Der Nachteil von Kleinstädten in der tiefsten amerikanischen Provinz ist, dass sie nur eine freiwillige Feuerwehr haben und diese weniger schnell zu mobilisieren ist als eine Berufsfeuerwehr. Deshalb verging am Abend des 20. Juni 2008, während ich zusehen musste, wie die Flammen von der Corvette auf das kleine, als Garage dienende Nebengebäude übergriffen, nach meinem Notruf noch eine ganze Weile, bis die Feuerwehr in Goose Cove eintraf. Insofern grenzt es an ein Wunder, dass das Haus selbst verschont geblieben ist, auch wenn sich dieses Wunder in den Augen des Feuerwehrhauptmanns von Aurora vor allem darauf zurückführen ließ, dass es sich bei der Garage um ein separates Gebäude handelte und der Brand daher rasch eingedämmt werden konnte.

Während Polizei und Feuerwehr in Goose Cove im Einsatz waren, traf Travis Dawn ein, den man ebenfalls verständigt hatte.

»Du hast doch nichts abgekriegt, oder, Marcus?«, fragte er, als er auf mich zueilte.

»Nein, mir geht es gut, abgesehen davon, dass beinahe das ganze Haus niedergebrannt wäre …«

»Was ist passiert?«

»Ich kam gerade vom Grand Beach nach Hause, und als ich in die Zufahrt eingebogen bin, habe ich eine Gestalt gesehen, die durch den Wald abgehauen ist. Erst dann habe ich die Flammen bemerkt …«

»Hattest du Zeit, die Person zu identifizieren?«

»Nein. Es ging alles so schnell.«

In diesem Augenblick rief uns ein Polizeibeamter zu sich, der gleichzeitig mit der Feuerwehr eingetroffen war und die unmittelbare Umgebung des Hauses absuchte. Er hatte soeben, in die Haustür eingeklemmt, folgende Nachricht gefunden:

Fahr nach Hause, Goldman.

»Verdammt! Gestern habe ich auch wieder so eine bekommen«, entfuhr es mir.

»Noch eine? Wo?«, wollte Travis wissen.

»An meinem Wagen. Ich hatte zehn Minuten vor dem Laden geparkt, und als ich zurückkam, steckte genau die gleiche Nachricht hinter dem Scheibenwischer.«

»Glaubst du, jemand stellt dir nach?«

»Ich … Ich weiß es nicht. Bisher habe ich nicht darauf geachtet. Was hat das zu bedeuten?«

»Diese Brandstiftung sieht mir verdammt nach einer Warnung aus, Marcus.«

»Eine Warnung? Warum sollte jemand mich warnen wollen?«

»Irgendwem passt es anscheinend nicht, dass du dich in Aurora aufhältst. Jeder weiß, dass du ziemlich viele Fragen stellst …«

»Na und? Es muss jemand sein, der Angst davor hat, dass ich etwas über Nola herausfinden könnte.«

»Kann sein. Jedenfalls gefällt mir das nicht. Die Sache ist mir nicht geheuer. Ich lasse über Nacht eine Streife hier, das ist sicherer.«

»Die Streife ist unnötig. Wenn der Kerl kommen will, soll er kommen: Ich bin hier.«

»Ganz langsam, Marcus. Heute Nacht bleibt eine Streife hier, ob du willst oder nicht. Wenn es sich, wie ich glaube, um einen Warnschuss handelt, dann heißt das, dass weitere Aktionen folgen werden. Du musst also auf der Hut sein.«

Am nächsten Tag fuhr ich in aller Frühe zu Harry ins Staatsgefängnis, um ihm von dem Vorfall zu berichten.

»Fahr nach Hause, Goldman?«, wiederholte er, als ich ihm von der anonymen Nachricht erzählte.

»Wie ich es Ihnen sage. Auf dem Computer geschrieben.«

»Was hat die Polizei unternommen?«

»Travis Dawn ist gekommen. Er hat den Brief mitgenommen und gesagt, dass er ihn untersuchen lässt. Seiner Ansicht nach handelt es sich um eine Warnung. Vielleicht passt es jemandem nicht, dass ich in dieser Geschichte herumstochere. Jemand, für den Sie der ideale Täter sind und dem es nicht gefällt, dass ich meine Nase in die Angelegenheit stecke.«

»Und dieser Jemand hat Nola und Deborah Cooper getötet?«

»Zum Beispiel.«

Harry machte ein ernstes Gesicht. »Roth sagt, nächsten Dienstag werde ich der Grand Jury vorgeführt, einer Handvoll rechtschaffener Bürger, die sich mit meinem Fall befassen und entscheiden, ob die Anschuldigungen gegen mich begründet sind. Anscheinend hört die Grand Jury immer auf den Staatsanwalt … Es ist ein Albtraum, Marcus. Mit jedem Tag, der vergeht, habe ich das Gefühl, tiefer zu sinken, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Zuerst werde ich verhaftet und sage mir, das ist ein Irrtum, der sich in ein paar Stunden aufklären wird, aber plötzlich werde ich hier bis zum Prozess eingesperrt, der Gott weiß wann stattfindet, und bekomme womöglich die Todesstrafe. Die Todesstrafe, Marcus! Ich muss immerzu daran denken. Ich habe Angst.«

Es war eindeutig, dass Harry hier allmählich vor die Hunde ging. Er saß seit kaum mehr als einer Woche im Gefängnis, aber es war offensichtlich, dass er das keinen Monat durchhalten würde. »Wir holen Sie hier raus, Harry. Wir werden die Wahrheit ans Licht bringen. Roth ist ein sehr guter Anwalt, Sie müssen Vertrauen zu ihm haben. Wollen Sie nicht weitererzählen? Erzählen Sie mir von Nola, fahren Sie mit Ihrem Bericht fort. Was ist danach passiert?«

»Wonach?«

»Nach der Szene am Strand. Als Nola an dem Samstag nach der Schulaufführung zu Ihnen gekommen ist und gesagt hat, dass Sie sich nicht einsam fühlen sollen.«

Während ich dies sagte, brachte ich mein Aufnahmegerät auf dem Tisch in Stellung und schaltete es ein. Harry zwang sich zu einem Lächeln.

