Alle, die sich an Nola erinnern, werden sagen, dass sie ein tolles Mädchen war. Eine von denen, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen: sanft und aufmerksam, vielseitig und strahlend. Anscheinend besaß sie diese einzigartige Lebensfreude, die Licht in den düstersten Regentag bringen kann. Samstags kellnerte sie im Clark’s. Leichtfüßig wirbelte sie zwischen den Tischen umher, dass ihre blonden Locken tanzten. Sie hatte immer für jeden Gast ein freundliches Wort. Und alle hatten nur Augen für sie. Nola – sie war eine Welt für sich.

Sie war die einzige Tochter von David und Louisa Kellergan, Evangelisten aus dem Süden, genauer gesagt, aus Jackson in Alabama, wo Nola am 12. April 1960 zur Welt gekommen war. Im Herbst 1969 waren die Kellergans nach Aurora gezogen, weil der Vater eine Stelle als Pastor in der Pfarrgemeinde von St. James angetreten hatte, der größten Glaubensgemeinschaft von Aurora, die damals einen bemerkenswerten Zustrom erlebte. Die am südlichen Stadtrand gelegene St.-James-Kirche war ein stattlicher Holzbau, von dem heute nichts mehr übrig ist, da die Gemeinden von Aurora und Montburry wegen Sparmaßnahmen und schrumpfender Gläubigenzahlen zusammengelegt werden mussten. Heute steht an derselben Stelle ein McDonald’s. Die Kellergans hatten bei ihrer Ankunft ein hübsches, eingeschossiges Haus in der Terrace Avenue 245 bezogen, das der Gemeinde gehörte. Allem Anschein nach war Nola sechs Jahre später, am Samstag, den 30. August 1975, durch das Fenster ihres Zimmers entfleucht.

Dies waren so ziemlich die ersten Beschreibungen, die mir die Stammgäste des Clark’s lieferten, als ich das Lokal am Morgen nach meiner Ankunft in Aurora besuchte. Ich war unverhofft bei Tagesanbruch aufgewacht, weil mich das unangenehme Gefühl plagte, nicht wirklich zu wissen, was ich hier eigentlich sollte. Nachdem ich am Strand joggen gegangen war, hatte ich die Möwen gefüttert und mich anschließend gefragt, ob ich wirklich bis nach New Hampshire gefahren war, nur um Meeresvögeln Brotkrumen auszustreuen. Ich war erst um elf Uhr mit Benjamin Roth in Concord verabredet, um Harry zu besuchen, und da ich in der Zwischenzeit nicht allein sein wollte, war ich ins Clark’s gegangen, um Pancakes zu essen. Als ich noch Student gewesen war und bei Harry gewohnt hatte, hatte er die Angewohnheit besessen, mich schon frühmorgens dorthin zu schleppen: Er weckte mich noch vor Tagesanbruch mit einem unsanften Schütteln und erklärte, es sei Zeit, die Sportklamotten anzuziehen. Dann gingen wir zum Joggen und Boxen hinunter ans Meer. Sobald er schwächelte, markierte er den Trainer: Er blieb stehen, angeblich um meine Bewegungen und meine Haltung zu korrigieren, aber mir war klar, dass er vor allem wieder zu Atem kommen wollte. Laufend und schattenboxend legten wir am Strand die paar Meilen von Goose Cove nach Aurora zurück. Am Grand Beach kletterten wir über die Felsen nach oben und durchquerten die noch schlafende Stadt. In der im Dunkeln liegenden Hauptstraße war schon von Weitem das grelle Licht zu sehen, das durch das große Glasfenster des Diners fiel. Es war das einzige Lokal, das zu dieser frühen Stunde geöffnet hatte. Im Innern herrschte tiefer Friede. Die wenigen Gäste waren Fernfahrer oder Vertreter, die schweigend ihr Frühstück hinunterschlangen. Im Hintergrund lief ein Radio, das immer auf einen Nachrichtensender eingestellt war, allerdings so leise, dass man nicht jedes Wort verstand. An sehr heißen Tagen wälzte der Deckenventilator die Luft mit metallischem Quietschen um und ließ den Staub um die Lampen tanzen. Wir setzten uns an Tisch 17, und sogleich erschien Jenny, um uns Kaffee einzuschenken. Mich bedachte sie jedes Mal mit einem milden, fast mütterlichen Lächeln. Sie sagte: »Armer Marcus, er zwingt dich im Morgengrauen aufzustehen, was? Das macht er, seit ich ihn kenne.« Und dann lachten wir.

Aber an diesem 17. Juni 2008 herrschte im Clark’s trotz der morgendlichen Stunde bereits große Aufregung. Alles redete nur über den Fall, und als ich eintrat, hängten sich die mir bekannten Stammgäste wie Kletten an mich und wollten wissen, ob es wahr sei, dass Harry ein Verhältnis mit Nola gehabt und Deborah Cooper getötet habe. Ich wich den Fragen aus und setzte mich an Tisch 17, der unbesetzt war. Da stellte ich fest, dass die Plakette verschwunden war: An ihrer Stelle fanden sich lediglich zwei Schraublöcher im Holz sowie ein heller Abdruck im Lack des Tisches.

Jenny brachte mir Kaffee und begrüßte mich freundlich. Sie wirkte bekümmert. »Du willst bei Harry wohnen?«, fragte sie.

»Ich denke, ja. Und du hast die Plakette abgemacht?«

»Ja.«

»Warum?«

»Er hat das Buch für dieses Mädchen geschrieben, Marcus. Für eine Fünfzehnjährige! Ich kann die Plakette nicht dranlassen. Diese Liebesgeschichte ist einfach widerlich.«

»Ich denke, die Sache ist ein bisschen komplizierter«, hielt ich dagegen.

