zu schlimm war. Ich erinnere mich noch, wie sie beim ersten Mal, nackt und nur mit einem weißen Laken bedeckt, auf einem Sofa lag. Sie zitterte, fühlte sich sichtlich unwohl und fürchtete sich. Ich habe ihre Hand gedrückt, sie war eiskalt. Ich bin nie im Zimmer geblieben, aber immer in der Nähe, um sicherzugehen, dass er ihr kein Leid zufügte. Später habe ich in dem Zimmer sogar eine Gegensprechanlage versteckt und sie eingeschaltet, um zu hören, was vor sich ging.«

»Und?«

»Nichts. Luther sagte kein Wort. Er war von Natur aus ein schweigsamer Mensch, allein schon wegen seiner zertrümmerten Kiefer. Er malte sie. Das ist alles.«

»Er hat sie also nicht angerührt?«

»Niemals! Das hätte ich nicht zugelassen, glauben Sie mir.«

»Wie oft ist Nola gekommen?«

»Ich weiß nicht … Etwa zehnmal vielleicht.«

»Und wie viele Bilder hat er gemalt?«

»Nur ein Einziges.«

»Das Bild, das wir beschlagnahmt haben?«

»Ja.«

Harry hatte also nur dank Nola in Aurora bleiben können. Aber warum hatte Luther Caleb den Wunsch verspürt, sie zu malen? Nur weil sie Eleanore ähnlich sah? Und warum hatte Stern, der nach seinem eigenen Bekunden bereit gewesen war, Harry das Haus ohne Gegenleistung zu überlassen, Calebs Drängen überhaupt nachgegeben und Nola gezwungen, nackt zu posieren? Auf diese Fragen hatte Gahalowood keine Antwort.

»Ich habe ihn das gefragt«, erklärte er mir. »Ich habe zu ihm gesagt: ›Mr Stern, etwas verstehe ich noch nicht ganz: Warum wollte Luther unbedingt Nola malen? Sie haben vorhin gesagt, dass es für ihn eine Möglichkeit war, Spaß zu haben … Wollen Sie damit sagen, dass es ihm sexuelles Vergnügen bereitet hat? Außerdem haben Sie eine gewisse Eleanore erwähnt: War das seine ehemalige Freundin?‹ Aber Stern hat mich abgewimmelt. Er hat gesagt, das sei eine komplizierte Geschichte, ich wüsste, was ich wissen müsse, und der Rest sei Vergangenheit. Damit war das Thema für ihn erledigt. Ich war nicht offiziell dort, deshalb konnte ich ihn nicht zwingen, mir zu antworten.«

»Jenny hat uns erzählt, dass Luther sie auch malen wollte«, erinnerte ich Gahalowood.

»Was war Luther?«, überlegte er laut. »So etwas wie ein Triebtäter mit dem Pinsel?«

»Keine Ahnung, Sergeant. Glauben Sie, Stern hat Calebs Drängen nachgegeben, weil er sich zu ihm hingezogen fühlte?«

»Der Gedanke ist mir auch durch den Kopf gegangen, und ich habe Stern darauf angesprochen. Ich habe ihn gefragt, ob zwischen ihm und Caleb etwas war. Er hat das seelenruhig verneint. ›Ich halte Mr Sylford seit Anfang der 1970er-Jahre die Treue‹, hat er gesagt. ›Für Luther Caleb habe ich nie etwas anderes empfunden als Mitleid. Das war auch der Grund, warum ich ihn eingestellt habe. Er war ein armer Vorstädter aus Portland, der schlimm entstellt und behindert war, weil man ihn brutal zusammengeschlagen hatte. Ein sinnlos zerstörtes Leben. Er verstand etwas von Autos, und ich brauchte jemanden, der sich um meinen Fuhrpark kümmerte und als Fahrer für mich arbeitete. Zwischen uns entwickelte sich rasch ein freundschaftliches Verhältnis. Er war ein prima Kerl, ich darf sagen, dass wir Freunde waren.‹ Wissen Sie, Schriftsteller, gerade dieses ›freundschaftliche‹ Verhältnis zu Luther, wie er es genannt hat, gibt mir zu denken. Ich habe das Gefühl, dass mehr dahintersteckt. Hier geht es nicht um Sex. Ich bin mir sicher, Stern hat nicht gelogen, als er sagte, dass er sich von Caleb nicht angezogen fühlte. Nein, dieses Verhältnis hatte etwas … Ungesundes. Diesen Eindruck habe ich gewonnen, als Stern beschrieben hat, wie er auf Calebs Wunsch eingegangen ist und von Nola verlangt hat, nackt zu posieren. Er fühlte sich dabei hundeelend, und trotzdem hat er es getan, als hätte Caleb irgendeine Macht über ihn. Auch Sylford ist das übrigens nicht entgangen. Er hatte bis zu diesem Augenblick keinen Ton gesagt, sondern einfach nur zugehört, aber als Stern von dem verängstigten, splitternackten Mädchen erzählte, das er vor den Malsitzungen immer begrüßen ging, hat er gesagt: ›Aber Eli, wie konntest du nur? Was ist das für eine Geschichte? Warum hast du mir nie etwas davon erzählt?‹«