»Sie sind in Ordnung, Marcus, denn das ist es, was zählt: Nola, die an den Strand kommt und zu mir sagt, dass ich mich nicht einsam fühlen soll, dass sie für mich da ist … Eigentlich war ich immer ein ziemlicher Einzelgänger gewesen, aber plötzlich war alles anders. Durch Nola fühlte ich mich als Teil eines Ganzen, einer Einheit, die wir gemeinsam bildeten. Wenn sie nicht bei mir war, herrschte in mir ein Gefühl der Leere und des Mangels, wie ich es vorher nicht gekannt hatte. Es war, als würde sich meine Welt, seit sie in mein Leben getreten war, ohne sie nicht mehr richtig drehen. Ich wusste, dass mein Glück von ihr abhing, aber mir war auch klar, dass die Geschichte zwischen ihr und mir furchtbar kompliziert werden würde. Übrigens war meine erste Reaktion, meine Gefühle zu unterdrücken. Schließlich war die Sache aussichtslos. An jenem Samstag blieben wir noch eine Weile am Strand, bis ich zu ihr sagte, es sei spät, sie müsse nach Hause, bevor ihre Eltern sich Sorgen machten, und sie gehorchte. Sie ging über den Strand zurück, ich blickte ihr nach und hoffte, dass sie sich umdrehen würde, nur ein einziges Mal, um mir kurz zuzuwinken. N-O-L-A. Aber ich musste sie mir um jeden Preis aus dem Kopf schlagen … In der folgenden Woche versuchte ich, Jenny, der heutigen Chefin des Clark’s, näherzukommen, um Nola zu vergessen.«

»Warten Sie … Soll das heißen, dass die Jenny, von der Sie mir erzählt haben, die Kellnerin aus dem Clark’s von 1975, Jenny Dawn, die Frau von Travis ist, der das Clark’s heute gehört?«

»Genau die, nur dreißig Jahre älter. Damals war sie sehr hübsch. Das ist sie übrigens immer noch. Sie hätte in Hollywood als Schauspielerin ihr Glück versuchen können. Sie hat oft davon gesprochen, aus Aurora wegzugehen und in Kalifornien in Saus und Braus zu leben. Aber sie hat es nie getan. Sie ist hiergeblieben, hat von ihrer Mutter das Restaurant übernommen und wird am Ende ihr Leben lang Hamburger verkauft haben. Ihr Fehler. Man ist für sein Leben selbst verantwortlich, Marcus. Ich weiß, wovon ich rede …«

»Warum sagen Sie das jetzt?«

»Das ist nicht weiter wichtig … Aber ich schweife ab und verliere mich in Nebensächlichkeiten. Ich sprach gerade von Jenny. Die damals vierundzwanzigjährige Jenny war also eine bildschöne Frau: Schönheitskönigin an der Highschool, eine sinnliche Blondine, die jedem Mann den Kopf verdrehte. Alle standen damals auf Jenny. Ich verbrachte meine Tage im Clark’s in ihrer Gesellschaft. Ich hatte dort Kredit und ließ alles anschreiben. Ich achtete nicht weiter darauf, wie viel ich ausgab, obwohl ich beinahe sämtliche Ersparnisse für die Miete des Hauses verwendet hatte und ziemlich knapp bei Kasse war.«

Mittwoch, 18. Juni 1975

Seit Harry in Aurora wohnte, brauchte Jenny Quinn morgens eine geschlagene Stunde länger, um sich fertig zu machen. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Noch nie zuvor hatte sie so etwas erlebt. Er war der Mann ihres Lebens, das wusste sie. Er war der, auf den sie immer gewartet hatte. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, malte sie sich ihre gemeinsame Zukunft aus: ihre triumphale Hochzeit, ihr Leben in New York. Goose Cove würde zu ihrem Sommerhaus werden, er könnte dort in Ruhe seine Manuskripte überarbeiten, und sie würde ihre Eltern besuchen. Er war der Mann, der sie aus Aurora herausholen würde. Sie würde nie wieder die schmierigen Tische und Toiletten dieses Hinterwäldlerrestaurants putzen müssen, sondern am Broadway Karriere machen und in Kalifornien Filme drehen. Die Zeitungen würden über sie als Paar berichten.

Sie bildete sich das nicht ein, ihre Phantasie spielte ihr keinen Streich: Es war ganz offensichtlich etwas zwischen ihr und Harry. Er liebte sie auch, daran bestand kein Zweifel. Warum sonst kam er jeden Tag ins Clark’s? Jeden Tag! Und ihre Gespräche an der Theke! Ach, wie sie es liebte, wenn er sich ihr gegenüber hinsetzte, um ein wenig mit ihr zu plaudern! Er war anders als alle Männer, die sie bisher kennengelernt hatte, viel reifer. Ihre Mutter hatte den Kellnerinnen ja Anweisungen erteilt und ihnen insbesondere verboten, mit Harry zu reden oder ihn abzulenken, und sie hatte Jenny zu Hause schon so manches Mal gemaßregelt, weil sie ihr Betragen ihm gegenüber unpassend fand. Aber ihre Mutter begriff überhaupt nichts. Sie verstand nicht, dass Harry sie so sehr liebte, dass er ein Buch über sie schrieb.

Schon seit Tagen ahnte Jenny etwas in dieser Richtung, und an diesem Morgen wurde ihre Ahnung zur Gewissheit. Bei Tagesanbruch erschien Harry im Clark’s, genauer gesagt, um sechs Uhr dreißig, kurz nach der Öffnung. Er kam nur selten so früh. Normalerweise ließen sich um diese Uhrzeit nur Fernfahrer und Vertreter blicken. Kaum hatte er sich an seinem angestammten Platz niedergelassen, fing er wie ein Verrückter an zu schreiben. Er legte sich dabei fast aufs Papier, als befürchtete er, jemand könnte das Geschriebene sehen. Ab und zu hielt er inne und betrachtete sie lange. Sie tat zwar, als merkte sie nichts, aber sie wusste, dass er sie mit den Augen verschlang. Zuerst hatte sie sich seine durchdringenden Blicke nicht erklären können. Erst kurz vor Mittag begriff sie, dass er ein Buch über sie schrieb. Ja, um sie, Jenny Quinn, drehte sich alles im neuen Meisterwerk von Harry Quebert. Deshalb wollte er nicht, dass man seine Notizen sah. Kaum war ihr das klar geworden, spürte sie, wie eine gewaltige Erregung sie erfasste. Zur Mittagszeit nutzte sie die Gelegenheit, ihm die Karte zu bringen und ein wenig mit ihm zu plaudern.