»Und ich finde, du solltest dich da nicht einmischen, Marcus. Du solltest nach New York zurückfahren und dich aus allem raushalten.«

Ich bestellte Pancakes und Würstchen bei ihr. Auf dem Tisch lag eine fettfleckige Ausgabe des Aurora Star. Von der Titelseite starrte mir ein riesiges Foto von Harry aus seiner Glanzzeit entgegen: Achtung gebietendes Äußeres, durchdringender, selbstsicherer Blick. Direkt darunter befand sich ein Foto von ihm beim Betreten des Gerichtsgebäudes von Concord: in Handschellen, mit zerzaustem Haar, verwahrlost, mitgenommen, niedergeschlagen. In Medaillonform je ein Porträt von Nola und von Deborah Cooper. Und obendrüber die Schlagzeile: WAS HAT HARRY QUEBERT GETAN?

Erne Pinkas traf kurz nach mir ein und setzte sich mit seiner Kaffeetasse zu mir. »Ich habe dich gestern Abend im Fernsehen gesehen«, sagte er. »Bleibst du jetzt hier?«

»Schon möglich.«

»Und weshalb?«

»Keine Ahnung. Wegen Harry.«

»Er ist unschuldig, nicht wahr? Ich glaube einfach nicht, dass er so etwas getan hat … Das glaube ich einfach nicht.«

»Was weiß ich, Ernie.«

Auf meine Bitte hin erzählte mir Pinkas, wie die Polizei Nolas Überreste einige Tage zuvor in Goose Cove in einem Meter Tiefe freigelegt hatte. An jenem Donnerstag war ganz Aurora von den Sirenen der aus dem gesamten Bezirk anrückenden Polizeifahrzeuge aufgeschreckt worden: Einsatzwagen der Autobahnstreife, Zivilfahrzeuge der Kriminalpolizei und sogar ein Kastenwagen der Spurensicherung.

»Als wir hörten, dass es sich vermutlich um die Überreste von Nola Kellergan handelt«, erklärte Pinkas, »waren wir alle geschockt! Keiner konnte es fassen: Die ganze Zeit über hat die Kleine dort gelegen, direkt vor unseren Augen. Wie oft bin ich zu Harry gegangen, habe auf seiner Terrasse gesessen und Scotch getrunken! Quasi neben ihr … Sag mal, Marcus, hat er dieses Buch wirklich für sie geschrieben? Ich kann nicht glauben, dass die beiden was miteinander hatten. Wusstest du davon?«

Um nicht antworten zu müssen, rührte ich den Kaffee in meiner Tasse um, bis ein Strudel entstand. Dann sagte ich einfach nur: »Das ist alles ein Riesenschlamassel, Erne.«

Wenig später setzte sich Travis Dawn, der Polizeichef von Aurora und Jennys Ehemann, zu uns an den Tisch. Er gehörte zu denen, die ich von früher aus Aurora kannte: ein sanftmütiger Kerl, angegraut und um die sechzig, Typ gutherziger Provinzbulle, der schon lange keinem mehr Angst machte. »Tut mir leid, mein Junge«, sagte er zur Begrüßung.

»Was?«

»Na, diese Geschichte. Sie hat dich kalt erwischt. Ich weiß, dass du Harry sehr nahestehst. Das ist bestimmt nicht einfach für dich.«

Travis war der Erste, der sich um meine Gefühle sorgte. Ich nickte, dann fragte ich: »Warum habe ich in all der Zeit, die ich hier verbracht habe, nie etwas von Nola Kellergan gehört?«

»Weil das, bis man ihre Leiche in Goose Cove gefunden hat, eine alte Geschichte war. Und zwar die Art von Geschichte, an die man sich lieber nicht erinnern möchte.«

»Travis, was ist am 30. August 1975 passiert? Und was ist dieser Deborah Cooper zugestoßen?«

»Das ist eine schlimme Sache, Marcus, eine ganz schlimme. Ich habe sie an vorderster Front miterlebt, weil ich an jenem Tag Dienst hatte. Damals war ich nur ein einfacher Polizist. Ich habe den Anruf aus der Zentrale entgegengenommen … Deborah Cooper war ein nettes altes Mütterchen und bewohnte seit dem Tod ihres Mannes ihr abgelegenes Haus am Waldrand bei Side Creek allein. Weißt du, wo Side Creek ist? Dort, wo dieser endlose Wald anfängt, zwei Meilen hinter Goose Cove. Ich erinnere mich gut an die alte Cooper. Ich war damals noch nicht lange bei der Polizei, aber sie rief regelmäßig an. Vor allem nachts, um irgendwelche verdächtigen Geräusche zu melden, die sie bei sich gehört hatte. Sie hatte eine Heidenangst in ihrem Häuschen dort am Waldrand und brauchte jemanden, der sie ab und zu beruhigen kam. Sie entschuldigte sich jedes Mal für die Störung und bot den Polizeibeamten, die angerückt waren, immer Kaffee und Kuchen an. Und am nächsten Tag kam sie aufs Revier und brachte uns eine Kleinigkeit vorbei. Ein nettes altes Mütterchen eben. Leuten wie ihr tut man gern einen Gefallen. Kurzum, am 30. August 1975 hat die alte Cooper die Nummer des Polizeinotrufs gewählt und gemeldet, dass sie ein Mädchen gesehen habe, dem ein Mann in den Wald hinterhergerannt sei. Ich war der einzige Streifenpolizist in Aurora und fuhr sofort zu ihr. Zum ersten Mal hatte sie am helllichten Tag angerufen. Als ich eintraf, wartete sie vor ihrem Haus. Sie hat gesagt: ›Sie halten mich bestimmt für verrückt, Travis, aber diesmal habe ich wirklich etwas Merkwürdiges gesehen.‹ Ich habe den Waldrand abgesucht, wo sie das junge Mädchen gesehen hatte, und ein Stück roten Stoff gefunden. Ich habe sofort begriffen, dass die Sache ernst ist, und Chief Pratt, den damaligen Polizeichef von Aurora, benachrichtigt. Er hatte zwar seinen freien Tag, kam aber sofort. Der Wald ist riesig, und zu zweit waren wir nicht gerade der ideale Suchtrupp. Trotzdem haben wir uns ins Unterholz geschlagen und nach gut einer Meile Blutspuren, blonde Haare und noch mehr rote Stofffetzen entdeckt. Allerdings blieb uns keine Zeit, uns näher damit zu beschäftigen, weil in diesem Augenblick aus der Richtung von Deborah Coopers Haus ein Schuss knallte … Also rannten wir zurück. Die alte Cooper lag in einer Blutlache in ihrer Küche. Später erfuhren wir, dass sie kurz vorher noch mal in der Zentrale angerufen hatte, um zu melden, dass sich das Mädchen, das sie zuvor gesehen hatte, zu ihr geflüchtet hatte.«