»Warum ist Luther damals eigentlich verschwunden?«, fragte ich.

»Immer mit der Ruhe, Schriftsteller. Das Beste habe ich mir für den Schluss aufgehoben. Sylford hat unwillkürlich Druck auf Stern ausgeübt. Er war vollkommen fassungslos und hat darüber alles Anwaltsgehabe vergessen. Er fing an zu plärren: ›Erklär mir das, Eli! Warum hast du nie was gesagt? Warum hast du all die Jahre geschwiegen?‹ Besagter Eli wurde ganz klein, wie Sie sich vorstellen können, und hat geantwortet: ›Ja, ich habe geschwiegen, aber ich habe es nicht vergessen! Ich habe dieses Bild dreiunddreißig Jahre lang aufbewahrt! Ich bin jeden Tag ins Atelier gegangen, habe mich auf einen Stuhl gesetzt und sie angesehen. Ich musste ihren Blick, ihre Gegenwart ertragen. Sie hat mich mit diesem Geisterblick angestarrt! Das war meine Strafe!‹«

Natürlich hatte Gahalowood Stern gefragt, was für eine Strafe er meinte.

»Meine Strafe dafür, dass ich ein wenig Schuld an ihrem Tod trage!«, hatte Stern hervorgestoßen. »Ich glaube, ich habe in Luther schreckliche Dämonen geweckt, als ich ihm erlaubt habe, sie nackt zu malen. Ich … Ich hatte der Kleinen gesagt, dass sie als Aktmodell für Luther posieren muss, und dadurch erst die Verbindung zwischen den beiden geschaffen. Ich glaube, dass ich vielleicht indirekt für den Tod dieses netten Mädchens verantwortlich bin!«

