Sie tanzte am Strand. Sie spielte mit den Wellen und lief mit wehendem Haar über den Sand. Sie lachte, denn sie genoss das Leben in vollen Zügen. Von der Hotelterrasse aus sah Harry ihr eine Weile zu, dann vertiefte er sich wieder in die Aufzeichnungen auf seinem Tisch. Er schrieb schnell und gut. Seit ihrer Ankunft hatte er schon mehrere Dutzend Seiten zu Papier gebracht, er kam rasend schnell voran. Das hatte er ihr zu verdanken. Nola, liebste Nola, sein Leben, seine Inspiration. N-O-L-A. Endlich schrieb er seinen großen Roman. Einen Liebesroman.

»Harry!«, rief sie. »Machen Sie mal eine Pause! Kommen Sie schwimmen!«

Er erlaubte sich diese Unterbrechung, ging aufs Zimmer, legte die Seiten in seinen Aktenkoffer und zog sich die Badehose an. Dann stieß er am Strand zu Nola, und sie schlenderten am Ozean entlang, immer weiter weg vom Hotel, der Terrasse, den anderen Gästen und Badenden. Sie kletterten über eine Felsbarriere und gelangten zu einer abgeschiedenen kleinen Bucht. Hier mussten sie ihre Liebe nicht verstecken.

»Nehmen Sie mich in den Arm, liebster Harry«, sagte sie zu ihm, als sie vor neugierigen Blicken geschützt waren.

Er zog sie an sich, und sie schlang fest die Arme um seinen Hals. Dann tauchten sie ins Meer ein, bespritzten sich gegenseitig ausgelassen mit Wasser und streckten sich anschließend auf ihren großen weißen Hotelhandtüchern aus, um sich in der Sonne zu trocknen. Sie legte den Kopf auf seine Brust. »Ich liebe Sie, Harry … Ich liebe Sie, wie ich noch nie jemanden geliebt habe.«

»Das sind die schönsten Ferien meines Lebens«, erklärte Harry.

Nola strahlte: »Lassen Sie uns Fotos machen! Machen wir Fotos, damit wir es nie vergessen! Haben Sie die Kamera dabei?«

Er zog den Fotoapparat aus der Tasche und reichte ihn ihr. Sie schmiegte sich an ihn, hielt den Apparat auf Armeslänge von sich weg und richtete das Objektiv auf sie. Kurz bevor sie auf den Auslöser drückte, verdrehte sie den Kopf und drückte Harry einen langen Kuss auf die Wange. Sie lachten.

»Das wird bestimmt ein sehr schönes Foto«, meinte sie. »Sie müssen es Ihr Leben lang aufheben.«

»Mein Leben lang. Ich werde es nie hergeben.«

Sie waren jetzt seit vier Tagen hier.

Zwei Wochen früher

Es war Samstag, der 19. Juli, und damit der Tag des traditionellen Sommerballs. Das dritte Jahr in Folge fand er nicht in Aurora, sondern im Countryclub von Montburry statt, dem einzigen Ort, der dieses Anlasses würdig war – jedenfalls fand das Amy Pratt, die, seit sie als Organisatorin die Zügel in die Hand genommen hatte, alles daransetzte, den Ball zu einem großen gesellschaftlichen Ereignis zu machen. Sie hatte seine Abhaltung in der Turnhalle der Highschool von Aurora unterbunden, das Büfett abgeschafft und ein gesetztes Essen mit Tischordnung eingeführt, Krawattenzwang für die Herren verfügt und zwischen dem Ende des Diners und Tanzbeginn eine Tombola organisiert, die für Stimmung sorgen sollte.

In den Monaten vor dem Ball sah man Amy Pratt deshalb in der Stadt von Haus zu Haus gehen, um ihre überteuerten Tombolalose zu verkaufen, die niemand auszuschlagen wagte aus Angst, am Ballabend schlecht platziert zu werden. Böse Zungen behaupteten, die – erklecklichen – Erlöse aus dem Verkauf würden direkt in ihre Tasche wandern, doch niemand wagte es, öffentlich darüber zu reden. Schließlich galt es, sich gut mit ihr zu stellen. Angeblich hatte sie einmal absichtlich vergessen, einer Frau, mit der sie sich gestritten hatte, einen Platz zu geben, sodass die Arme zu Beginn des Essens allein mitten im Saal gestanden hatte.

Harry hatte eigentlich beschlossen, nicht zum Ball zu gehen. Er hatte sich zwar schon vor Wochen eine Karte gekauft, aber er war nicht in Ausgehlaune: Nola befand sich immer noch in der Klinik, und er war unglücklich. Er wollte allein sein. Doch Amy Pratt hatte morgens an seine Tür getrommelt. Sie hatte ihn seit Tagen nicht mehr in der Stadt gesehen, weder im Clark’s noch sonst wo. Sie wollte sich vergewissern, dass er sie nicht sitzen ließ: Er musste am Ballabend unbedingt anwesend sein, sie hatte nämlich allen erzählt, dass er kommen würde. Zum ersten Mal würde ein großer Star aus New York zugegen sein, und wer weiß, vielleicht brachte Harry ja im nächsten Jahr die Crème de la Crème des Showbusiness mit. Und in ein paar Jahren würden dann ganz Hollywood und der ganze Broadway nach New Hampshire kommen, um beim mittlerweile bedeutendsten gesellschaftlichen Ereignis der Ostküste dabei zu sein. »Sie kommen doch heute Abend, Harry, nicht wahr?«, hatte sie ihn bekniet, und am Ende hatte er ihr versprochen, dass er kommen würde, vor allem deshalb, weil er nicht Nein sagen konnte, und sie hatte es doch tatsächlich geschafft, ihm auch Tombolalose für fünfzig Dollar anzudrehen.