»Das Mädchen war zu ihrem Haus zurückgekommen?«

»Ja. Während wir im Wald waren, war die Kleine blutüberströmt und Hilfe suchend wiederaufgetaucht. Aber als wir eintrafen, befand sich außer der Leiche der alten Cooper niemand mehr im Haus. Es war total verrückt.«

»Und dieses Mädchen war Nola?«, fragte ich.

»Ja. Das wurde uns bald klar, weil ihr Vater wenig später anrief, um sie als vermisst zu melden. Außerdem hatte Deborah Cooper sie identifiziert, als sie die Zentrale anrief.«

»Was ist danach passiert?«

»Nach dem zweiten Anruf der alten Cooper hatten sich bereits mehrere Einheiten aus der Gegend in Bewegung gesetzt. Am Waldrand bei Side Creek fiel einem Hilfssheriff ein schwarzer Chevrolet Monte Carlo auf, der in nördlicher Richtung flüchtete. Es kam zu einer Verfolgungsjagd, aber das Fahrzeug ist uns trotz Straßensperren entwischt. Anschließend haben wir wochenlang nach Nola gesucht: Wir haben in der ganzen Gegend jeden Stein umgedreht. Wer wäre schon auf die Idee gekommen, dass sie bei Harry Quebert in Goose Cove war? Alle Anzeichen sprachen dafür, dass sie sich irgendwo in diesem Wald befand. Wir haben ihn unermüdlich durchkämmt. Das Auto und das Mädchen wurden nie gefunden. Wenn man uns gelassen hätte, wir hätten das ganze Land umgegraben, aber nach drei Wochen mussten wir die Suche schweren Herzens einstellen, weil bei der State Police ein paar hohe Tiere beschlossen hatten, dass die Suche zu kostspielig und der Ausgang zu ungewiss sei.«

»Gab es damals einen Verdächtigen?«

Er zögerte kurz, dann sagte er: »Es war zwar nie offiziell, aber …. wir hatten Harry in Verdacht. Dafür hatten wir unsere Gründe. Um es klar zu sagen: Die kleine Kellergan ist drei Monate nach seiner Ankunft in Aurora verschwunden. Merkwürdiger Zufall, oder? Und was für ein Auto fuhr er damals? Einen schwarzen Chevrolet Monte Carlo! Aber wir hatten nicht genug gegen ihn in der Hand. Im Grunde ist dieses Manuskript der Beweis, nach dem wir vor dreiunddreißig Jahren gesucht haben.«

»Ich glaube das nicht. Nicht Harry! Außerdem: Warum hätte er einen so schwerwiegenden Beweis bei der Leiche lassen sollen? Und warum hätte er die Gärtner ausgerechnet an der Stelle graben lassen sollen, an der er angeblich eine Leiche verscharrt hat? Das ist nicht schlüssig.«

Travis zog die Schultern hoch. »Vertraue auf meine Erfahrung als Polizist: Man weiß nie, wozu Menschen fähig sind. Vor allem die, die man gut zu kennen glaubt.« Mit diesen Worten stand er auf. »Wenn ich irgendetwas für dich tun kann, lass es mich wissen«, sagte er noch, bevor er ging.

Pinkas, der die Unterhaltung kommentarlos verfolgt hatte, rief ungläubig: »Na, so was! Ich wusste gar nicht, dass die Polizei Harry damals verdächtigt hat.«

Ich erwiderte nichts darauf, sondern riss lediglich die Titelseite von der Zeitung und steckte sie ein. Dann machte ich mich, obwohl es noch zeitig war, auf den Weg nach Concord.

Das staatliche Männergefängnis von New Hampshire liegt nördlich von Concord in der North State Street 281. Von Aurora kommend, fährt man hinter dem Capitol-Einkaufszentrum vom Highway 93 ab, biegt am Holiday Inn in die North Street ein und folgt ihr etwa zehn Minuten. Nach dem Friedhof von Blossom Hill und einem kleinen, hufeisenförmigen See in Flussnähe kommt man schließlich an langen Drahtzäunen und Stacheldrahtspulen vorbei, die schon jeden Zweifel ausräumen, und kurz darauf kündigt dann ein Schild das Gefängnis offiziell an, und man erblickt nüchterne rote, von einer dicken Schutzmauer umgebene Backsteingebäude und gleich darauf die Gittertore des Haupteingangs. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet sich ein Autohändler.

Roth erwartete mich auf dem Parkplatz. Er rauchte eine billige Zigarre und machte einen gelassenen Eindruck. Zur Begrüßung gab er mir einen Klaps auf die Schulter, als wären wir alte Freunde.

»Zum ersten Mal im Gefängnis?«, fragte er.

»Ja.«

»Machen Sie sich locker.«

»Wer sagt Ihnen, dass ich das nicht bin?«

Er deutete auf ein Rudel Journalisten, die in unserer Nähe herumlungerten.

»Die sind überall«, sagte er. »Antworten Sie bloß nicht auf deren Fragen. Das sind Aasfresser, Goldman. Die nehmen Sie so lange in die Zange, bis Sie ein paar pikante Details ausspucken. Bleiben Sie standhaft, und schweigen Sie. Selbst die kleinste Äußerung von Ihnen könnte, wenn man sie böswillig auslegt, gegen uns verwandt werden und meine Verteidigungsstrategie ins Wanken bringen.«

»Wie lautet denn Ihre Strategie?«

Er sah mich ernst an. »Alles leugnen.«

»Alles?«, fragte ich.