»Was genau ist passiert, Mr Stern?«

Zuerst hatte Stern geschwiegen. Er war im Kreis herumgelaufen, weil er sich offenbar nicht schlüssig war, ob er erzählen sollte, was er wusste. Doch am Ende hatte er sich zum Reden entschlossen. »Ich habe rasch bemerkt, dass Luther wahnsinnig in Nola verliebt war und herausfinden wollte, warum Nola ihrerseits wahnsinnig in Harry verliebt war. Das hat ihn krank gemacht. Er war von Quebert geradezu besessen, und das ging so weit, dass er anfing, sich in Goose Cove im Wald zu verstecken und ihn zu bespitzeln. Ich habe mitbekommen, dass er immer häufiger nach Aurora fuhr und manchmal den ganzen Tag dort blieb. Da ich das Gefühl hatte, dass die Sache außer Kontrolle geriet, bin ich ihm eines Tages hinterhergefahren. Er hatte sein Auto in der Nähe von Goose Cove im Wald abgestellt. Ich habe meines ein Stück weiter außer Sichtweite geparkt, mich im Wald umgesehen und ihn entdeckt. Er konnte mich aber nicht sehen. Ich habe mich nicht bemerkbar gemacht, aber ich wollte ihm einen Warnschuss verpassen. Also habe ich beschlossen, plötzlich in Goose Cove aufzutauchen, als würde ich Harry überraschend einen Besuch abstatten. Ich bin zurück zur Route 1 und die Auffahrt von Goose Cove entlanggegangen. Dort bin ich mit unschuldiger Miene ums Haus herum auf die Terrasse geschleudert und habe dabei ordentlich Lärm gemacht. Ich habe laut ›Guten Tag, Harry!‹ gerufen, um sicherzugehen, dass Luther mich hörte. Harry hat mich bestimmt für verrückt gehalten. Übrigens erinnere ich mich noch, dass auch er wie der letzte Irre gebrüllt hat. Ich habe ihm erzählt, dass ich meinen Wagen in Aurora hätte stehen lassen, und ihm vorgeschlagen, zusammen mit mir in die Stadt zu fahren und mittagzuessen. Glücklicherweise ist er darauf eingegangen, und wir haben uns auf den Weg gemacht. Dadurch hatte Luther genug Zeit, sich zu verdrücken. Bestimmt hat er einen gehörigen Schrecken bekommen. Wir sind dann zum Essen ins Clark’s gefahren. Dort hat Harry Quebert mir erzählt, dass Luther ihn zwei Tage zuvor in aller Herrgottsfrühe von Aurora nach Goose Cove gefahren hatte, weil Harry beim Joggen plötzlich einen schlimmen Krampf bekommen hatte. Harry hat mich gefragt, was Luther um diese Tageszeit in Aurora treibe. Ich habe das Thema gewechselt, aber ich war sehr besorgt. Das musste ein Ende haben. An dem Abend habe ich Luther befohlen, nicht mehr nach Aurora zu fahren, und ihm Ärger angedroht. Trotzdem hat er weitergemacht. Ein oder zwei Wochen später habe ich zu ihm gesagt, dass ich nicht mehr möchte, dass er Nola malt. Wir hatten einen fürchterlichen Streit. Das war am Freitag, den 29. August 1975. Er hat gesagt, dass er nicht länger für mich arbeiten könne, ist gegangen und hat die Tür hinter sich zugeknallt. Zuerst dachte ich, es wäre nur ein schlechte-Laune-Anfall, und er würde schon wiederkommen. Am nächsten Tag, dem berüchtigten 30. August 1975, bin ich sehr zeitig weggefahren, weil ich ein paar private Verabredungen hatte, aber als ich abends bei meiner Heimkehr feststellte, dass Luther immer noch nicht zurück war, beschlich mich ein ungutes Gefühl. Also habe ich mich auf die Suche nach ihm gemacht und bin nach Aurora gefahren. Es war mittlerweile etwa zwanzig Uhr. Unterwegs hat mich eine Polizeikolonne überholt. Als ich die Stadt erreichte, habe ich gesehen, dass dort schreckliche Aufregung herrschte. Alle redeten nur noch davon, dass Nola verschwunden war. Ich habe mir die Adresse der Kellergans geben lassen, dabei hätte ich bloß dem Strom aus Neugierigen und Einsatzfahrzeugen folgen müssen, die zu ihrem Haus unterwegs waren. Ich habe eine Weile inmitten der Gaffer dort gestanden und ungläubig das Haus angesehen, in dem dieses nette Mädchen gewohnt hatte, dieses gemütliche weiße Holzhäuschen, in dessen Garten eine Schaukel an einem dicht belaubten Kirschbaum hing. Als es dunkel wurde, bin ich nach Concord zurückgefahren und in Luthers Zimmer gegangen, um nachzusehen, ob er da war, aber natürlich war es leer – bis auf Nolas Bild, das mich anstarrte. Es war fertig, das Bild war fertig gemalt. Ich habe es mitgenommen und im Atelier aufgehängt. Und dort ist es all die Jahre geblieben. Ich habe die ganze Nacht vergeblich auf Luther gewartet. Am nächsten Morgen hat mich sein Vater angerufen: Er suchte auch nach ihm. Ich habe ihm gesagt, dass sein Sohn zwei Tage zuvor weggefahren war, ohne zu sagen, wohin. Sonst habe ich niemandem davon erzählt, sondern geschwiegen. Wenn ich Luther der Entführung an Nola Kellergan beschuldigt hätte, wäre meine Mitschuld offiziell geworden. Drei Wochen habe ich auf Luther gewartet und Tag für Tag nach ihm gesucht – bis sein Vater mich benachrichtigt hat, dass er bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist.«

»Sie glauben also, dass Luther Caleb Nola getötet hat?«, hatte Gahalowood gefragt.

Stern hatte genickt. »Ja, Sergeant. Das glaube ich seit dreiunddreißig Jahren.«

Sterns Worte, die mir Gahalowood soeben wiedergegeben hatte, verschlugen mir zunächst die Sprache. Ich holte uns noch zwei Bier aus der Minibar und brachte mein Aufnahmegerät in Stellung. »Sie müssen mir das alles noch mal erzählen, Sergeant«, bat ich ihn. »Ich muss das für mein Buch aufnehmen.«

»Wenn Sie meinen, Schriftsteller«, erklärte er bereitwillig.