Später an diesem Tag war er zu Nola in die Klinik gefahren. Unterwegs hatte er in einem Geschäft in Montburry wieder Opernplatten gekauft. Er hatte nicht widerstehen können, weil er wusste, wie glücklich die Musik sie machte. Doch er gab zu viel Geld aus, eigentlich konnte er sich das nicht mehr leisten. Er wagte gar nicht, sich vorzustellen, wie es auf seinem Bankkonto aussah. Nicht einmal den Restsaldo wollte er wissen. Seine Ersparnisse schmolzen dahin, und wenn er so weitermachte, hatte er bald kein Geld mehr, um das Haus bis Ende des Sommers zu bezahlen.

Im Krankenhaus waren sie im Park spazieren gegangen, und im Schutz einer Baumgruppe hatte Nola die Arme um ihn geschlungen.

»Harry, ich möchte von hier weg …«

»Die Ärzte haben gesagt, dass du in ein paar Tagen entlassen wirst.«

»Sie haben mich nicht richtig verstanden: Ich möchte aus Aurora weggehen. Mit Ihnen. Hier werden wir nie glücklich.«

»Irgendwann«, hatte er geantwortet.

»Irgendwann was

»Irgendwann werden wir fortgehen.«

Ihr Gesicht hatte sich aufgehellt. »Wirklich, Harry? Wirklich? Werden Sie mich ganz weit wegbringen?«

»Ganz weit. Und wir werden glücklich sein.«

»Ja! Sehr glücklich!«

Sie hatte ihn fest an sich gedrückt. Jedes Mal, wenn sie ihm so nahe kam, fühlte er, wie ein wohliger Schauer ihn überlief.

»Heute Abend ist der Ball«, hatte sie ihn erinnert.

»Ja.«

»Gehen Sie hin?«

»Ich weiß nicht. Ich habe es Amy Pratt versprochen, aber eigentlich bin ich nicht in der richtigen Stimmung.«

»Oh, gehen Sie hin, bitte! Ich träume davon, auf den Ball zu gehen. Ich habe immer davon geträumt, dass mich irgendwann jemand auf den Ball führt. Aber ich werde wohl nie hingehen … Mutter ist dagegen.«

»Was soll ich dort allein?«

»Sie werden nicht allein sein, Harry. Ich werde bei Ihnen sein, in Ihrem Kopf. Und wir werden zusammen tanzen! Egal, was passiert, ich werde immer in Ihrem Kopf sein!«

Bei diesen Worten war er hochgefahren. »Was heißt egal, was passiert? Was willst du damit sagen?«

»Nichts, Harry. Nicht böse sein, liebster Harry. Damit wollte ich nur sagen, dass ich Sie immer lieben werde.«

Nola zuliebe ging er also auf den Ball, wenn auch unmutig und allein. Kaum war er dort, bereute er es auch schon, denn er fühlte sich unwohl unter all den Menschen. Um Fassung ringend, setzte er sich an die Bar und trank ein paar Martinis. Dabei sah er zu, wie nach und nach die Gäste eintrafen. Rasch füllte sich der Saal, das Stimmengewirr schwoll an. Er bildete sich ein, dass ihn alle anstarrten, als wüssten sie, dass er ein fünfzehnjähriges Mädchen liebte. Als er spürte, dass er schwankte, suchte er die Toilette auf, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu klatschen. Danach schloss er sich in einer Kabine ein und setzte sich auf die Kloschüssel, um zur Besinnung zu kommen. Er atmete tief durch: Ruhig Blut! Niemand konnte von ihm und Nola wissen. Sie waren immer sehr vorsichtig und diskret gewesen. Es gab keinen Grund zur Nervosität. Vor allem musste er ganz natürlich bleiben. Nach einer Weile beruhigte er sich und spürte, wie sich sein Magen entkrampfte. Er öffnete die Tür, und da sah er den roten Lippenstift auf dem Spiegel:

MÄDCHENFICKER

Ihn befiel Panik. »Hallo? Ist da wer?«, rief er. Er blickte sich um und stieß sämtliche Toilettentüren auf: kein Mensch. Die Kabinen waren leer. Hektisch griff er nach einem Handtuch, machte es nass und wischte damit die Schrift weg, die auf dem Spiegel eine lange, rote Schliere hinterließ. Dann verließ er die Toilette fluchtartig. Gegen die Übelkeit kämpfend, mit schweißnasser Stirn und pochenden Schläfen kehrte er in den Ballsaal zurück, und versuchte zu wirken, als wäre nichts gewesen. Wer wusste von ihm und Nola?