Er hatte den ganzen Vormittag damit verbracht, die vier Buchstaben ihres Vornamens zu schreiben: N-O-L-A. Ihr Bild ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, ihr Gesicht beherrschte sein Denken. Ab und zu schloss er die Augen, um sie sich zu vergegenwärtigen. Gleich darauf wehrte er sich wieder dagegen und starrte Jenny an in der Hoffnung, Nola darüber zu vergessen. Jenny war eine sehr attraktive Frau, warum konnte er nicht sie lieben?

Als er Jenny kurz vor zwölf Uhr mit der Karte und einem Kaffee auf sich zukommen sah, deckte er seine Notizen mit einem leeren Blatt Papier zu, wie er es immer tat, wenn sich jemand näherte.

»Es ist Zeit, etwas zu essen, Harry«, befahl Jenny in allzu mütterlichem Ton. »Bis auf gut anderthalb Liter Kaffee haben Sie den ganzen Vormittag nichts zu sich genommen. Mit so einem leeren Bauch kriegen Sie Sodbrennen.«

Er zwang sich dazu, ein höfliches Lächeln aufzusetzen und sich auf ein kurzes Gespräch mit ihr einzulassen. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Rasch wischte er ihn mit dem Handrücken ab.

»Ihnen ist ja heiß, Harry. Sie arbeiten zu viel!«

»Schon möglich.«

»Und? Sind Sie inspiriert?«

»Ja. Zurzeit läuft es nicht schlecht, würde ich sagen.«

»Sie haben den ganzen Vormittag nicht einmal aufgeblickt.«

»In der Tat.«

Jenny lächelte vielsagend, um ihm klarzumachen, dass sie alles über das Buch wusste. »Harry … Ich weiß, es ist gewagt, aber … Dürfte ich es lesen? Nur ein paar Seiten? Ich bin so gespannt, was Sie schreiben. Es müssen wunderschöne Worte sein.«

»Es ist noch nicht soweit.«

»Oh, es ist bestimmt schon ganz phantastisch.«

»Mal sehen, vielleicht später.«

Wieder lächelte sie. »Ich bringe Ihnen zur Erfrischung eine Limonade. Möchten Sie etwas essen?«

»Eier mit Speck, bitte.«

Sofort entschwand Jenny in die Küche und trällerte dem Koch zu: Eier und Speck für den grrroßen Schriftsteller! Ihre Mutter, die sie im Speisesaal hatte schwatzen sehen, rief sie zur Ordnung: »Jenny, ich möchte, dass du aufhörst, Mr Quebert zu belästigen!«

»Belästigen? Ach, Mom, du hast ja keine Ahnung: Ich inspiriere ihn.«

Tamara Quinn betrachtete ihre Tochter skeptisch. Sehr überzeugt wirkte sie nicht. Ihre Jenny war ja ein nettes Mädchen, aber viel zu blauäugig. »Wer hat dir denn diese Flausen in den Kopf gesetzt?«

»Ich weiß, dass Harry auf mich steht, Mom. Und ich glaube, dass ich in seinem Buch eine wichtige Rolle spiele. Ja, Mom, deine Tochter wird nicht ihr Leben lang Eier mit Speck und Kaffee servieren. Aus deiner Tochter wird mal was.«

»Was faselst du da?«

Jenny übertrieb ein wenig, damit ihre Mutter es auch wirklich kapierte. »Das mit Harry und mir … bald ist es offiziell«, verkündete sie triumphierend. Kokett machte sie kehrt und stolzierte wie eine First Lady zurück in den Speisesaal.

Tamara Quinn konnte sich ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen: Sollte es ihrer Tochter tatsächlich gelingen, sich Quebert zu schnappen, würde man im ganzen Land über das Clark’s reden. Wer weiß, die Hochzeit konnte doch vor Ort stattfinden, sie würde Harry die Idee schon schmackhaft machen. Das Viertel abgeriegelt, große weiße Zelte auf der Straße, handverlesene Gäste; die halbe New Yorker Hautevolee, Dutzende Journalisten, die über das Ereignis berichteten, und nicht enden wollendes Blitzlichtgewitter. Den Mann schickte der Himmel!

An diesem Tag verließ Harry das Clark’s um sechzehn Uhr überstürzt, als hätte er die Zeit vergessen. Er sprang in seinen vor dem Restaurant geparkten Wagen und fuhr schnell los. Er wollte nicht zu spät kommen, er wollte sie nicht verpassen. Kurz nachdem er weggefahren war, hielt ein Streifenwagen aus Aurora auf dem frei gewordenen Platz. Der Polizeibeamte Travis Dawn umklammerte nervös das Lenkrad und warf durchs Fenster unauffällig einen Blick ins Innere des Restaurants. Es herrschte noch zu viel Betrieb, deshalb wagte er sich nicht hinein. Er nutzte die Wartezeit, um den Satz einzustudieren, den er sich zurechtgelegt hatte. Ein einziger Satz nur, das würde er schon hinkriegen. Er durfte nur nicht so schüchtern sein. Ein läppischer Satz aus kaum mehr als zehn Wörtern. Er blickte in den Rückspiegel und sagte laut: Kuten Tag, Jenny, ich dachte, wir gönnten am Samstag vielleicht ins Gino kehen … Er fluchte: So ging das nicht! Ein einziger, harmloser Satz, und er brachte es nicht fertig, sich den richtig zu merken! Er faltete ein Papier auseinander und las, was er daraufgeschrieben hatte:

Guten Tag, Jenny,
wenn du freihast, könnten wir doch vielleicht am Samstagabend in Montburry ins Kino gehen.