Ich schaltete das Gerät ein. In diesem Augenblick klingelte Gahalowoods Handy. Er nahm den Anruf an, und das Gerät zeichnete jedes seiner Worte auf: »Sind Sie sich sicher? Haben Sie das überprüft? Was? Großer Gott, das ist ja vollkommen verrückt!«

Er bat mich um Zettel und Stift, notierte etwas und legte auf. Dann sah er mich sonderbar an und sagte: »Das war ein Praktikant von der Kripo … Ich hatte ihn gebeten, den Bericht über Luther Calebs Unfall rauszusuchen.«

»Und?«

»Laut dem damaligen Bericht wurde Luther Caleb in einem schwarzen Chevrolet Monte Carlo aufgefunden, der auf Sterns Firma zugelassen war.«

Freitag, 26. September 1975

Es war ein nebliger Tag. Die Sonne war schon vor Stunden aufgegangen, aber es herrschte schlechte Sicht. Über dem Land hingen dichte Nebelschwaden wie so oft im feuchten Herbst Neuenglands. Es war acht Uhr morgens, als der Hummerfischer George Tent in Begleitung seines Sohns mit seinem Boot aus dem Hafen von Sagamore in Massachusetts auslief. Sein Fanggebiet erstreckte sich hauptsächlich entlang der Küste, aber er gehörte zu den wenigen seiner Zunft, die außerdem Fallen in einigen Meeresarmen ausbrachten. Die meisten Fischer ließen sie links liegen, weil sie als schwer zugänglich galten oder den Launen der Gezeiten zu stark ausgesetzt waren, um ertragreich zu sein. In genau solch einen Arm fuhr George Tent an diesem Tag mit seinem Boot, um zwei Fallen zu bergen. Während er im Sunset Cove, einem Meereseinschnitt zwischen steil abfallenden Felswänden, manövrierte, wurde sein Sohn plötzlich von einem Gleißen geblendet. Ein Sonnenstrahl war zwischen den Wolken durchgesickert und von etwas reflektiert worden. Der Lichtblitz hatte zwar nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert, war aber so grell gewesen, dass der junge Mann neugierig zum Fernglas griff, um die Klippen abzusuchen.

»Was ist?«, fragte sein Vater.

»Da vorn am Rand ist etwas. Ich weiß nicht genau, was, aber ich habe einen Gegenstand hell funkeln sehen.«

Tent schätzte den Wasserstand an den Felsen ab und kam zu dem Schluss, dass das Meer tief genug war, um näher an die Klippen heranzufahren. Langsam tuckerte er an der Felswand entlang.

»Hast du eine Ahnung, was das gewesen sein könnte?«, fragte George Tent, der gleichfalls neugierig geworden war.

»Sicher nicht nur ein Lichtreflex. Aber er kam von einem ungewöhnlichen Gegenstand aus Metall oder Glas.«

Sie wagten sich noch näher heran, und als sie eine Felsnase umrundeten, entdeckten sie, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. »Heiliger Strohsack!«, fluchte Tent mit weit aufgerissenen Augen. Er stürzte zum Bordfunkgerät, um die Küstenwache zu informieren.

Um acht Uhr siebenundvierzig desselben Tages wurde der Polizei in Sagamore von der Küstenwache ein tödlicher Unfall gemeldet: Ein Auto war offenbar oberhalb der Klippen des Sunset Cove von der Straße abgekommen und am Fuß der Felsen zerschellt. Officer Darren Wanslow begab sich an den Unfallort. Er kannte die schmale Straße gut, die dicht an der schwindelerregend steilen Felswand entlang verlief und spektakuläre Ausblicke bot. Am höchsten Punkt hatte man sogar einen Parkplatz gebaut, damit Touristen das Panorama genießen konnten. Ein traumhaft schöner Ort, aber Officer Wanslow hatte ihn immer für gefährlich gehalten, weil es keine schützende Leitplanke gab. Er hatte bereits mehrere Anträge bei der Gemeinde eingereicht, allerdings ohne Erfolg, und das, obwohl die Straße im Sommer abends stark befahren war. Lediglich ein Warnschild war aufgestellt worden.

Als Wanslow den Parkplatz erreichte, sah er einen Pick-up der Ranger an der Stelle stehen, an der sich der Unfall ereignet haben musste. Er schaltete die Sirene aus und stellte den Wagen ab. Zwei Ranger beobachteten, was sich weiter unten abspielte: Ein Schnellboot der Küstenwache, das sich dicht an den Felsen hielt, fuhr gerade einen Gelenkarm aus.

»Dort unten liegt angeblich ein Auto«, erklärte einer der Ranger Officer Wanslow. »Aber davon zu sehen ist nichts.«

Der Polizist trat an den Rand des Abgrunds: Die schrundige, von Brombeersträuchern und hohen Gräsern überwucherte Felswand fiel steil ab. Von hier aus war es in der Tat unmöglich, etwas zu erkennen.