Im Saal hatte man bereits zu Tisch gebeten, die Gäste strebten zu ihren Plätzen. Er hatte das Gefühl, gleich durchzudrehen. Da fasste ihn eine Hand an der Schulter. Er fuhr zusammen. Es war Amy Pratt. Er war vollkommen durchgeschwitzt.

»Ist alles in Ordnung, Harry?«, erkundigte sie sich.

»Ja … Ja … Mir ist nur ein bisschen warm.«

»Sie sitzen am Ehrentisch. Kommen Sie, er ist gleich da drüben.«

Sie führte ihn zu einem großen, mit Blumen geschmückten Tisch, an dem bereits ein etwa vierzigjähriger Mann saß, der sich ziemlich zu langweilen schien.

»Harry Quebert«, verkündete Amy Pratt feierlich, »darf ich Ihnen Elijah Stern vorstellen? Er finanziert großzügigerweise diesen Ball. Ihm ist es zu verdanken, dass die Karten so preiswert sind. Übrigens gehört ihm das Haus in Goose Cove, in dem Sie wohnen.«

Elijah Stern streckte lächelnd die Hand aus. Harry musste lachen.

»Sie sind also mein Hausbesitzer, Mr Stern?«

»Nennen Sie mich Elijah. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«

Nach dem Hauptgericht gingen die beiden Männer nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen und sich auf dem Rasen des Countryclubs ein wenig die Füße zu vertreten.

»Gefällt Ihnen das Haus?«, erkundigte sich Stern.

»Und wie! Es ist ein Traum.«

Elijah Stern ließ seine Zigarettenspitze aufglühen und erzählte voller Wehmut, dass Goose Cove über Jahre das Ferienhaus seiner Familie gewesen sei. Sein Vater hatte es bauen lassen, weil seine Mutter unter schrecklichen Migräneanfällen gelitten hatte und die Seeluft ihr nach Ansicht der Ärzte Linderung verschaffen würde.

»Als mein Vater dieses Grundstück am Meer gesehen hat, war es Liebe auf den ersten Blick. Er hat es auf der Stelle gekauft, um dort ein Haus zu bauen. Die Pläne hat er selbst gezeichnet. Ich habe diesen Ort geliebt. Wir haben dort so viele schöne Sommer verlebt. Aber die Zeit verging, mein Vater ist gestorben, meine Mutter nach Kalifornien gezogen, und niemand hat mehr in Goose Cove gewohnt. Ich liebe dieses Haus und habe es vor ein paar Jahren sogar renovieren lassen. Aber ich bin nicht verheiratet, habe keine Kinder und auch kaum noch Zeit, das Haus zu nutzen, das sowieso zu groß für mich ist. Deshalb habe ich eine Agentur damit beauftragt, es zu vermieten. Die Vorstellung, dass es unbewohnt ist und langsam verfällt, fand ich unerträglich. Ich bin froh, dass jetzt jemand wie Sie dort lebt.«

Stern erklärte, dass er in Aurora aufgewachsen sei und dort seine ersten Bälle und Liebesgeschichten erlebt habe. In Erinnerung an diese Zeit kam er einmal im Jahr hierher, und zwar immer zu diesem Ball.

Sie zündeten sich noch eine Zigarette an und setzten sich auf eine Steinbank.

»Und woran arbeiten Sie gerade, Harry?«

»An einem Liebesroman … Besser gesagt, ich versuche es. Wissen Sie, alle hier halten mich für einen großen Schriftsteller, aber da liegt ein Missverständnis vor.«

Harry hatte erkannt, dass Stern nicht zu den Menschen gehörte, denen man etwas vormachen konnte. Doch Stern entgegnete nur: »Die Leute hier sind sehr leicht zu beeindrucken. Man braucht sich nur anzusehen, was für eine traurige Entwicklung es mit diesem Ball genommen hat. Ein Liebesroman also?«

»Ja.«

»Wie weit sind Sie?«

»Ganz am Anfang. Offen gestanden fällt mir das Schreiben schwer.«

»Das ist ärgerlich für einen Schriftsteller. Sorgen?«

»Könnte man sagen …«

»Sind Sie verliebt?«

»Warum fragen Sie?«

»Aus Neugier. Ich frage mich, ob man verliebt sein muss, um einen Liebesroman zu schreiben. Jedenfalls beeindrucken mich Schriftsteller sehr. Vielleicht weil ich selbst gern einer geworden wäre. Oder ganz allgemein ein Künstler. Ich liebe die Malerei über alles, aber leider habe ich keinerlei künstlerisches Talent. Wie lautet der Titel Ihres Buchs?«

»Das weiß ich noch nicht.«

»Und was für eine Art von Liebesgeschichte ist es?«

»Die Geschichte einer verbotenen Liebe.«

»Das hört sich wirklich sehr interessant an«, sagte Stern begeistert. »Wir müssen uns unbedingt wiedersehen.«