Das war doch nicht so schwer. Er musste nur ins Clark’s gehen, sich mit einem Lächeln an die Theke setzen und einen Kaffee bestellen. Während sie dann seine Tasse füllte, musste er den Satz sagen. Er brachte seine Haare in Ordnung und tat dann so, als würde er ins Mikrofon seines Bordfunkgeräts sprechen, damit er beschäftigt wirkte, falls ihn jemand sah. Er wartete zehn Minuten. Vier Gäste verließen gleichzeitig das Clark’s. Jetzt war der Weg frei. Sein Herz pochte wie verrückt: Er spürte das Klopfen in der Brust, in den Händen, im Kopf, ja sogar die Fingerspitzen schienen bei jedem Herzschlag zu zucken. Das Stück Papier in der Faust, stieg Travis aus dem Wagen. Er liebte Jenny. Schon seit der Highschool. Sie war die wunderbarste Frau, die er je gesehen hatte. Ihretwegen war er in Aurora geblieben. Auf der Polizeiakademie war man wegen seiner besonderen Eignung auf ihn aufmerksam geworden und hatte ihm geraten, nach Höherem als der Ortspolizei zu streben. Von der State Police, ja sogar von der Federal Police war die Rede gewesen! Ein Typ aus Washington hatte zu ihm gesagt: »Mein Junge, vergeude deine Zeit nicht in diesem gottverlassenen Kaff. Das FBI sucht Leute. Und das FBI, das ist doch was, oder?« Das FBI! Man hatte ihm zum FBI geraten! Vielleicht hätte er sogar um Aufnahme beim hoch angesehenen Secret Service ersuchen können, der mit dem Schutz des Präsidenten und anderer hochrangiger Persönlichkeiten des Landes beauftragt war. Aber da war diese junge Frau, die in Aurora im Clark’s bediente, dieses Mädchen, in das er schon immer verliebt gewesen war, sodass er stets gehofft hatte, dass es eines Tages den Blick auf ihn richten würde: Jenny Quinn. Also hatte er darum gebeten, bei der Polizei in Aurora eingesetzt zu werden. Ohne Jenny hatte sein Leben keinen Sinn. Vor der Tür des Restaurants holte er tief Luft und trat ein.

Sie dachte an Harry, während sie mechanisch Tassen abtrocknete, die längst trocken waren. In letzter Zeit brach er immer schon gegen sechzehn Uhr auf. Sie fragte sich, wohin er wohl so regelmäßig ging. Ob er eine Verabredung hatte? Aber mit wem? Ein Gast setzte sich an die Theke und riss sie aus ihren Träumereien. »Guten Tag, Jenny.«

Es war Travis, ihr netter Schulkamerad von der Highschool, der Polizist geworden war.

»Hallo, Travis. Möchtest du einen Kaffee?«

»Gern.«

Er schloss kurz die Augen, um sich zu konzentrieren. Er musste ihr diesen Satz sagen. Sie stellte eine Tasse vor ihn hin und schenkte Kaffee ein. Der Augenblick war gekommen: Jetzt musste er es wagen. »Jenny … Ich wollte dir sagen …«

»Was?«

Sie heftete ihre großen hellen Augen fest auf seine und brachte ihn dadurch völlig aus der Fassung. Wie ging der Satz bloß weiter? Ach ja, das Kino …

»Das Kino«, sagte er.

»Was ist mit dem Kino?«

»Ich … Im Kino von Manchester gab es einen Raubüberfall.«

»Ach, wirklich? Ein Raubüberfall in einem Kino? Komische Geschichte.«

»Auf dem Postamt von Manchester, wollte ich sagen.«

Warum zum Teufel hatte er nur von diesem Raubüberfall angefangen? Das Kino! Es ging ums Kino!

»Auf dem Postamt oder im Kino?«, wollte Jenny wissen.

Das Kino. Das Kino. Das Kino. Rede über das Kino! Sein Herz explodierte fast. Er unternahm noch einen Anlauf: »Jenny … Ich wollte … Na ja, ich habe mir gesagt … Also, wenn du möchtest …«

In diesem Augenblick rief Tamara aus der Küche nach ihrer Tochter, und Jenny musste seinen Vortrag unterbrechen.

»Entschuldige, Travis, aber ich muss zu ihr. Mutter hat zurzeit miese Laune.«

Die junge Frau verschwand hinter der Schwingtür, ohne dem jungen Polizisten Zeit zu lassen, seinen Satz zu beenden. Mit einem Seufzer murmelte er: Wenn du freihast, könnten wir am Samstagabend doch vielleicht in Montburry ins Kino gehen. Dann legte er fünf Dollar für einen Kaffee zu fünfzig Cent, den er noch nicht einmal getrunken hatte, auf den Tresen und verließ niedergeschlagen das Clark’s.

»Wo wollten Sie an all den Tagen um sechzehn Uhr hin, Harry?«, fragte ich.

Er antwortete mir nicht gleich. Stattdessen blickte er aus dem nahen Fenster, und mir schien, dass er dabei versonnen lächelte. Schließlich sagte er: »Ich musste sie unbedingt sehen …«

»Nola, oder?«

»Ja. Wissen Sie, Jenny war toll, aber sie war eben nicht Nola. Mit Nola zusammen zu sein hieß, wirklich zu leben. Anders könnte ich es nicht umschreiben. Jede mit ihr verbrachte Sekunde war eine aus dem Vollen gelebte Sekunde. Und ich glaube, genau das ist Liebe. Ihr Lachen, Marcus, ihr Lachen höre ich seit dreiunddreißig Jahren jeden Tag in meinem Kopf. Ihr außergewöhnlicher Blick, ihre vor Leben sprühenden Augen, ich sehe sie immerzu vor mir … Genau wie ihre Gesten, ihre Art, sich das Haar zu richten oder sich auf die Lippen zu beißen. Ihre Stimme erklingt in mir, und manchmal ist es, als wäre sie da. Wenn ich in die Stadtmitte, zum Jachthafen oder zum Laden fahre, sehe ich sie vor mir, wie sie mit mir über das Leben und über Bücher plaudert. Im Juni 1975 war noch nicht einmal ein Monat vergangen, seit sie in mein Leben getreten war, und trotzdem hatte ich das Gefühl, sie wäre schon immer ein Teil davon gewesen. Wenn sie nicht da war, kam es mir so vor, als hätte nichts einen Sinn: Ein Tag ohne Nola war ein verlorener Tag. Mein Bedürfnis, sie zu sehen, war so stark, dass ich nicht bis Samstag warten konnte. Also habe ich damit angefangen, sie am Ausgang der Highschool abzupassen. Das hatte ich vor, wenn ich um sechzehn Uhr das Clark’s verlassen habe! Ich habe mich ins Auto gesetzt und bin zur Highschool von Aurora gefahren. Dort habe ich mich direkt vor dem Haupteingang auf den Lehrerparkplatz gestellt, mich im Wagen versteckt und darauf gewartet, dass sie herauskam. Sobald sie auftauchte, fühlte ich mich viel lebendiger, viel kraftvoller. Sie zu sehen reichte mir zu meinem Glück. Ich ließ sie nicht aus den Augen, bis sie in den Schulbus stieg, und blieb so lange dort stehen, bis der Bus verschwunden war. War ich damals verrückt, Marcus?«