»Das Auto liegt genau dort unten, sagen Sie?«, fragte er nach.

»So hieß es auf dem Notfunkkanal. Der Position des Bootes der Küstenwache nach gehe ich davon aus, dass der Wagen hier oben auf dem Parkplatz stand und aus welchem Grund auch immer den Abhang runtergerollt ist. Ich bete nur, dass es keine Teenager sind, die nachts zum Knutschen hergekommen sind und vergessen haben, die Handbremse anzuziehen.«

»Gott bewahre«, murmelte Wanslow, »es wäre schrecklich, wenn da unten Kinder liegen.«

Er inspizierte den Teil des Parkplatzes, der am nächsten am Abgrund lag. Zwischen dem Ende der asphaltierten Fläche und der Kante gab es einen breiten Grasstreifen. Wanslow suchte nach Hinweisen darauf, dass der Wagen darübergefahren war, wie etwa wilde Gräser oder Brombeersträucher, die er beim Hinunterstürzen abgerissen hatte.

»Was meinen Sie? Ist der Wagen dort runter?«, fragte er den Ranger.

»Bestimmt. Es wird schon so lange darüber geredet, dass hier eine Begrenzung aufgestellt werden muss. Das waren Jugendliche, sage ich Ihnen. Sie haben einen über den Durst getrunken und sind geradeaus runtergerollt, denn wenn man sich nicht gerade die Nase begossen hat, muss man einen verdammt guten Grund haben, hinter dem Parkplatz nicht anzuhalten.«

Das Schnellboot manövrierte und entfernte sich von der Klippe. Die drei Männer erkannten, dass am Ende des Gelenkarms ein Auto schaukelte. Wanslow ging zurück zum Wagen und nahm per Funk Kontakt mit der Küstenwache auf. »Was ist es für ein Auto?«, fragte er.

»Ein schwarzer Chevrolet Monte Carlo«, lautete die Antwort.

»Ein schwarzer Monte Carlo? Bitte bestätigen Sie!«

»Positiv! Zugelassen in New Hampshire. Im Wageninnern befindet sich eine Leiche. Kein sehr schöner Anblick.«

Wir waren seit zwei Stunden mit Gahalowoods Dienstwagen, einem altersschwachen Chrysler, unterwegs. Es war Montag, der 21. Juli 2008.

»Soll ich mal fahren, Sergeant?«

»Bloß nicht!«

»Sie fahren zu langsam.«

»Ich fahre vorsichtig.«

»Das Auto ist eine Schrottmühle, Sergeant.«

»Es handelt sich um ein Fahrzeug der State Police. Ein wenig mehr Respekt, wenn ich bitten darf!«

»Dann ist es eben eine Schrottmühle im Staatsdienst. Wie wär’s mit ein bisschen Musik?«

»Vergessen Sie’s, Schriftsteller! Das hier ist ein Einsatz und keine Spazierfahrt unter Freundinnen.«

»Wissen Sie was? Ich werde in meinem Buch schreiben, dass Sie wie ein Opa fahren.«

»Machen Sie die Musik an, Schriftsteller, und zwar schön laut. Ich will von Ihnen nichts mehr hören, bis wir da sind.«

Ich grinste. »Na gut, dann helfen Sie mir auf die Sprünge: Wer ist noch mal dieser Typ, dieser Darren …?«

»Darren Wanslow. Er war damals Polizist in Sagamore. Er wurde angerufen, nachdem die Fischer das Wrack von Luthers Auto entdeckt hatten.«

»Einen schwarzen Chevrolet Monte Carlo.«

»Exakt.«

»Das ist doch absurd! Warum hat damals niemand einen Zusammenhang hergestellt?«

»Keine Ahnung, Schriftsteller. Genau das müssen wir herausfinden.«

»Was macht Wanslow jetzt?«

»Er ist seit ein paar Jahren in Rente und hat mit seinem Cousin eine Autowerkstatt. Nehmen Sie gerade auf?«

»Ja. Was hat Wanslow Ihnen gestern am Telefon erzählt?«

»Nicht viel. Er schien sich über meinen Anruf zu wundern und meinte, dass wir ihn tagsüber in seiner Werkstatt finden.«

»Und warum haben wir ihn nicht am Telefon befragt?«

»Weil nichts über ein gutes Gespräch von Mensch zu Mensch geht, Schriftsteller. Das Telefon ist viel zu unpersönlich. Das ist was für Weicheier wie Sie.«