Um einundzwanzig Uhr dreißig, nach dem Dessert, kündigte Amy Pratt die Ziehung der Tombolalose an, die wie jedes Jahr ihr Mann moderierte. Chief Pratt hielt sich das Mikrofon ein wenig zu nah an den Mund und betete die Gewinnzahlen herunter. Die mehrheitlich von ortsansässigen Geschäften gespendeten Preise waren allesamt im niederen Preissegment angesiedelt – bis auf den Hauptpreis, dessen Verlosung für große Spannung sorgte: ein einwöchiger Aufenthalt für zwei Personen inklusive Spesen in einem Luxushotel auf Martha’s Vineyard. »Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit«, rief der Chief aus vollem Hals. »Der Gewinner des ersten Preises ist … Achtung … die Nummer 1385!« Für einen Augenblick trat Stille ein. Dann bemerkte Harry plötzlich, dass es sich um eines seiner Lose handelte, und stand vollkommen überrascht auf. Tosender Applaus ging auf ihn nieder, und zahlreiche Gäste stürmten auf ihn zu, um ihm zu gratulieren. Bis zum Ende des Abends hatten die Menschen nur noch Augen für ihn: Er war der Nabel der Welt. Er dagegen hatte für keinen einen Blick übrig, denn der Nabel seiner Welt lag fünfzehn Meilen entfernt in einem kleinen Krankenhauszimmer und schlief.

Als Harry den Ball gegen zwei Uhr morgens verließ, traf er an der Garderobe auf Elijah Stern, der ebenfalls gerade aufbrach.

»Den Hauptgewinn bei der Tombola!«, meinte Stern lächelnd. »Sie sind ein richtiger Glückspilz.«

»Ja … Dabei hätte ich beinahe keine Lose gekauft.«

»Soll ich Sie nach Hause fahren?«, bot Stern an.

»Danke, Elijah, aber ich bin selbst mit dem Wagen hier.«

Sie gingen zusammen zum Parkplatz. Eine schwarze Limousine wartete auf Stern. Ein Mann stand davor und rauchte eine Zigarette. Stern zeigte auf ihn und sagte: »Harry, ich möchte Ihnen meine rechte Hand vorstellen. Er ist wirklich ein fabelhafter Bursche. Wenn Sie nichts dagegen haben, schicke ich ihn ab und zu nach Goose Cove, damit er sich der Rosen annimmt. Sie müssen bald geschnitten werden, und er ist ein begnadeter Gärtner, im Unterschied zu den Stümpern, die die Agentur immer schickt und die im vergangenen Sommer alle Pflanzen haben eingehen lassen.«

»Selbstverständlich, Elijah. Es ist Ihr Haus.«

Beim Näherkommen erkannte Harry, dass der Mann furchterregend aussah: Sein Körper war massig und muskulös, sein Gesicht schief und von Narben überzogen. Sie gaben sich zur Begrüßung die Hand.

»Ich bin Harry Quebert«, sagte Harry.

»Guten Abend, Mifter Quebert«, entgegnete der Mann, der offenbar nur sehr undeutlich und unter Schmerzen sprechen konnte. »Ich heife Lufer Caleb.«

Am Tag nach dem Ball begannen in Aurora die Spekulationen: Mit wem würde Harry Quebert nach Martha’s Vineyard fahren? Man hatte ihn in der Stadt nie mit einer Frau gesehen. Ob er eine Freundin in New York hatte? Vielleicht einen Filmstar? Oder würde er eine junge Frau aus Aurora mitnehmen? Hatte er hier eine Eroberung gemacht, er, der immer so diskret war? Und würden die Zeitungen über die Stars berichten?

Der Einzige, der keinen Gedanken an die Reise verschwendete, war Harry. Er war am Montagmorgen, den 21. Juli, zu Hause und halb krank vor Sorge: Wer wusste von ihm und Nola? Wer war ihm auf die Toilette gefolgt? Wer hatte die Dreistigkeit besessen, dieses infame Wort auf den Spiegel zu schmieren? Lippenstift – also war es mit ziemlicher Sicherheit eine Frau gewesen. Aber wer? Um sich zu beschäftigen, setzte er sich an den Schreibtisch und machte sich daran, das, was er geschrieben hatte, zu ordnen. Dabei fiel ihm auf, dass ein Blatt fehlte. Ein Text über Nola, den er am Tag ihres Selbstmordversuchs geschrieben hatte. Er erinnerte sich genau daran, dass er das Blatt hierhin gelegt hatte. Er hatte seine Entwürfe mittlerweile bestimmt eine Woche als losen Stapel auf dem Schreibtisch herumliegen lassen, aber er nummerierte sie immer streng durch, um sie später sortieren zu können. Aber jetzt, als er sie geordnet hatte, stellte er fest, dass dieses Blatt fehlte. Also sortierte er die Seiten noch zweimal und leerte sogar seine Aktentasche aus: Die Seite blieb verschwunden. Das konnte nicht sein. Bevor er das Clark’s verließ, kontrollierte er den Tisch immer ganz genau, um sicherzugehen, dass er nichts vergaß. In Goose Cove arbeitete er immer nur in seinem Büro, und wenn er sich doch einmal auf der Terrasse niederließ, legte er das, was er dort geschrieben hatte, anschließend auf seinen Schreibtisch. Er konnte das Blatt also nicht verloren haben. Wo war es dann? Nachdem er das ganze Haus vergeblich danach abgesucht hatte, überlegte er, ob womöglich jemand hier gewesen war, um nach kompromittierenden Beweisen zu suchen. War es dieselbe Person gewesen, die am Ballabend dieses Wort auf den Toilettenspiegel geschmiert hatte? Bei dieser Vorstellung wurde ihm so übel, dass er sich fast übergeben hätte.