»Alles: das Verhältnis, die Entführung, die Morde. Wir werden auf nicht schuldig plädieren. Ich werde für Harry einen Freispruch erwirken und bin fest entschlossen, den Staat New Hampshire auf Schadenersatz in Millionenhöhe zu verklagen.«

»Und was ist mit dem Manuskript, das die Polizei bei der Leiche gefunden hat? Und mit Harrys Eingeständnis, dass er ein Verhältnis mit Nola hatte?«

»Das Manuskript beweist gar nichts! Schreiben ist nicht Töten. Außerdem hat Harry erklärt – und diese Erklärung klingt plausibel –, dass Nola das Manuskript mitgenommen hat, bevor sie verschwunden ist. Und was ihr Techtelmechtel angeht: na ja, eine kleine Romanze eben … Das ist nichts Verwerfliches. Und erst recht kein Verbrechen. Sie werden sehen, der Staatsanwalt wird ihm nichts nachweisen können.«

»Ich habe mit dem Polizeichef von Aurora, Travis Dawn, gesprochen. Er hat mir erzählt, dass Harry damals verdächtigt wurde.«

»Schwachsinn!«, schimpfte Roth, der leicht ausfällig wurde, wenn er sich ärgerte.

»Offenbar fuhr der Tatverdächtige damals einen schwarzen Chevrolet Monte Carlo. Und Travis sagt, dass Harry genau dieses Modell besessen hat.«

»Doppelter Schwachsinn!«, legte Roth nach. »Aber nützlich zu wissen. Gut gemacht, Goldman, das ist genau die Art von Informationen, die ich brauche. Übrigens: Da Sie diese ganzen Bauerntrampel aus Aurora kennen, horchen Sie die Leute doch mal ein bisschen aus, damit wir wissen, was für Geschichten sie den Geschworenen auftischen, wenn sie im Prozess als Zeugen geladen werden. Und versuchen Sie herauszufinden, wer zu viel trinkt oder seine Frau schlägt: Ein Zeuge, der trinkt oder seine Frau schlägt, ist nämlich kein glaubwürdiger Zeuge.«

»Eine ziemlich miese Methode, finden Sie nicht?«

»Krieg ist Krieg, Goldman. Bush hat die Nation belogen, um den Irak anzugreifen, aber es war nötig. Sehen Sie doch selbst: Wir haben es Saddam gezeigt, wir haben das irakische Volk befreit, und seither geht es der Welt viel besser.«

»Die Mehrheit der Amerikaner war gegen diesen Krieg. Er war ein einziges Desaster.«

Er machte ein enttäuschtes Gesicht. »Oh nein«, sagte er. »Ich wusste es …«

»Was?«

»Werden Sie etwa die Demokraten wählen, Goldman?«

»Selbstverständlich werde ich die Demokraten wählen.«

»Sie werden sehen: Die werden stinkreichen Bürgern wie Ihnen sagenhafte Steuern aufbrummen. Aber dann fangt bloß nicht an zu heulen. Um Amerika zu regieren, braucht man Eier in der Hose. Und Elefanten haben nun mal größere Eier als Esel, das liegt in den Genen.«

»Was Sie nicht sagen, Roth! Die Demokraten haben die Präsidentschaftswahlen längst gewonnen, weil Ihr großartiger Krieg so unpopulär war, dass das Pendel zur anderen Seite ausgeschlagen hat.«

Er setzte ein spöttisches, fast ungläubiges Lächeln auf. »Das glauben Sie doch selbst nicht! Eine Frau und ein Schwarzer, Goldman! Eine Frau und ein Schwarzer! Sie sind doch ein intelligenter Bursche, deshalb jetzt mal im Ernst: Wer wählt schon eine Frau oder einen Schwarzen an die Spitze des Staates? Schreiben Sie darüber doch ein Buch, einen hübschen Science-Fiction-Roman. Und was kommt als Nächstes? Eine puerto-ricanische Lesbe und ein Indianerhäuptling?«

Nach den üblichen Formalitäten ließ mich Roth auf meine Bitte hin erst mal allein zu Harry in den Raum, in dem er uns erwartete. Er saß an einem Plastiktisch, trug Häftlingskleidung und wirkte bedrückt.

Als ich hereinkam, hellte sich seine Miene auf. Er erhob sich, und wir umarmten uns lange, bevor wir uns schweigend an die gegenüberliegenden Seiten des Tisches setzten. Nach einer Weile sagte er: »Ich habe Angst, Marcus.«

»Wir holen Sie hier raus, Harry.«

»Ich habe hier Fernsehen, wissen Sie. Ich kriege alles mit. Ich bin erledigt. Auch als Schriftsteller. Mein Leben ist vorbei. Das ist erst der Anfang vom Ende. Ich habe das Gefühl zu fallen.«

»Man darf nie Angst vor dem Fallen haben, Harry.«

Er verzog das Gesicht zu einem traurigen Lächeln. »Danke, dass Sie gekommen sind.«

»Dafür sind Freunde da. Ich wohne in Goose Cove und habe die Möwen gefüttert.«

»Wenn Sie nach New York zurückfahren wollen, würde ich das sehr gut verstehen.«

»Ich fahre nirgendwohin. Roth ist ein seltsamer Vogel, aber er macht den Eindruck, als wüsste er, was er tut. Er sagt, dass Sie freigesprochen werden. Ich bleibe hier und helfe ihm. Ich werde alles tun, um die Wahrheit ans Licht zu bringen und Ihre Ehre wiederherzustellen.«

»Und was ist mit Ihrem neuen Roman? Ihr Verleger erwartet ihn doch bis Ende des Monats, oder nicht?«

Ich ließ den Kopf hängen. »Es gibt keinen Roman. Mir fällt nichts mehr ein.«

»Was soll das heißen: Ihnen fällt nichts mehr ein?«

Ich antwortete nicht, sondern wechselte das Thema, indem ich die Zeitungsseite herauszog, die ich ein paar Stunden zuvor aus dem Clark’s mitgenommen hatte.