Die Werkstatt lag gleich am Ortseingang von Sagamore. Wanslow steckte gerade kopfüber in einem alten Buick. Er führte uns in sein Büro, scheuchte seinen Cousin hinaus und räumte ein paar Buchhaltungsordner von den Stühlen, damit wir uns setzen konnten. Dann wusch er sich in einem kleinen Waschbecken gründlich die Hände und bot uns Kaffee an. »Nun?«, fragte er, während er die Tassen füllte. »Was ist passiert, dass mich die State Police aus New Hampshire hier besuchen kommt?«

»Wie ich Ihnen gestern schon gesagt habe, ermitteln wir im Mordfall Nola Kellergan«, erklärte Gahalowood. »Insbesondere im Zusammenhang mit einem Unfall, der sich am 26. September 1975 in Ihrem Bezirk ereignet hat.«

»Der schwarze Monte Carlo, oder?«

»Das ist richtig. Woher wissen Sie, dass wir uns dafür interessieren?«

»Sie ermitteln doch im Fall Nola Kellergan, und ich habe mir schon damals gesagt, dass es da einen Zusammenhang gibt.«

»Wirklich?«

»Ja. Deshalb erinnere ich mich überhaupt daran. Ich will damit sagen, dass es Einsätze gibt, die man mit der Zeit vergisst, und solche, die einem im Gedächtnis haften bleiben. Und dieser Unfall gehört zu denen, an die man sich erinnert.«

»Inwiefern?«

»Wissen Sie, wenn man Polizist in einer Kleinstadt wie dieser ist, zählen Verkehrsunfälle zu den größten Einsätzen, die man so hat. Damit will ich sagen, dass die einzigen Toten, die ich in meinem ganzen Berufsleben gesehen habe, Opfer von Verkehrsunfällen waren. Aber dieser Unfall war anders. In den Wochen davor waren wir alle von der Entführung in Kenntnis gesetzt worden, die sich in New Hampshire ereignet hatte. Es wurde nach einem schwarzen Chevrolet Monte Carlo gefahndet, und man hatte uns gebeten, die Augen offen zu halten. Ich erinnere mich noch, dass ich in jenen Wochen auf meinen Streifenfahrten nach ähnlichen Chevrolet-Modellen in allen möglichen Farben Ausschau gehalten und sie kontrolliert habe. Ich habe mir nämlich gesagt, dass sich ein schwarzes Auto leicht umlackieren lässt. Kurzum, ich habe mich in die Sache reingehängt wie alle anderen Polizisten hierzulande auch. Wir wollten die Kleine um jeden Preis finden. Und dann informiert mich die Küstenwache eines Morgens, als ich auf dem Revier bin, dass sie gerade dabei sind, am Fuß der Klippen bei Sunset Cove einen Wagen zu bergen. Dreimal dürfen Sie raten, welches Modell es war …«

»Ein schwarzer Monte Carlo.«

»Volltreffer! Zugelassen in New Hampshire. Und mit einer Leiche darin. Ich weiß noch, wie ich den Wagen untersucht habe. Er war durch den Sturz völlig demoliert, und vom Fahrer war nur noch Brei übrig. Wir haben seinen Ausweis bei ihm gefunden. Er hieß Luther Caleb, daran erinnere ich mich noch gut. Der Wagen war auf ein großes Unternehmen in Concord zugelassen: Stern Limited. Wir haben den Innenraum gründlich durchsucht, aber ohne großen Erfolg. Das Meerwasser hatte ziemliche Schäden angerichtet. Immerhin haben wir reichlich Scherben von Alkoholflaschen gefunden. Im Kofferraum befand sich nur eine Tasche mit ein paar Kleidungsstücken.«

»Reisegepäck?«

»Ja, richtig. Sagen wir, leichtes Gepäck.«

»Und was haben Sie dann gemacht?«, fragte Gahalowood.

»Meinen Job. In den Stunden unmittelbar danach habe ich Ermittlungen angestellt, weil ich wissen wollte, wer dieser Bursche war, was er hier gemacht und wie lange er wohl schon dort unten gelegen hatte. Ich habe Erkundigungen über diesen Caleb eingezogen, und raten Sie mal, was ich herausgefunden habe!«

»Dass bei der Polizei von Aurora eine Anzeige wegen Belästigung gegen ihn vorlag«, trumpfte Gahalowood auf.