An diesem Tag wurde Nola aus der Klinik in Charlotte’s Hill entlassen. In Aurora angekommen, war ihr erster Impuls, zu Harry zu gehen. Am Spätnachmittag machte sie sich auf den Weg nach Goose Cove. Harry war am Strand, er hatte die Blechdose dabei. Als sie ihn sah, warf sie sich ihm in die Arme. Er hob sie hoch und wirbelte sie durch die Luft.

»Ach, Harry, allerliebster Harry! Es hat mir so gefehlt, mit Ihnen hier am Strand zu sein!«

Er drückte sie, so fest er konnte. »Nola! Allerliebste Nola …«

»Wie geht es Ihnen, Harry? Nancy hat mir erzählt, dass Sie bei der Tombola den ersten Preis gewonnen haben.«

»Ja, stell dir vor!«

»Einen Aufenthalt für zwei Personen auf Martha’s Vineyard! Und für wann?«

»Das Datum ist flexibel. Ich muss nur im Hotel anrufen und reservieren, wenn ich Lust darauf habe.«

»Nehmen Sie mich mit? Oh, Harry, bitte nehmen Sie mich mit! Dort können wir glücklich sein, ohne uns zu verstecken!«

Er antwortete nicht darauf. Sie gingen ein paar Schritte am Strand entlang und sahen zu, wie sich die Wellen auf dem Sand verliefen.

»Woher kommen eigentlich die Wellen?«, fragte Nola.

»Von weit her«, antwortete Harry. »Sie kommen von weit her, um das Ufer des großen Amerikas zu sehen und zu sterben.« Er betrachtete Nola und umfasste plötzlich grimmig ihr Gesicht. »Verdammt, Nola! Warum wolltest du sterben?«

»Es ist nicht etwa so, dass man sterben will«, sagte Nola. »Es ist so, dass man nicht mehr leben kann.«

»Erinnerst du dich noch, was du damals nach der Schulaufführung hier am Strand zu mir gesagt hast? Du hast gesagt, ich soll mir keine Sorgen machen, weil du bei mir bist. Wie willst du auf mich aufpassen, wenn du dich umbringst?«

»Ich weiß, Harry, und ich bitte Sie um Verzeihung.«

Sie kniete auf dem Strand, an dem sie sich begegnet waren und auf den ersten Blick ineinander verliebt hatten, nieder, damit er ihr verzieh. Dann bettelte sie wieder: »Nehmen Sie mich mit, Harry. Fahren Sie mit mir nach Martha’s Vineyard. Nehmen Sie mich mit, und wir werden uns für immer lieben.« Er versprach es ihr in der Euphorie des Augenblicks. Aber als sich Nola wenig später auf den Heimweg machte und er ihr auf der Auffahrt von Goose Cove nachblickte, sagte er sich, dass er sie nicht mitnehmen konnte. Ausgeschlossen. Jemand wusste längst über sie Bescheid. Wenn sie zusammen verreisten, würde es die ganze Stadt erfahren, und er würde garantiert im Gefängnis landen. Er konnte sie nicht mitnehmen, und wenn sie ihn wieder darum bat, würde er die verbotene Reise aufschieben. Er würde sie bis in alle Ewigkeit aufschieben.

Tags darauf ging er zum ersten Mal seit Langem wieder ins Clark’s. Wie fast immer bediente Jenny. Als sie Harry hereinkommen sah, leuchteten ihre Augen auf: Er war wieder da. Lag es am Ball? War er etwa eifersüchtig geworden, als er sie mit Travis gesehen hatte? Wollte er sie nach Martha’s Vineyard mitnehmen? Wenn er ohne sie fuhr, bedeutete das, dass er sie nicht liebte. Die Sache beschäftigte sie so sehr, dass sie ihn danach fragte, noch bevor sie seine Bestellung aufnahm.

»Wen nimmst du nach Martha’s Vineyard mit, Harry?«

»Keine Ahnung«, antwortete er. »Vielleicht niemanden. Vielleicht nutze ich die Zeit, um mein Buch voranzutreiben.«

Sie zog eine Schnute. »Eine so schöne Reise? Allein? Das wäre Verschwendung.«

Insgeheim hoffte sie, er würde erwidern: »Du hast recht, mein Liebling. Wir fahren zusammen und küssen uns im Sonnenuntergang.« Aber er sagte nur: »Einen Kaffee, bitte.« Und Jenny, ganz Dienerin, tat, wie ihr geheißen.