»Harry«, sagte ich, »es ist wichtig, dass ich alles verstehe. Ich muss die Wahrheit wissen. Ihr Anruf von neulich geht mir nicht aus dem Kopf: Sie haben sich gefragt, was Sie Nola angetan haben …«

»Die Gefühle sind mit mir durchgegangen, Marcus. Ich war kurz zuvor verhaftet worden und hatte das Recht auf einen Anruf, und der einzige Mensch, den ich benachrichtigen wollte, waren Sie. Und zwar nicht von meiner Verhaftung, sondern von ihrem Tod. Sie waren der Einzige, der von Nola wusste, und ich musste meinen Kummer mit jemandem teilen … All die Jahre hatte ich gehofft, dass sie noch lebt … irgendwo … Dabei war sie die ganze Zeit über tot. Sie war tot, und ich habe mich aus verschiedenen Gründen dafür verantwortlich gefühlt. Verantwortlich, weil ich sie nicht hatte beschützen können vielleicht. Aber ich habe ihr nie wehgetan! Ich schwöre Ihnen, dass ich in allem, was man mir zur Last legt, unschuldig bin.«

»Ich glaube Ihnen. Was haben Sie der Polizei erzählt?«

»Die Wahrheit: dass ich unschuldig bin. Warum hätte ich genau an der Stelle Blumen pflanzen lassen sollen? Das ist vollkommen unsinnig! Ich habe ihnen auch gesagt, dass ich nicht weiß, wie das Manuskript dort hingekommen ist, und dass ich diesen Roman für und über Nola geschrieben habe, bevor sie verschwunden ist. Dass Nola und ich uns geliebt haben. Dass wir in dem Sommer, in dem sie verschwunden ist, eine Liebesbeziehung hatten und ich diese zum Thema meines Romans gemacht habe, von dem ich damals zwei Manuskripte besaß: ein handgeschriebenes Original und eine Schreibmaschinenfassung. Nola interessierte sich sehr für meine Texte und half mir dabei, sie ins Reine zu schreiben. Die getippte Fassung des Manuskripts konnte ich eines Tages nicht mehr finden. Das war Ende August, kurz bevor Nola verschwand … Ich ging davon aus, dass Nola sie mitgenommen hatte, um sie zu lesen, wie sie es manchmal tat. Sie las meine Texte und sagte mir anschließend ihre Meinung. Sie nahm sie mit, ohne mich zu fragen … Aber dieses Mal konnte ich sie nicht mehr fragen, ob sie mein Manuskript genommen hatte, weil sie verschwunden war. Mir blieb nur das handgeschriebene Exemplar. Bei dem Roman handelte es sich um Der Ursprung des Übels, also um das Buch, das ein paar Monate später so großen Erfolg hatte, wie Sie wissen.«

»Sie haben dieses Buch also wirklich für Nola geschrieben?«

»Ja. Im Fernsehen hieß es, dass man überlegt, es aus dem Handel zu nehmen.«

»Was war das zwischen Nola und Ihnen?«

»Eine Liebesgeschichte, Marcus. Ich war wahnsinnig in sie verliebt. Und ich glaube, das war mein Untergang.«

»Was hat die Polizei noch gegen Sie in der Hand?«

»Das weiß ich nicht.«

»Was ist mit der Schachtel? Wo ist die Schachtel mit dem Brief und den Fotos? Ich habe sie nirgendwo mehr finden können.«

Ihm blieb keine Zeit zu antworten, weil in diesem Moment die Tür aufging. Harry bedeutete mir zu schweigen. Es war Roth. Während er auf unseren Tisch zusteuerte und sich setzte, schnappte sich Harry unauffällig das Notizbuch, das vor mir lag, und schrieb ein paar Worte hinein.

Roth erging sich in langatmigen Erklärungen über den bisherigen Verlauf des Falls und die weitere Vorgehensweise. Nach einem halbstündigen Monolog fragte er Harry: »Gibt es womöglich etwas in Bezug auf Nola, was Sie mir noch nicht mitgeteilt haben? Ich muss alles wissen, das ist sehr wichtig.«

Schweigen. Harry musterte uns lange, dann sagte er: »Es gibt da tatsächlich etwas, das Sie wissen sollten. Es betrifft den 30. August 1975. An dem Abend, an dem Nola verschwand, wollte sie sich mit mir treffen …«

»Mit Ihnen treffen?«, wiederholte Roth.

»Die Polizei hat mich gefragt, was ich am Abend des 30. August 1975 gemacht habe, und ich habe gesagt, dass ich nicht in der Stadt war. Das war gelogen. Es ist der einzige Punkt, in dem ich nicht die Wahrheit gesagt habe. Am fraglichen Abend befand ich mich unweit von Aurora in einem Zimmer eines an der Route 1 Richtung Maine gelegenen Motels. Es heißt Sea Side Motel und existiert immer noch. Ich saß in Zimmer 8 auf dem Bett und wartete, parfümiert wie ein Teenager und mit einem Armvoll blauer Hortensien, ihren Lieblingsblumen. Wir waren für neunzehn Uhr verabredet, und ich weiß noch genau, wie ich wartete und sie nicht kam. Um einundzwanzig Uhr war sie bereits seit zwei Stunden überfällig. Sie hatte sich noch nie verspätet. Noch nie! Ich legte die Hortensien zum Wässern ins Waschbecken und schaltete zur Unterhaltung das Radio ein. Es war ein schwüler, gewittriger Abend, und mir war heiß. Ich kam in meinem Anzug fast um. Ich zog den Brief heraus und las ihn noch zehnmal, vielleicht noch hundertmal. Den Brief, den sie mir wenige Tage zuvor geschrieben hatte, diesen kurzen Liebesbrief, den ich nie werde vergessen können:

Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen, Harry, ich schaffe es schon irgendwie zu unserem Treffpunkt. Warten Sie in Zimmer 8 auf mich. Ich liebe diese Zahl, das ist meine Lieblingszahl. Warten Sie dort um neunzehn Uhr auf mich. Und dann gehen wir für immer fort.