»Genau! Mann, woher wissen Sie das denn?«

»Ich weiß es eben.«

»Ab diesem Moment habe ich mir gesagt, dass das kein Zufall mehr sein kann. Zuerst habe ich überprüft, ob ihn jemand als vermisst gemeldet hatte. Aus meiner Erfahrung mit Verkehrsunfällen wusste ich nämlich, dass es immer Angehörige gibt, die sich Sorgen machen, und oft hilft uns das, die Toten zu identifizieren. Aber es gab keine Vermisstenanzeige. Seltsam, oder? Daraufhin habe ich sofort bei der Firma Stern Limited angerufen, um mehr in Erfahrung zu bringen. Ich habe gesagt, dass ich gerade eines ihrer Fahrzeuge gefunden hätte, und man hat mich gebeten, mich einen Augenblick zu gedulden. Kurze Wartemusik, und plötzlich hatte ich Elijah Stern an der Strippe. Den Erben der Familie Stern höchstpersönlich! Ich habe ihm die Situation geschildert und ihn gefragt, ob eines seiner Fahrzeuge verschwunden sei, was er verneint hat. Dann habe ich ihm von dem schwarzen Chevrolet erzählt, und da hat er mir erklärt, dass dies das Fahrzeug ist, das sein Fahrer normalerweise benutzt, wenn er nicht im Dienst ist. Dann habe ich ihn noch gefragt, wie lange er seinen Fahrer schon nicht mehr gesehen hat, und er hat gesagt, dass er in den Urlaub gefahren ist. ›In den Urlaub? Wann genau?‹, habe ich ihn gefragt. Er hat geantwortet: ›Vor ein paar Wochen.‹ – ›Und wohin?‹ Er hätte keine Ahnung, hat er gesagt. Ich fand das alles höchst sonderbar.«

»Und was dann?«, fragte Gahalowood.

»Für mich stand fest, dass wir den Hauptverdächtigen im Entführungsfall der kleinen Kellergan gefunden hatten, und deshalb habe ich sofort den Polizeichef von Aurora angerufen.«

»Sie haben Chief Pratt angerufen?«

»Chief Pratt. Richtig, so hieß er. Ja, ich habe ihn über meine Entdeckung informiert. Schließlich leitete er die Ermittlungen in dem Entführungsfall.«

»Und?«

»Er ist noch am selben Tag zu mir gekommen. Er hat sich bei mir bedankt und sich die Akte aufmerksam durchgelesen. Ich fand ihn sehr sympathisch. Dann hat er sich das Auto angesehen und gesagt, dass es leider doch nicht das Modell ist, das er bei der Verfolgungsjagd gesehen hat, und dass er sich inzwischen gar nicht mehr sicher ist, ob er tatsächlich einen Chevrolet Monte Carlo gesehen hat oder eher einen Nova, also ein ganz ähnliches Modell, und dass er das mit dem Büro des Sheriffs abklären wird. Außerdem hat er noch gesagt, dass er sich bereits mit diesem Caleb befasst hatte, es aber genügend Entlastendes gegeben hatte, sodass er diese Fährte nicht weiter verfolgt hat. Er hat mich gebeten, ihm trotzdem meinen Bericht zu schicken, was ich getan habe.«

»Sie haben Chief Pratt also unterrichtet, und er hat die Spur nicht weiterverfolgt?«

»Richtig. Wie gesagt, er hat mir versichert, dass ich mich täusche. Er war davon überzeugt, und schließlich leitete er die Ermittlungen. Er wusste, was er tat. Er hielt es für einen ganz normalen Autounfall, und so habe ich es dann auch in meinen Bericht geschrieben.«

»Und das kam Ihnen nicht seltsam vor?«

»Damals nicht. Ich habe mir gesagt, dass ich mich wohl verrannt habe. Aber keine Sorge: Ich habe meinen Job trotzdem ordentlich erledigt. Ich habe die Leiche in die Gerichtsmedizin geschickt, weil ich wissen wollte, was passiert war und ob der Unfall womöglich auf übermäßigen Alkoholkonsum zurückzuführen war. Wir hatten ja diese Flaschenscherben gefunden … Leider war von dem Mann durch den brutalen Sturz und die Auswirkungen des Meerwassers nicht viel übrig, sodass man keine eindeutigen Aussagen machen konnte. Ich sage Ihnen, der Typ war total zerquetscht. Der Gerichtsmediziner konnte mir lediglich sagen, dass die Leiche wahrscheinlich schon seit ein paar Wochen dort unten lag. Und Gott weiß, wie lange sie noch dort gelegen hätte, wenn dieser Fischer das Auto nicht entdeckt hätte. Der Leichnam wurde anschließend der Familie übergeben, und das war’s dann. Glauben Sie mir, es deutete alles auf einen ganz normalen Verkehrsunfall hin. Heute, nach allem, was ich erfahren habe, vor allem über Pratt und dieses Mädchen, bin ich mir da natürlich überhaupt nicht mehr sicher.«