In diesem Augenblick tauchte Tamara Quinn aus ihrem Büro im Hinterzimmer auf, wo sie die Buchhaltung machte. Als sie Harry an seinem Stammtisch sitzen sah, stürzte sie auf ihn zu und verkündete grußlos, dafür voller Wut und Verbitterung: »Ich mache gerade die Abrechnung. Sie haben hier keinen Kredit mehr, Mr Quebert.«

»Verstehe«, antwortete Harry, der eine Szene vermeiden wollte. »Es tut mir leid wegen Ihrer Einladung am vorigen Sonntag. Ich …«

»Ihre Entschuldigungen interessieren mich nicht. Und Ihre Blumen habe ich sofort in den Mülleimer geworfen. Ich bitte Sie, Ihre Schulden bis Ende der Woche zu begleichen.«

»Selbstverständlich. Geben Sie mir die Rechnung, ich werde sie unverzüglich bezahlen.«

Sie brachte ihm eine detaillierte Rechnung, und als er sie sah, blieb ihm die Luft weg: Er stand mit über fünfhundert Dollar in der Kreide. Er hatte das Geld ausgegeben, ohne mitzurechnen. Fünfhundert Dollar für Speisen und Getränke! Fünfhundert zum Fenster hinausgeworfene Dollar, nur um in Nolas Nähe zu sein! Zu dieser Rechnung gesellte sich am nächsten Morgen ein Schreiben der Vermietungsagentur. Die Hälfte seines Aufenthalts in Goose Cove hatte er bereits bezahlt, also bis Ende Juli. Der Brief informierte ihn darüber, dass er noch tausend Dollar zu zahlen habe, um das Haus bis September nutzen zu können, und dieser Betrag wie vereinbart von seinem Bankkonto eingezogen würde. Aber er hatte die tausend Dollar nicht. Er hatte so gut wie kein Geld mehr. Sobald er die Schulden im Clark’s bezahlt hatte, war er pleite. Er konnte die Miete für dieses Haus nicht weiter bezahlen. Er konnte nicht länger hierbleiben. Was sollte er tun? Elijah Stern anrufen und ihm die Situation erklären? Doch wozu? Er hatte den großen Roman, den er sich erhofft hatte, nicht geschrieben. Er war nichts weiter als ein Hochstapler.

Nach längerem Nachdenken rief er im Hotel auf Martha’s Vineyard an. Er wusste jetzt, was er tun würde: Er würde das Haus aufgeben und mit diesem Versteckspiel endgültig Schluss machen. Er würde mit Nola eine Woche verreisen, um ein letztes Mal ihre Liebe leben zu können, und danach verschwinden. Die Hotelrezeption teilte ihm mit, dass in der Woche vom 28. Juli bis zum 3. August noch ein Zimmer frei war. Genau das musste er tun: Nola ein letztes Mal lieben und diese Stadt dann für immer verlassen.

Kaum war die Reservierung perfekt, rief er die Vermietungsagentur an und erklärte, dass er den Brief erhalten, aber leider nicht mehr das Geld habe, um die Miete für Goose Cove zu bezahlen. Er bat daher um Auflösung des Mietvertrags zum 1. August und konnte den Angestellten mit praktischen Argumenten überreden, ihm das Haus bis zum Montag, den 4. August, zu überlassen, indem er ihm zusicherte, die Schlüssel an diesem Tag auf der Rückfahrt nach New York direkt in der Filiale in Boston vorbeizubringen. Er musste am Telefon ein Schluchzen unterdrücken: So also endete das Abenteuer des ach so großen Harry Quebert, der es nicht fertigbrachte, auch nur drei Zeilen des grandiosen Meisterwerks zu schreiben, das ihm vorschwebte. Kurz bevor er zusammenbrach, sagte er noch: »Perfekt. Ich gebe die Schlüssel von Goose Cove also am Montag, den 4. August, auf der Rückfahrt nach New York in Ihrer Agentur ab.« Kaum hatte er aufgelegt, fuhr er zusammen, denn er hörte hinter sich eine erstickte Stimme: »Sie gehen fort, Harry?«

Es war Nola, die das Haus unbemerkt betreten und das Gespräch mitangehört hatte. Sie hatte Tränen in den Augen. »Sie gehen fort, Harry?«, fragte sie noch einmal. »Was ist passiert?«

»Nola … Ich habe Probleme.«

Sie lief zu ihm. »Probleme? Was für Probleme? Sie dürfen nicht weggehen, Harry! Wenn Sie weggehen, sterbe ich!«

»Nein! So etwas darfst du nicht einmal denken!«

Sie fiel auf die Knie. »Gehen Sie nicht, Harry! Um Himmels willen! Ohne Sie bin ich nichts.«

Er ließ sich neben ihr zu Boden sinken. »Nola, ich muss dir etwas sagen … Ich habe von Anfang an gelogen. Ich bin kein berühmter Schriftsteller. Ich habe gelogen, und zwar in jeder Hinsicht! In Bezug auf mich, auf meine Karriere … Ich habe kein Geld mehr! Keinen Cent! Ich kann mir dieses Haus nicht länger leisten. Ich kann nicht länger in Aurora bleiben.«

»Wir finden schon eine Lösung! Sie werden bestimmt ein sehr berühmter Schriftsteller. Sie werden viel Geld verdienen! Ihr erstes Buch war wunderbar, und das Buch, an dem Sie jetzt so fleißig schreiben, wird garantiert ein großer Erfolg. Ich täusche mich nie!«

»In diesem Buch, Nola, stehen nur schreckliche Dinge. Es besteht nur aus schrecklichen Worten.«

»Was meinen Sie mit schrecklichen Worten

»Worte über dich, die ich nicht schreiben dürfte. Aber es ist das, was ich fühle.«

»Und was fühlen Sie, Harry?«

»Liebe. Unbändige Liebe!«

»Dann schreiben Sie mit schönen Worten darüber! An die Arbeit! Schreiben Sie schöne Worte!«