»Nein, ich glaube nicht, Harry.«

»Ich weiß nur, dass Nola in mir lebte, und zwar im wahrsten Sinn des Wortes. Dann war wieder Samstag, und dieser Samstag war ein herrlicher Tag. Das schöne Wetter hatte die Leute an den Strand gelockt, das Clark’s war wie ausgestorben, und Nola und ich haben uns lange unterhalten. Sie hat gesagt, sie hätte viel über mich und mein Buch nachgedacht und das, an dem ich gerade schrieb, würde bestimmt ein großes Meisterwerk. Als ihre Schicht um achtzehn Uhr zu Ende war, habe ich angeboten, sie nach Hause zu fahren. Ich habe sie einen Block von ihrem Elternhaus entfernt in einer einsamen Straße abgesetzt, damit sie keinen neugierigen Blicken ausgesetzt war. Sie hat mich gefragt, ob ich ein paar Schritte mit ihr gehen wollte, aber ich habe ihr erklärt, das sei kompliziert, die ganze Stadt würde sich das Maul zerreißen, wenn man uns zusammen spazieren gehen sah. Ich weiß noch, dass sie darauf geantwortet hat: ›Spazierengehen ist kein Verbrechen, Harry …‹ – ›Ich weiß, Nola. Aber ich glaube, die Leute würden sich Fragen stellen.‹ Da hat sie ein bisschen geschmollt. ›Ich bin doch so gerne mit Ihnen zusammen Harry! Sie sind ein ganz besonderer Mensch. Es wäre schön, wenn wir ein bisschen beieinander sein könnten, ohne uns verstecken zu müssen.‹«

Samstag, 28. Juni 1975

Ein Uhr mittags. Jenny Quinn hatte im Clark’s hinter der Theke zu tun. Jedes Mal, wenn die Tür des Restaurants aufging, zuckte sie zusammen und hoffte, dass er es war. Aber er war es nie. Jenny war nervös und sehr angespannt. Wieder fiel die Tür ins Schloss, aber auch diesmal war es nicht Harry, sondern ihre Mutter Tamara. Sie wunderte sich über die Aufmachung ihrer Tochter: Jenny hatte ein entzückendes cremefarbenes Kostüm an, das sie sonst nur zu besonderen Gelegenheiten trug.

»Warum hast du das an, mein Schatz?«, wollte Tamara wissen. »Wo ist deine Schürze?«

»Vielleicht habe ich keine Lust mehr, deine scheußlichen Schürzen zu tragen, weil sie mich hässlich machen? Ich habe doch das Recht, ab und zu ein bisschen hübsch auszusehen, oder nicht? Glaubst du, es macht mir Spaß, den ganzen Tag Steaks zu servieren?«

Jenny hatte Tränen in den Augen.

»Was ist denn los?«, fragte ihre Mutter.

»Es ist Samstag, und normalerweise arbeite ich samstags nicht! Ich arbeite am Wochenende nie!«

»Aber du hast selbst darauf bestanden, für Nola einzuspringen, als sie mich gefragt hat, ob sie heute freinehmen kann.«

»Ja, kann sein, was weiß ich. Ach, Mom, ich bin so unglücklich!«

Jenny spielte mit einer Ketchupflasche, und plötzlich rutschte sie ihr aus der Hand. Die Flasche zerbrach und überzog ihre blütenweißen Tennisschuhe mit roten Spritzern. Jenny fing an zu schluchzen.

»Aber was ist denn mit dir los, mein Schatz?«, fragte ihre Mutter besorgt.

»Ich warte auf Harry, Mom! Er kommt doch sonst immer am Samstag … Warum ist er dann heute nicht hier? Ach, Mom, ich bin so eine dumme Kuh! Wie konnte ich mir nur einbilden, dass er mich liebt? Ein Mann wie Harry würde nie eine gewöhnliche kleine Kellnerin aus einem Hamburgerrestaurant nehmen! Was bin ich für ein dummes Huhn!«

»Ach was, sag so etwas nicht«, tröstete Tamara sie und umarmte sie. »Geh dich amüsieren, nimm dir den Tag frei! Ich vertrete dich. Ich will nicht, dass du weinst. Du bist ein wunderbares Mädchen, und ich bin mir sicher, dass Harry in dich verschossen ist.«

»Aber warum ist er dann nicht hier?«

Die Mutter überlegte kurz. »Wusste er denn, dass du heute arbeitest? Du arbeitest sonst nie am Samstag. Warum sollte er kommen, wenn du nicht da bist? Weißt du, was ich glaube, mein Schatz? Harry ist samstags bestimmt immer sehr unglücklich, weil er dich an dem Tag nicht sehen kann.«

Jennys Miene hellte sich auf. »Ach, Mom, warum bin ich nicht selber darauf gekommen?«

»Du solltest ihn zu Hause besuchen. Ich bin mir sicher, er freut sich sehr, dich zu sehen.«

Jenny strahlte. Was für eine wunderbare Idee von ihrer Mutter! Sie würde Harry in Goose Cove besuchen und ihm ein schönes Picknick mitbringen. Der Arme arbeitete hart und hatte darüber bestimmt das Mittagessen vergessen. Sie eilte in die Küche, um etwas Proviant zusammenzusuchen.

Zur selben Zeit machten Harry und Nola hundertzwanzig Meilen entfernt an der Strandpromenade des Städtchens Rockland in Maine ein Picknick. Nola warf ein paar riesigen, heiser kreischenden Möwen Brotkrumen zu.

»Ich liebe Möwen!«, rief sie. »Möwen sind meine Lieblingsvögel. Vielleicht weil ich das Meer liebe und das Meer immer dort ist, wo die Möwen sind. Das stimmt wirklich: Selbst wenn die Sicht durch Bäume versperrt ist, erinnern uns die Möwen am Himmel daran, dass das Meer gleich dahinter liegt. Kommen in Ihrem Buch auch Möwen vor, Harry?«

»Wenn du das möchtest. Ich schreibe alles in das Buch, was du willst.«

»Wovon handelt es?«

»Das würde ich dir gern sagen, aber ich kann nicht.«

»Ist es eine Liebesgeschichte?«

»In gewisser Weise.« Er musterte sie amüsiert. Er hielt ein Heft in der Hand und versuchte die Szene mit Bleistift einzufangen.