Darren Wanslows Ausführungen klangen in der Tat sehr schlüssig. Nach der Unterredung mit ihm fuhren Gahalowood und ich zum Jachthafen von Sagamore, um eine Kleinigkeit zu essen. Direkt am winzigen Hafenbecken gab es einen Gemischtwarenladen und eine Postkartenbude. Das Wetter war schön, die Farben waren kräftig, der Ozean schien unendlich. Ringsumher erblickten wir hübsche bunte, von gepflegten kleinen Gärten umrahmte Häuser, die zum Teil dicht am Wasser standen. Wir bestellten zum Mittagessen Steaks und Bier in einem kleinen Restaurant, dessen Terrasse auf Stelzen ins Meer hineingebaut war. Gahalowood kaute mit nachdenklicher Miene auf seinem Essen herum.

»Was geht Ihnen gerade durch den Kopf?«, fragte ich ihn.

»Dass alles auf Luther als Täter hinzuweisen scheint. Er hatte Gepäck dabei … Er hatte vor zu fliehen, und wollte Nola vielleicht mitnehmen. Aber seine Pläne wurden durchkreuzt. Nola ist ihm entwischt, er musste die alte Cooper töten und hat Nola anschließend ein paar Schläge zu viel verpasst.«

»Glauben Sie, er war es?«

»Ja, das glaube ich. Aber ein paar Ungereimtheiten gibt es noch. Zum Beispiel verstehe ich nicht, warum Stern uns nichts von dem schwarzen Chevrolet erzählt hat. Das ist doch ein wichtiges Detail. Luther verschwindet mit einem Fahrzeug, das auf seine Firma angemeldet ist, und er macht sich keine Gedanken? Und warum zur Hölle hat Pratt diese Fährte nicht weiterverfolgt?«

»Glauben Sie, Chief Pratt hat etwas mit Nolas Verschwinden zu tun?«

»Sagen wir, ich habe große Lust, ihn zu besuchen und ihn zu fragen, warum er sich trotz Wanslows Bericht nicht weiter mit Luther Caleb befasst hat. Ich meine, da präsentiert man ihm einen Tatverdächtigen auf dem Silbertablett, noch dazu in einem schwarzen Chevrolet Monte Carlo, und er beschließt, dass es da keinen Zusammenhang gibt. Sehr sonderbar, finden Sie nicht? Und wenn er tatsächlich Zweifel in Bezug auf das Automodell hatte und glaubte, dass es eher ein Nova als ein Monte Carlo war, dann hätte er das sagen müssen. Aber in seinem Bericht ist nur von einem Monte Carlo die Rede …«

Wir fuhren noch am selben Nachmittag nach Montburry zu dem kleinen Hotel, in dem Chief Pratt abgestiegen war. Es war ein eingeschossiger Bau mit knapp einem Dutzend nebeneinanderliegender Zimmer und einem Parkplatz vor jeder Tür. Alles wirkte wie ausgestorben. Es waren nur zwei Autos zu sehen, davon eines vor Pratts Zimmer, vermutlich seines. Gahalowood trommelte an die Tür. Keine Antwort. Er klopfte noch einmal. Vergeblich. Als ein Zimmermädchen vorbeikam, bat Gahalowood die Frau, die Tür mit ihrem Zweitschlüssel aufzuschließen.

»Das geht nicht«, entgegnete sie.

»Wieso nicht?«, fragte Gahalowood unwirsch und zeigte ihr seine Dienstmarke.

»Ich war heute schon ein paarmal hier, um das Zimmer zu machen«, erklärte sie. »Ich dachte, der Gast wäre vielleicht weggegangen, ohne dass ich ihn gesehen habe, aber der Schlüssel steckt von innen. Deshalb kann man nicht aufschließen. Er ist also da. Es sei denn, er hat beim Weggehen den Schlüssel innen stecken lassen und die Tür hinter sich zugezogen. Das passiert den Gästen manchmal, wenn sie es eilig haben. Aber sein Wagen steht da.«

Die Sache gefiel Gahalowood nicht. Er donnerte noch lauter gegen die Tür und forderte Pratt auf zu öffnen. Dann versuchte er, einen Blick durchs Fenster zu werfen, aber der Vorhang war zugezogen, und er konnte nichts sehen. Also beschloss er, die Tür einzutreten. Beim dritten Fußtritt gab das Schloss nach.

Chief Pratt lag in einer Blutlache auf dem Teppichboden.