Ich liebe Sie so!

In Zärtlichkeit,

Nola

Ich weiß noch, wie der Radiosprecher die Uhrzeit ansagte: zweiundzwanzig Uhr. Zweiundzwanzig Uhr und noch immer keine Nola. Irgendwann schlief ich angekleidet auf dem Bett ein. Als ich die Augen wieder aufschlug, war die Nacht vorbei. Das Radio lief immer noch, es waren die Sieben-Uhr-Nachrichten: Großalarm in der Gegend von Aurora nach dem Verschwinden der fünfzehnjährigen Nola Kellergan gestern Abend gegen neunzehn Uhr. Die Polizei bittet die Bevölkerung um sachdienliche Hinweise (…) Zum Zeitpunkt ihres Verschwindens trug Nola Kellergan ein rotes Kleid (…) Ich sprang in panischer Angst auf, entledigte mich rasch der Blumen und machte mich, zerknittert und mit zerzaustem Haar, sofort auf den Weg nach Aurora. Das Zimmer war im Voraus bezahlt.

Ich hatte noch nie so viel Polizei in Aurora gesehen. Es waren Fahrzeuge aus dem ganzen Umland da. Eine Straßensperre auf der Route 1 kontrollierte sämtliche Autos auf dem Weg in die Stadt und aus der Stadt. Ich sah den Polizeichef Gareth Pratt mit einer Pumpgun in der Hand.

›Ich habe es gerade im Radio gehört, Chief‹, sagte ich.

›Verfluchter Mist!‹, schimpfte der Chief.

›Was ist denn passiert?‹

›Das weiß niemand. Nola Kellergan ist von zu Hause verschwunden. Gestern Abend wurde sie in der Nähe der Side Creek Lane gesehen, aber seitdem gibt es nicht die geringste Spur von ihr. Die ganze Gegend ist abgeriegelt, der Wald wird durchkämmt.‹

Im Radio wurde immer wieder ihre Beschreibung durchgegeben: Junges Mädchen, weiß, 1,58 Meter groß, fünfzig Kilo schwer, langes blondes Haar, grüne Augen, trägt ein rotes Kleid und eine Goldkette mit dem eingravierten Namen NOLA. Rotes Kleid, rotes Kleid, rotes Kleid, wiederholte das Radio. Das war ihr Lieblingskleid. Sie hatte es mir zuliebe angezogen. Das also habe ich am Abend des 30. August 1975 gemacht.«

Roth und ich waren sprachlos.

»Sie wollten mit ihr durchbrennen?«, fragte ich. »Sie wollten an dem Abend, an dem sie verschwunden ist, zusammen fliehen?«

»Ja.«

»Deshalb haben Sie gesagt, dass alles Ihre Schuld ist, als Sie mich neulich angerufen haben? Sie waren mit ihr verabredet, und auf dem Weg zum Treffpunkt ist sie verschwunden …«

Er nickte betroffen. »Wer weiß, vielleicht wäre sie sonst noch am Leben …«

Als wir den Raum verließen, sagte Roth zu mir, die Geschichte von ihrer geplanten Flucht sei eine Katastrophe und dürfe unter keinen Umständen durchsickern. Wenn die Anklage davon erführe, wäre Harry geliefert. Wir verabschiedeten uns auf dem Parkplatz, und erst als ich in meinem Wagen saß, schlug ich das Notizbuch auf und las, was Harry hineingekritzelt hatte:

Marcus – auf meinem Schreibtisch steht eine Porzellanvase. Darin finden Sie einen Schlüssel. Er gehört zu meinem Garderobenschrank im Fitnessclub von Montburry. Die Nummer ist 201. Es ist alles dort drin. Verbrennen Sie alles. Ich bin in Gefahr.

Montburry war die Nachbarstadt von Aurora und lag rund zehn Meilen weiter im Landesinneren. Noch am selben Nachmittag machte ich mich auf den Weg dorthin, nachdem ich kurz in Goose Cove vorbeigefahren war, um den in lauter Büroklammern versteckten Schlüssel aus der Vase zu holen. In Montburry gab es nur einen einzigen Fitnessclub, und der war in einem modernen Glasbau an der Hauptverkehrsader der Stadt untergebracht. In der menschenleeren Umkleide fand ich den Garderobenschrank mit der Nummer 201 und schloss ihn auf. Darin lagen ein Trainingsanzug, Proteinriegel, Handschuhe fürs Hanteltraining und die Holzschachtel, die ich vor ein paar Monaten in Harrys Arbeitszimmer entdeckt hatte. Es war alles da: die Fotos, die Zeitungsartikel, Nolas handgeschriebener Brief. Außerdem fand ich einen Packen gebundener vergilbter Seiten. Das Deckblatt war blank, ohne Titel. Ich überflog ein paar Seiten: Der Text war mit der Hand geschrieben, und schon nach wenigen Zeilen begriff ich, dass es sich um das Manuskript von Der Ursprung des Übels handelte. Das Manuskript, nach dem ich vor wenigen Monaten überall gesucht hatte, schlummerte in der Umkleidekabine eines Fitnessstudios! Ich setzte mich auf eine Bank und nahm mir einen Augenblick Zeit, um die Seiten fiebernd und voller Staunen durchzusehen: Die Niederschrift war makellos, es gab keinerlei Streichungen. Ein paar Männer kamen herein, um sich umzuziehen, aber ich beachtete sie nicht: Ich konnte die Augen nicht von diesem Text losreißen. Das Meisterwerk, das ich so gerne hätte schreiben wollen – Harry hatte es vollbracht! Er hatte sich in einem Diner an den Tisch gesetzt und diese absolut genialen Wörter und sublimen Sätze geschrieben, die ganz Amerika gerührt hatten, und dabei geschickt seine Liebesgeschichte mit Nola zwischen den Zeilen versteckt.