»Was machen Sie da?«, fragte sie.

»Eine Skizze.«

»Sie zeichnen auch? Sie können wirklich alles! Zeigen Sie her, ich möchte sie sehen!«

Sie rückte näher und war von der Zeichnung hellauf begeistert. »Wie schön sie ist, Harry! Sie sind so begabt!«

In einem Anfall von Zärtlichkeit schmiegte sie sich an ihn, doch er schob sie reflexartig weg und schaute sich um, weil er wissen wollte, ob jemand sie gesehen hatte.

»Warum tun Sie das?«, begehrte Nola auf. »Schämen Sie sich etwa meinetwegen?«

»Nola, du bist fünfzehn, und ich bin vierunddreißig. Die Leute würden das nicht gutheißen.«

»Das sind alles Idioten!«

Er lachte und hielt ihr wütendes Gesicht mit ein paar Zeichenstrichen fest. Wieder lehnte sie sich an ihn, und diesmal ließ er es zu. Gemeinsam schauten sie den Möwen zu, wie sie sich um die Brotkrumen zankten.

Sie hatten sich vor ein paar Tagen zu diesem Ausflug entschlossen. Er hatte sie nach der Schule unweit ihres Elternhauses an der Bushaltestelle abgepasst. Sie war überglücklich und zugleich erstaunt gewesen, ihn zu sehen.

»Harry? Was tun Sie hier?«, hatte sie gefragt.

»Das weiß ich auch nicht, aber ich hatte Lust, dich zu sehen. Ich … Weißt du, Nola, ich habe über deine Idee nachgedacht.«

»Zeit zu zweit zu verbringen?«

»Genau. Ich habe mir überlegt, dass wir am Wochenende irgendwohin fahren könnten. Nicht weit. Nach Rockland zum Beispiel. Dort kennt uns keiner, und wir könnten uns freier fühlen. Natürlich nur, wenn du Lust hast.«

»Oh, Harry, das wäre großartig! Aber es müsste am Samstag sein, weil ich am Sonntag den Gottesdienst nicht versäumen darf.«

»Dann also am Samstag. Kannst du es einrichten, dass du freikriegst?«

»Natürlich! Ich werde Mrs Quinn um einen freien Tag bitten. Und meinen Eltern werde ich schon irgendwas erzählen. Seien Sie unbesorgt.«

Meinen Eltern werde ich schon irgendwas erzählen. Bei diesen Worten hatte er sich gefragt, was bloß in ihn gefahren war, sich in einen Teenager zu vernarren. Auch jetzt, am Strand von Rockland, dachte er über sie beide nach.

»Woran denken Sie gerade, Harry?«, fragte Nola, noch immer an ihn geschmiegt.

»Daran, was wir gerade tun.«

»Was ist Schlimmes daran?«

»Das weißt du genau. Oder vielleicht auch nicht. Was hast du deinen Eltern erzählt?«

»Sie glauben, dass ich mit meiner Freundin Nancy Hattaway zusammen bin und dass wir heute Morgen so früh aufgebrochen sind, um den ganzen Tag auf dem Boot von Teddy Bapsts Vater zu verbringen. Teddy ist Nancys Freund.«

»Und wo ist Nancy?«

»Mit Teddy auf dem Boot. Allein. Sie hat behauptet, dass ich dabei bin, damit Teddys Eltern die beiden allein fahren lassen.«

»Ihre Mutter glaubt also, sie wäre mit dir zusammen, und deine glaubt, du wärst mit Nancy zusammen, und falls sie miteinander telefonieren, bestätigen sie sich das gegenseitig.«

»Genau. Der Plan ist bombensicher. Ich muss um zwanzig Uhr zu Hause sein. Haben wir noch Zeit, tanzen zu gehen? Ich würde so gerne mit Ihnen tanzen.«

Um fünfzehn Uhr traf Jenny in Goose Cove ein. Als sie vor dem Haus parkte, stellte sie fest, dass der schwarze Chevrolet nicht da war. Harry war offenbar weggefahren. Trotzdem klingelte sie: Wie zu erwarten, öffnete niemand. Sie ging ums Haus herum, um nachzusehen, ob er vielleicht auf der Terrasse saß, aber auch dort war niemand. Irgendwann beschloss sie, ins Haus zu gehen. Bestimmt war Harry nur frische Luft schnappen. Er arbeitete in letzter Zeit viel, er brauchte ab und zu eine Pause. Er würde sich sicher freuen, wenn er bei seiner Rückkehr auf dem Tisch einen schönen Imbiss vorfand: Sandwiches mit kaltem Braten, Eier, Käse, rohes Gemüse mit einer Kräutersoße zum Dippen, deren Rezept sie wie ein Geheimnis hütete, ein Stück Torte und saftiges Obst.

Jenny hatte das Haus in Goose Cove noch nie von innen gesehen. Sie fand alles prachtvoll. Das Haus war riesengroß und geschmackvoll eingerichtet; es hatte Sichtbalkendecken, große Bücherregale an den Wänden, lackierte Parkettböden und große Panoramafenster, die einen unverstellten Ausblick auf das Meer boten. Unweigerlich malte sie sich aus, wie sie hier mit Harry leben würde: im Sommer Frühstück auf der Terrasse, im Winter schön im Warmen aneinandergekuschelt am Wohnzimmerkamin, wo er ihr Passagen aus seinem neuen Roman vorlas. Warum eigentlich New York? Sie könnten auch hier zusammen glücklich sein. Sie wären sich selbst genug und würden nichts weiter brauchen. Sie stellte den Imbiss mit etwas Geschirr, das sie in einem Schrank fand, im Esszimmer auf den Tisch und setzte sich in einen Sessel, um auf ihn zu warten. Sie wollte ihn überraschen.