Sie nahm seine Hand, führte ihn zum Tisch auf der Terrasse, brachte ihm seine Papiere, seine Hefte, seine Stifte. Sie machte Kaffee, legte Opernmusik auf und öffnete im Wohnzimmer die Fenster, damit er sie gut hören konnte. Sie wusste, dass er sich bei Musik besser konzentrieren konnte. Folgsam ging er in sich und begann noch einmal von vorn. Er wollte einen Liebesroman schreiben, als wäre die Geschichte zwischen Nola und ihm möglich. Über zwei Stunden schrieb er, die Worte kamen von ganz allein, die Sätze fügten sich perfekt und wie selbstverständlich zusammen und flossen nur so aus seinem Füller, während er übers Papier tanzte. Zum ersten Mal, seit er hier war, hatte er das Gefühl, dass dies tatsächlich die Geburtsstunde seines neuen Romans war.

Als er schließlich von seinem Blatt aufblickte, stellte er fest, dass Nola eingeschlafen war. Um ihn nicht zu stören, hatte sie sich hinter ihm in einen Korbsessel gekuschelt. Die Sonne schien, es war sehr warm. Und plötzlich fand er sein Leben mit seinem Roman, mit Nola und mit diesem Haus am Meer wunderschön. Ja er fand sogar, dass es gar nicht so schlimm war, aus Aurora wegzugehen: Er würde seinen Roman in New York fertig schreiben, ein erfolgreicher Schriftsteller werden und auf Nola warten. Wegzugehen bedeutete nicht zwangsläufig, sie zu verlieren. Eher im Gegenteil: Sobald sie mit der Schule fertig war, konnte sie an der Universität von New York studieren. Dann wären sie zusammen. Bis dahin würden sie einander schreiben und sich in den Ferien sehen. Die Jahre würden vergehen, und schon bald würde ihre Liebe keine verbotene Liebe mehr sein. Sanft weckte er Nola.

Sie rekelte sich lächelnd. »Sind Sie gut vorangekommen?«

»Sehr gut.«

»Großartig! Kann ich es lesen?«

»Bald. Versprochen.«

Eine Möwenschar segelte über das Wasser.

»Schreiben Sie über die Möwen! Schreiben Sie in Ihrem Roman über die Möwen!«

»Sie werden auf jeder Seite vorkommen, Nola. Wie wäre es, wenn wir ein paar Tage nach Martha’s Vineyard fahren würden? Nächste Woche ist ein Zimmer frei.«

Sie strahlte. »Ja! Lassen Sie uns fahren! Wir fahren zusammen!«

»Was wirst du deinen Eltern sagen?«

»Keine Sorge, liebster Harry. Um meine Eltern kümmere ich mich schon. Kümmern Sie sich um Ihr Meisterwerk und darum, mich zu lieben. Also bleiben Sie hier?«

»Nein, Nola. Ich muss Ende des Monats ausziehen, weil ich das Haus nicht mehr bezahlen kann.«

»Ende des Monats? Aber das ist jetzt.«

»Ich weiß.«

Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. »Gehen Sie nicht weg, Harry!«

»New York ist nicht weit. Du kommst mich einfach besuchen. Wir schreiben uns und telefonieren. Und warum gehst du nicht dort auf die Universität? Du hast mir gesagt, dass du davon träumst, New York kennenzulernen.«

»Auf die Universität? Aber das ist erst in drei Jahren! Drei Jahre ohne Sie, das schaffe ich nicht, Harry! Das halte ich nicht durch!«

»Keine Sorge, die Zeit vergeht so schnell. Wenn man sich liebt, vergeht die Zeit wie im Flug.«

»Verlassen Sie mich nicht, Harry. Ich will nicht, dass Martha’s Vineyard zu unserer Abschiedsreise wird.«

»Nola, ich habe kein Geld mehr. Ich kann nicht länger hierbleiben.«

»Nein, Harry, ich flehe Sie an! Wir finden bestimmt eine Lösung. Lieben Sie mich?«

»Ja.«

»Wenn wir uns lieben, finden wir auch eine Lösung. Menschen, die sich lieben, finden immer einen Weg. Versprechen Sie mir wenigstens, darüber nachzudenken.«

»Ich verspreche es dir.«

Eine Woche später, am Montag, den 28. Juli 1975, waren sie in aller Frühe losgefahren, ohne noch einmal über die Abreise gesprochen zu haben, die für Harry unabwendbar geworden war. Er war wütend auf sich selbst, weil er sich von seinem Ehrgeiz und seinen hochfliegenden Plänen hatte blenden lassen. Wie hatte er so naiv sein und glauben können, dass er in einem Sommer einen bedeutenden Roman schreiben konnte?

Sie hatten sich um vier Uhr morgens auf dem Parkplatz am Jachthafen getroffen. Aurora schlief. Es war noch dunkel. Sie waren zügig bis Boston gefahren, hatten dort gefrühstückt und anschließend die Strecke bis Falmouth fast in einem Stück zurückgelegt. Dort hatten sie die Fähre genommen und waren kurz vor Mittag auf der Insel Martha’s Vineyard gelandet. Seither lebten sie in dem herrlichen Hotel am Meer wie in einem Traum. Sie gingen baden, machten Spaziergänge und aßen in trauter Zweisamkeit im großen Speisesaal zu Abend, ohne dass jemand sie anstarrte oder ihnen Fragen stellte. Auf Martha’s Vineyard konnten sie leben.