Zurück in Goose Cove, hielt ich mich peinlich genau an Harrys Anweisung. Ich zündete im Wohnzimmerkamin ein Feuer an und warf den Inhalt der Schachtel hinein: den Brief, die Fotos, die Zeitungsausschnitte und schließlich auch das Manuskript. Ich bin in Gefahr, hatte er geschrieben. Was für eine Gefahr meinte er? Die Flammen schlugen hoch: Nolas Brief zerfiel zu Staub, die Fotos bekamen in der Mitte Löcher und wurden von der Hitze aufgezehrt. Das Manuskript loderte in einer riesigen orangen Flamme auf, und die Seiten zerbröselten zu einem Haufen Asche. Ich saß vor dem Kamin und sah zu, wie sich die Geschichte von Harry und Nola in Rauch auflöste.

Dienstag, 3. Juni 1975

An diesem Tag war schlechtes Wetter. Der Nachmittag ging zu Ende, der Strand lag verlassen da. Noch nie seit seiner Ankunft in Aurora hatte der Himmel so schwarz und bedrohlich ausgesehen. Das Unwetter entfesselte den Ozean, er schäumte und wütete. Bald würde es regnen. Es war das schlechte Wetter, das ihn nach draußen gelockt hatte. Er war über die Holztreppe von der Terrasse zum Strand hinuntergegangen und hatte sich in den Sand gesetzt. Das Heft auf den Knien, ließ er den Stift übers Papier gleiten: Das heraufziehende Gewitter inspirierte ihn, er hatte Ideen für einen großen Roman. In den zurückliegenden Wochen hatte er bereits mehrere gute Ideen für sein neues Buch gehabt, doch keine davon war aufgegangen; er hatte sie schlecht eingeleitet oder schlecht ausgeführt.

Die ersten Tropfen fielen. Erst vereinzelt, dann, plötzlich, wolkenbruchartig. Er wollte gerade flüchten und sich unterstellen, als er sie sah: Die Sandalen in der Hand, ging sie barfuß im seichten Wasser spazieren; dabei tanzte sie im Regen und neckte die Wellen. Verdutzt blieb er stehen und beobachtete sie hingerissen. Sie folgte dem Muster der Ausläufer und gab acht, dass der Saum ihres Kleides nicht nass wurde. In einem kurzen Moment der Unachtsamkeit stieg ihr das Wasser bis zu den Knöcheln. Sie lachte überrascht auf, watete ein wenig tiefer ins graue Meer hinein, drehte sich im Kreis und bot sich der unermesslichen Weite dar. Es war, als gehörte ihr die Welt. Eine gelbe, mit Blumen verzierte Spange hielt ihr blondes, vom Wind gezaustes Haar zurück, damit ihr die Strähnen nicht ins Gesicht schlugen. Nun regnete es in Sturzbächen.

Als sie ihn in rund zehn Meter Entfernung entdeckte, hielt sie abrupt inne. Es war ihr peinlich, dass jemand sie gesehen hatte, und sie rief: »Tut mir leid … Ich habe Sie nicht bemerkt.«

Er fühlte sein Herz klopfen. »Bitte entschuldigen Sie sich nicht«, erwiderte er. »Ich bitte Sie, machen Sie weiter! Ich habe noch nie jemanden den Regen so genießen sehen.«

Sie strahlte. »Mögen Sie ihn auch?«, fragte sie übermütig.

»Wen?«

»Den Regen.«

»Nein … Eigentlich hasse ich Regen.«

Mit einem bezaubernden Lächeln fragte sie: »Wie kann man den Regen hassen? Ich habe noch nie etwas so Schönes gesehen. Schauen Sie!«

Er hob den Kopf: Das Wasser perlte von seinem Gesicht ab. Er betrachtete die Millionen feiner Linien, die die Landschaft strichelten, und drehte sich um die eigene Achse. Sie tat dasselbe. Sie waren klatschnass und lachten. Schließlich flüchteten sie sich unter die auf Pfeilern ruhende Terrasse. Er zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, die zum Teil vom sintflutartigen Regen verschont geblieben waren, und zündete sich eine an.

»Kriege ich auch eine?«, bat sie.

Er hielt ihr das Päckchen hin, und sie bediente sich. Er war überwältigt.

»Sie sind der Schriftsteller, stimmt’s?«, fragte sie.

»Ja.«

»Sie kommen aus New York …«

»Ja.«

»Ich muss Sie etwas fragen: Warum sind Sie aus New York in dieses verlassene Nest gekommen?«

Er lächelte. »Ich hatte Lust auf einen Tapetenwechsel.«

»Ich würde so gern mal nach New York fahren!«, schwärmte sie. »Ich würde stundenlang durch die Stadt laufen und mir alle Shows am Broadway ansehen. Ich träume davon, ein Star zu sein, ein Star in New York …«

»Verzeihen Sie«, unterbrach Harry sie, »aber kennen wir uns?«

Wieder lachte sie ihr bezauberndes Lachen. »Nein. Aber jeder weiß, wer Sie sind. Sie sind der Schriftsteller. Willkommen in Aurora, Sir. Ich heiße Nola. Nola Kellergan.«

»Harry Quebert.«

»Ich weiß. Jeder hier weiß das, das habe ich Ihnen doch gesagt.«

Er streckte ihr zur Begrüßung die Hand hin, aber sie stützte sich auf seinen Arm, reckte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

»Ich muss jetzt gehen. Sie verraten doch niemandem, dass ich geraucht habe, oder?«

»Nein, Ehrenwort.«

»Auf Wiedersehen, Herr Schriftsteller. Hoffentlich sehen wir uns wieder.« Sie verschwand im prasselnden Regen.

Er war ganz durcheinander. Wer war dieses Mädchen? Sein Herz schlug wie wild. Lange blieb er reglos unter der Terrasse stehen, bis sich der Abend herabsenkte. Doch er nahm weder den Regen noch die Dunkelheit richtig wahr. Er fragte sich, wie alt Nola wohl war. Zu jung, das wusste er. Aber er war von ihr hingerissen. Sie hatte seine Seele entflammt.