Geduldig wartete sie eine Stunde. Wo steckte er nur? Als ihr langweilig wurde, beschloss sie, sich den Rest des Hauses anzusehen. Der erste Raum, den sie betrat, war das Arbeitszimmer im Erdgeschoss. Es war eher winzig, aber gut ausgestattet mit einem Schrank, einem Sekretär aus Ebenholz, einer Bücherwand und einem großen Holzpult, auf dem Papiere und Stifte verstreut lagen. Dort also arbeitete Harry. Sie trat ans Pult, um einen Blick darauf zu werfen, nichts weiter. Sie wollte sein Werk nicht entweihen, sein Vertrauen nicht missbrauchen, sondern nur sehen, was er den lieben langen Tag schrieb. Außerdem würde nie jemand davon erfahren. Von der Rechtmäßigkeit ihres Tuns überzeugt, nahm sie das oberste Blatt vom Stapel und las mit klopfendem Herzen. Die ersten Zeilen waren mit schwarzem Filzstift durchgestrichen, sodass sie sie nicht entziffern konnte. Doch danach las sie klar und deutlich:

Ich gehe nur ins Clark’s, um sie zu sehen. Ich gehe nur hin, um in ihrer Nähe zu sein. Sie ist alles, was ich mir immer erträumt habe. Ich bin von ihr besessen. Sie beherrscht mein Denken. Dabei habe ich nicht das Recht dazu. Ich sollte es nicht tun. Ich sollte nicht dorthin gehen, ich sollte nicht einmal in dieser Unglücksstadt bleiben. Ich sollte fortgehen, fliehen, nie zurückkehren. Ich habe nicht das Recht, sie zu lieben. Es ist verboten. Bin ich verrückt?

Vor Glück strahlend, küsste Jenny das Papier und presste es an ihre Brust. Dann machte sie ein paar Tanzschritte und rief: »Harry, mein Liebster, Sie sind nicht verrückt! Ich liebe Sie auch, und Sie haben alles Recht der Welt auf mich. Fliehen Sie nicht, mein Liebster! Ich liebe Sie so!« Was für eine aufregende Entdeckung! Aus Angst, ertappt zu werden, legte sie das Blatt rasch wieder aufs Pult und ging zurück ins Wohnzimmer. Dort streckte sie sich auf dem Sofa aus, schob den Rock hoch, sodass ihre Schenkel zu sehen waren, und knöpfte die Kostümjacke auf, bis ihre Brüste hervorlugten. Noch nie hatte jemand etwas so Schönes für sie geschrieben. Sobald er zurückkam, würde sie sich ihm hingeben. Sie würde ihm ihre Jungfräulichkeit schenken.

Im selben Augenblick betrat David Kellergan das Clark’s, setzte sich an die Theke und bestellte wie immer einen großen lauwarmen Granatapfel-Milkshake.

»Ihre Tochter ist heute nicht hier, Reverend«, sagte Tamara Quinn zu ihm, als sie ihn bediente. »Sie hat sich freigenommen.«

»Das weiß ich, Mrs Quinn. Sie ist mit Freunden auf dem Meer. Sie ist in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen. Ich habe ihr angeboten, sie zu fahren, aber das hat sie abgelehnt. Sie hat gesagt, ich soll im Bett bleiben und mich ausruhen. Sie ist so ein liebes kleines Ding.«

»Sie haben völlig recht, Reverend. Ich bin mit ihr auch hochzufrieden.«

Als David Kellergan lächelte, betrachtete Tamara den kleinen, leutseligen Mann mit dem sanften Gesicht und den runden Brillengläsern einen Augenblick. Er musste um die fünfzig sein, war von schlankem, fast zartgliedrigem Wuchs, und doch ging von ihm eine große Kraft aus. Seine Stimme war ruhig und bedächtig, und er wurde niemals laut. Sie schätzte ihn sehr, wie übrigens alle in der Stadt. Und sie mochte seine Predigten, auch wenn er mit dem abgehackten Akzent des Südens sprach. Seine Tochter kam ganz nach ihm: sanftmütig, freundlich, gefällig, zuvorkommend. David und Nola Kellergan waren gute Menschen, gute Amerikaner und gute Christen. Sie waren in Aurora sehr beliebt.

»Wie lange leben Sie jetzt in Aurora, Reverend?«, fragte Tamara Quinn. »Mir kommt es vor, als wären Sie schon immer hier.«

»Bald sechs Jahre, Mrs Quinn. Sechs schöne Jahre.« Der Reverend ließ den Blick kurz über die anderen Gäste wandern, und als Stammgast fiel ihm auf, dass Tisch 17 nicht besetzt war.

»Nanu!«, entfuhr es ihm. »Der Schriftsteller ist nicht da? Das kommt eher selten vor, oder?«

»Ja, er ist heute nicht hier. Was für ein charmanter Mann!«

»Mir ist er auch sehr sympathisch. Ich habe ihn hier kennengelernt. Er hat sich in der Highschool netterweise die Aufführung zum Schuljahresende angesehen. Ich würde ihn gerne als Gemeindemitglied gewinnen. Wir brauchen Persönlichkeiten wie ihn, um diese Stadt voranzubringen.«

Tamara musste an ihre Tochter denken und konnte es sich nicht verkneifen, ihm die große Neuigkeit mitzuteilen: »Erzählen Sie es niemandem, Reverend, aber zwischen ihm und meiner Jenny läuft etwas.«

David Kellergan lächelte und trank einen großen Schluck von seinem Milkshake.

Achtzehn Uhr in Rockland. Sonnendurchwärmt nippten Harry und Nola auf einer Terrasse an ihren Fruchtsäften. Nola wollte, dass Harry ihr von seinem Leben in New York erzählte. Sie wollte alles wissen. »Erzählen Sie es mir«, verlangte sie. »Erzählen Sie mir, wie es ist, dort ein Star zu sein.« Ihm war klar, dass sie sich ein Leben voller Cocktailpartys vorstellte. Was sollte er ihr also erzählen? Dass er überhaupt nicht der war, für den man ihn in Aurora hielt? Dass ihn in New York niemand kannte? Dass sein erstes Buch keinen Erfolg gehabt hatte und er bis vor Kurzem ein ziemlich uninteressanter Lehrer an einer Highschool gewesen war? Dass er fast kein Geld mehr hatte, weil all seine Ersparnisse für die Miete von Goose Cove draufgegangen waren? Dass er nichts zu Papier brachte? Dass er ein Hochstapler war? Dass der großartige Harry Quebert, der renommierte Schriftsteller, der in einer Luxusvilla am Meer wohnte und seine Tage damit verbrachte, in Cafés herumzusitzen und zu schreiben, nur einen Sommer lang existieren würde? Aber wenn er ihr aus lauter Anstand die Wahrheit sagte, lief er Gefahr, sie zu verlieren. Also beschloss er, draufloszuphantasieren und die Rolle seines Lebens weiterzuspielen: die des talentierten, angesehenen, der roten Teppiche und der Hektik New Yorks überdrüssigen Genies, das es auf der Suche nach der nötigen Erholung in eine Kleinstadt New Hampshires verschlagen hatte.