Seit vier Tagen waren sie jetzt hier. Sie lagen in ihrer kleinen Bucht, abgeschirmt vom Rest der Welt, im warmen Sand und dachten an nichts weiter als an sich und das Glück, zusammen zu sein. Nola spielte mit dem Fotoapparat.

Sie hatte Harry erzählt, dass ihre Eltern glaubten, sie wäre bei einer Freundin, aber sie hatte ihn angelogen. Sie war von zu Hause abgehauen. Eine ganze Woche Abwesenheit zu erklären wäre zu kompliziert gewesen. Also war sie einfach gegangen, ohne etwas zu sagen. Sie war im Morgengrauen aus ihrem Fenster gestiegen, und während sie sich mit Harry am Strand in der Sonne aalte, kam der Reverend vor Sorge schier um. Er hatte ihr Zimmer am Montagmorgen leer vorgefunden, die Polizei aber nicht verständigt. Zuerst der Selbstmordversuch und nun diese Flucht: Wenn er die Polizei alarmierte, würden alle davon erfahren. Er hatte sich sieben Tage gegeben, um Nola zu finden. Eine Woche, wie der Herr sie erschaffen hatte. Tagelang fuhr er auf der Suche nach seiner Tochter mit dem Auto durch die Gegend. Er fürchtete das Schlimmste. Nach sieben Tagen würde er sich an die Behörden wenden.

Harry ahnte von all dem nichts. Die Liebe hatte ihn blind gemacht. Und so hatte er auch am Morgen ihrer Abfahrt nach Martha’s Vineyard nicht die im Dunkeln verborgene Gestalt bemerkt, die ihre Abfahrt vom Jachthafen beobachtete.

Am Sonntagnachmittag, den 3. August 1975, fuhren sie zurück nach Aurora. An der Grenze zwischen Massachusetts und New Hampshire fing Nola an zu weinen. Sie sagte zu Harry, dass sie ohne ihn nicht leben könne, dass er nicht fortgehen dürfe, dass es eine Liebe wie ihre nur einmal im Leben gebe, und so weiter. Und sie flehte ihn an: »Verlassen Sie mich nicht, Harry. Lassen Sie mich nicht zurück.« Sie erinnerte ihn daran, wie gut er in den vergangenen Tagen mit seinem Buch vorangekommen war, und warnte ihn davor, dass er seine Inspiration verlieren könnte. Sie bedrängte ihn: »Ich werde für Sie sorgen, dann können Sie sich ganz aufs Schreiben konzentrieren. Sie schreiben gerade an einem wunderbaren Roman, Sie dürfen nicht alles verderben.«

Sie hatte recht: Sie war seine Muse, seine Inspiration, ihr verdankte er es, dass er plötzlich so gut und schnell vorankam. Doch es war zu spät. Er konnte die Miete für das Haus nicht mehr bezahlen. Er musste gehen.

Er setzte Nola ein paar Blocks von ihrem Elternhaus entfernt ab, und sie küssten sich ein letztes Mal. Ihre Wangen waren tränenüberströmt, sie klammerte sich an ihn und wollte ihn nicht gehen lassen. »Versprechen Sie mir, dass Sie morgen früh noch hier sein werden!«

»Nola, ich …«

»Ich bringe frische warme Brötchen und mache Kaffee. Ich tue alles für Sie. Ich werde Ihre Frau, und Sie werden ein berühmter Schriftsteller. Sagen Sie mir, dass Sie noch da sein werden …«

»Ich werde da sein.«

Ihre Miene hellte sich auf. »Wirklich?«

»Ich werde da sein, ich verspreche es.«

»Versprechen reicht nicht, Harry. Schwören Sie es, schwören Sie bei unserer Liebe, dass Sie mich nicht verlassen werden.«

»Ich schwöre es, Nola.«

Er log, weil es sonst zu kompliziert geworden wäre. Kaum war Nola um die Straßenecke gebogen, fuhr er schnell nach Goose Cove weiter. Er musste sich beeilen, denn er wollte nicht riskieren, dass sie später zu ihm kam und ihn bei seiner Flucht überraschte. Noch an diesem Abend wäre er bereits in Boston. Zu Hause packte er hastig seine Sachen zusammen, stapelte sein Gepäck im Kofferraum seines Wagens und warf alles andere, was mitgenommen werden musste, auf die Rückbank. Dann schloss er die Fensterläden und stellte Gas, Wasser und Strom ab. Er war auf der Flucht, auf der Flucht vor der Liebe.

Er wollte ihr eine Nachricht hinterlassen. Eilig kritzelte er die Worte Allerliebste Nola, ich musste fortgehen. Ich schreibe Dir. Ich werde Dich immer lieben. auf ein Stück Papier und steckte es in den Türrahmen. Dann jedoch zog er es wieder heraus aus Angst, jemand anders könnte es finden. Keine Nachricht, das war sicherer. Er sperrte die Tür ab, stieg in den Wagen und raste davon. Er floh Hals über Kopf. Adieu, Goose Cove, adieu, New Hampshire, adieu, Nola.

Es war vorbei. Für immer.