Ein Anruf von Douglas holte mich in die Realität zurück. Zwei Stunden waren vergangen; es dunkelte bereits. Im Kamin schwelte nur noch die Glut.

»Alle reden über dich«, sagte Douglas. »Kein Mensch versteht, was du in New Hampshire verloren hast …Alle glauben, dass du dabei bist, die größte Dummheit deines Lebens zu begehen.«

»Alle wissen, dass Harry und ich Freunde sind. Ich kann nicht einfach die Hände in den Schoß legen.«

»Aber hier geht es um etwas anderes, Marc. Da sind diese Morde und dieses Buch. Ich glaube, dir ist die Tragweite des Skandals nicht bewusst. Barnaski ist stinksauer, er ahnt, dass du keinen neuen Roman für ihn hast. Er behauptet, dass du dich in New Hampshire verkriechst. Und er hat nicht ganz unrecht … Heute ist der 17. Juni, Marc. In dreizehn Tagen läuft die Frist ab. In dreizehn Tagen bist du erledigt.«

»Herrgott, glaubst du, das weiß ich nicht? Hast du mich deshalb angerufen? Um mich daran zu erinnern, in welcher Lage ich mich befinde?«

»Nein, ich habe dich angerufen, weil ich eine Idee habe.«

»Eine Idee? Ich höre!«

»Schreib ein Buch über den Fall Harry Quebert.«

»Was? Kommt nicht infrage! Ich werde meine Karriere nicht auf Harrys Kosten wiederankurbeln.«

»Warum denn auf seine Kosten? Du hast doch gesagt, dass du ihn verteidigen willst. Beweise seine Unschuld, und schreib ein Buch über alles. Stell dir doch mal vor, wie das einschlagen würde!«

»Und das alles in zehn Tagen?«

»Ich habe Barnaski gut zugeredet …«

»Du hast was

»Hör mich erst mal an, bevor du in die Luft gehst, Marc. Barnaski wittert Gold: Marcus Goldman rollt den Fall Harry Quebert auf – davon verspricht er sich einen Umsatz in siebenstelliger Höhe! Es könnte das Buch des Jahres werden. Er ist bereit, neu zu verhandeln. Er schlägt dir vor, reinen Tisch zu machen: einen anderen Vertrag mit ihm zu schließen, durch den der alte aufgehoben wird, plus einen Vorschuss von einer halben Million Dollar. Weißt du, was das heißt?«

Was das hieß? Dieses Buch würde meine Karriere wiederanschieben. Es würde garantiert ein Bestseller werden, der Erfolg wäre vorprogrammiert, und obendrein winkte mir ein Haufen Geld.

»Warum sollte Barnaski das für mich tun?«

»Er tut es nicht für dich, sondern für sich. Marc, du machst dir keine Vorstellung, dieser Fall ist hier Thema Nummer eins! So ein Buch wäre der Coup des Jahrhunderts!«

»Ich glaube nicht, dass ich dazu in der Lage bin. Ich kann nicht mehr schreiben. Ich weiß nicht mal mehr, ob ich es jemals konnte. Und Nachforschungen anstellen … Das ist Sache der Polizei. Ich habe keine Ahnung, wie man das macht.«

Douglas ließ sich nicht abwimmeln: »Marc, das ist die Chance deines Lebens.«

»Ich werde darüber nachdenken.«

»Wenn du das sagst, heißt das, dass du nicht darüber nachdenken wirst.«

Über den letzten Satz mussten wir beide lachen. Er kannte mich gut.

»Doug … Kann man sich in eine Fünfzehnjährige verlieben?«

»Nein.«

»Wieso bist du dir so sicher?«

»Sicher bin ich mir überhaupt nicht.«

»Was ist Liebe eigentlich?«

»Oh, Marc, verschone mich! Bitte jetzt keine philosophischen Diskurse …«

»Aber, Douglas, er hat sie geliebt! Harry hat sich wahnsinnig in dieses Mädchen verliebt. Das hat er mir heute im Gefängnis erzählt. Er war unterhalb von seinem Haus am Strand, hat sie gesehen und sich in sie verliebt. Warum in sie und nicht in eine andere?«

»Keine Ahnung, Marc. Aber ich wüsste zu gerne, was dich so mit Quebert verbindet.«

»Der Fabelhafte«, erwiderte ich.

»Wer?«

»Der Fabelhafte. Ein junger Mann, der im Leben nichts auf die Reihe bekommen hat – bis er Harry begegnet ist. Harry hat mir beigebracht, wie ich Schriftsteller werde. Er hat mir beigebracht, wie wichtig es ist, fallen zu können.«

»Was faselst du da, Marc? Hast du getrunken? Du bist Autor, weil du talentiert bist.«

»Nein, eben nicht. Man kommt nicht als Schriftsteller auf die Welt, man wird es.«

»Das ist also 1998 in Burrows passiert?«

»Ja. Er hat mir sein ganzes Wissen vermittelt … Ich verdanke ihm alles.«

»Möchtest du mit mir darüber reden?«

»Wenn du willst.«

An diesem Abend erzählte ich Douglas von der Geschichte, die mich mit Harry verband. Nach dem Telefonat ging ich hinunter an den Strand. Ich brauchte frische Luft. Im Dunkeln waren dicke Wolken zu erkennen. Es war schwül, gleich würde ein Gewitter losbrechen. Plötzlich kam Wind auf. Die Bäume begannen wie wild zu wanken, als verkündete die ganze Welt das Ende des großen Harry Quebert.

Irgendwann kehrte ich zum Haus zurück. An der Eingangstür fand ich eine anonyme Nachricht, die jemand in meiner Abwesenheit dorthin gelegt hatte. Ein schlichter Umschlag ohne jede Aufschrift und darin die mit Computer geschriebene Nachricht:

Fahr nach Hause, Goldman.