»Sie haben so ein Glück, Harry!«, staunte sie, während sie seinen Beschreibungen lauschte. »Was für ein aufregendes Leben Sie führen! Manchmal möchte ich davonfliegen, weit weg von hier, weit weg von Aurora. Ich ersticke hier nämlich. Meine Eltern sind schwierig. Mein Vater ist ein guter Mensch, aber er ist eben auch ein Kirchenmann und hat so seine Vorstellungen. Und meine Mutter ist so streng zu mir! Man könnte meinen, sie wäre selber nie jung gewesen. Und dann jeden Sonntagmorgen in die Kirche, das ödet mich an! Ich weiß nicht, ob ich an Gott glaube. Glauben Sie an Gott, Harry? Wenn Sie an Gott glauben, glaube ich auch an ihn.«

»Ich weiß es nicht, Nola. Ich weiß es nicht mehr.«

»Meine Mutter sagt, man muss an Gott glauben, sonst bestraft er uns hart. Manchmal sage ich mir, dass es im Zweifelsfall besser ist zu gehorchen.«

»Weißt du«, erwiderte Harry, »der Einzige, der weiß, ob Gott existiert oder nicht, ist Gott selbst.«

Darüber musste sie lachen. Es war ein naives, unschuldiges Lachen. Vorsichtig nahm sie seine Hand und fragte: »Hat man das Recht, seine Mutter nicht zu lieben?«

»Ich denke schon. Liebe ist keine Pflicht.«

»Aber in den Zehn Geboten steht: Du sollst deine Eltern lieben. Es ist das vierte oder fünfte, genau weiß ich es nicht. Aber im ersten Gebot heißt es auch, dass man an Gott glauben soll. Wenn ich nicht an Gott glaube, bin ich also auch nicht mehr verpflichtet, meine Mutter zu lieben, oder? Meine Mutter ist sehr streng. Manchmal sperrt sie mich in meinem Zimmer ein, weil sie mich schamlos findet. Dabei bin ich nicht schamlos, ich möchte nur frei sein. Ich möchte das Recht haben, ein bisschen zu träumen. Mein Gott, es ist schon achtzehn Uhr! Ach, könnte die Zeit doch stillstehen! Wir müssen zurück, und wir hatten nicht mal Zeit zu tanzen.«

»Wir werden tanzen, Nola. Wir haben noch unser ganzes Leben Zeit zu tanzen.«

Um zwanzig Uhr schreckte Jenny aus dem Schlaf auf. Beim Warten war sie auf dem Sofa eingedöst. Die Sonne ging gerade unter, es war Abend. Jenny lag mit gespreizten Beinen auf dem Diwan, in ihrem Mundwinkel glitzerte ein Speichelfaden, ihr Atem ging schwer. Rasch zog sie ihr Höschen hoch und knöpfte ihre Jacke wieder zu, dann packte sie hastig ihr Picknick ein und flüchtete tief beschämt aus dem Haus in Goose Cove.

Wenige Minuten später erreichten sie Aurora. Harry hielt in einer Gasse in der Nähe des Jachthafens, damit Nola sich mit ihrer Freundin Nancy treffen und beide zusammen nach Hause gehen konnten. Sie blieben noch einen Augenblick im Auto sitzen. Die kleine Straße war menschenleer, es wurde gerade dunkel. Nola zog ein Päckchen aus ihrer Handtasche.

»Was ist das?«, fragte Harry.

»Machen Sie es auf. Es ist ein Geschenk für Sie. Ich habe es in dem kleinen Laden in der Stadtmitte entdeckt, wo wir den Saft getrunken haben. Es ist ein Andenken, damit Sie diesen wunderschönen Tag nie vergessen.«

Er öffnete die Verpackung: Es war eine blau lackierte Blechdose mit der Aufschrift: SOUVENIR AUS ROCKLAND, MAINE.

»Darin können Sie trockenes Brot sammeln«, erklärte Nola, »und damit zu Hause die Möwen füttern. Möwen muss man füttern, das ist wichtig.«

»Danke. Ich verspreche dir, die Möwen immer zu füttern.«

»Und jetzt sagen Sie etwas Nettes zu mir, liebster Harry. Sagen Sie, dass ich Ihre allerliebste Nola bin.«

»Allerliebste Nola …«

Sie lächelte und näherte sich seinem Gesicht, um ihn zu küssen. Er wich abrupt zurück.

»Nola«, sagte er schroff, »das geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Das mit dir und mir, das wäre zu kompliziert.«

»Was wäre daran kompliziert?«

»Alles, Nola, alles. Deine Freundin wartet, es ist schon spät. Ich … Ich glaube, wir sollten uns nicht mehr sehen.«

Überstürzt stieg er aus dem Wagen, um ihr die Tür zu öffnen: Sie musste gehen, schnell: Es fiel ihm so schwer, ihr nicht zu sagen, wie sehr er sie liebte.

»Diese Brotdose in der Küche ist also ein Souvenir von Ihrem Tagesausflug nach Rockland?«, fragte ich.

»Richtig, Marcus. Ich füttere die Möwen, weil Nola mich damals darum gebeten hat.«

»Und was ist nach Rockland passiert?«

»Dieser Tag war so wunderschön gewesen, dass ich es mit der Angst bekommen habe. Es war wunderschön, aber viel zu kompliziert. Deshalb hatte ich beschlossen, mich von Nola fernzuhalten und auf ein anderes Mädchen auszuweichen. Auf ein Mädchen, das ich lieben durfte. Sie ahnen, auf wen?«

»Jenny.«

»Volltreffer.«

»Und?«

»Das erzähle ich Ihnen ein anderes Mal, Marcus. Wir haben viel geredet, ich bin müde.«

»Natürlich, das verstehe ich.« Ich schaltete das Aufnahmegerät aus.