11. August 1975
»Harry! Allerliebster Harry!« Sie kam mit dem Manuskript in der Hand ins Haus gelaufen. Es war früher Vormittag, noch nicht einmal neun Uhr. Harry stand in seinem Arbeitszimmer und wühlte in Papierstapeln. Sie stellte sich in den Türrahmen und schwenkte die Mappe mit den wertvollen Unterlagen.
»Wo war es?«, fragte Harry gereizt. »Wo zum Teufel hat das verdammte Manuskript gesteckt?«
»Entschuldigen Sie, mein allerliebster Harry … Bitte seien Sie mir nicht böse. Ich habe es gestern Abend mitgenommen. Sie haben schon geschlafen, und ich habe es mit nach Hause genommen, um es zu lesen. Das hätte ich nicht tun dürfen … Aber es ist so schön! Es ist großartig und so schön!«
»Es hat dir also gefallen?«
»Gefallen?«, rief sie. »Sie fragen mich, ob es mir gefallen hat? Ich bin hin und weg! Es ist das Schönste, was ich je gelesen habe. Sie sind ein außergewöhnlicher Schriftsteller! Dieses Buch wird ein ganz großes Buch! Und Sie werden berühmt, Harry. Hören Sie? Berühmt!«
Bei diesen Worten tanzte sie. Sie tanzte den Flur entlang bis ins Wohnzimmer und auf die Terrasse, denn sie war überglücklich. Sie richtete ihm den Tisch auf der Terrasse her: Sie wischte den Morgentau ab, breitete eine Tischdecke aus und bereitete seinen Arbeitsplatz mit Stiften, Heften, Entwürfen und handverlesenen Steinen vom Strand vor, die ihm als Briefbeschwerer dienten. Dann brachte sie Kaffee, Waffeln, Kekse und Obst und legte ein Kissen auf seinen Stuhl, damit er es bequem hatte. Sie vergewisserte sich, ob auch alles perfekt war, damit er unter bestmöglichen Umständen arbeiten konnte. Kaum hatte er sich an den Tisch gesetzt, verschwand sie im Haus. Sie machte den Haushalt und kochte das Essen. Sie kümmerte sich um alles, damit er sich ganz aufs Schreiben konzentrieren konnte. Zwischendurch las sie Zug um Zug seine handgeschriebenen Seiten, nahm die eine oder andere Korrektur vor und tippte den Text anschließend mit einer Leidenschaft und Hingabe wie die loyalste Sekretärin der Welt auf ihrer Remington ins Reine. Erst wenn sie alle Aufgaben erledigt hatte, gestattete sie es sich, sich in Harrys Nähe zu setzen, allerdings nicht zu nah, um ihn nicht zu stören, und dann sah sie ihm glücklich beim Schreiben zu. Sie war die Frau des Schriftstellers.
An diesem Tag brach sie kurz nach Mittag auf. Wie immer erteilte sie ihm Anweisungen, bevor sie ihn allein ließ: »Ich habe Sandwiches für Sie gemacht. Sie stehen in der Küche. Und im Kühlschrank ist Eistee. Essen Sie ordentlich. Und ruhen Sie sich ein wenig aus, sonst bekommen Sie Kopfschmerzen. Sie wissen ja, was passiert, wenn Sie zu viel arbeiten, allerliebster Harry. Sie kriegen eine scheußliche Migräne, und dann sind Sie so reizbar.« Sie schlang die Arme um ihn.
»Kommst du später wieder?«, wollte Harry wissen.
»Nein, Harry. Ich habe zu tun.«
»Zu tun? Was denn? Warum gehst du so früh?«
»Ich habe zu tun, Punkt. Wir Frauen müssen uns ein paar kleine Geheimnisse bewahren. Das habe ich in einer Zeitschrift gelesen.«
Er grinste. »Nola …«
»Ja?«
»Danke.«
»Wofür, Harry?«
»Für alles. Ich … Ich schreibe ein Buch und verdanke es dir, dass ich endlich dazu in der Lage bin.«
»Allerliebster Harry, ich möchte das mein ganzes Leben lang machen: mich um Sie kümmern, für Sie da sein, Ihnen bei Ihren Büchern helfen, mit Ihnen eine Familie gründen! Stellen Sie sich vor, wie glücklich wir alle zusammen wären! Wie viele Kinder wollen Sie, Harry?«
»Drei mindestens!«
»Ja! Oder auch vier! Zwei Jungs und zwei Mädchen, damit es nicht so viel Streit gibt. Ich möchte Mrs Nola Quebert werden! Die Frau, die auf ihren Mann so stolz ist wie keine andere auf der Welt!«
Sie verließ das Haus, ging die Auffahrt von Goose Cove und anschließend die Route 1 entlang. Auch diesmal bemerkte sie die im Dickicht versteckte Gestalt nicht, die ihr nachspionierte.
Zu Fuß brauchte sie eine halbe Stunde nach Aurora. Sie legte die Strecke zweimal täglich zurück. In der Stadt angekommen, bog sie in die Hauptstraße ein und folgte ihr zum kleinen Park, wo, wie vereinbart, Nancy Hattaway auf sie wartete.
»Warum ausgerechnet hier und nicht am Strand?«, maulte Nancy, als sie Nola sah. »Es ist so heiß!«
»Ich habe heute Nachmittag eine Verabredung …«
»Was? Sag bloß, du gehst wieder zu Stern!«
»Du sollst seinen Namen nicht sagen!«
»Du hast mich also wieder antreten lassen, damit ich dir ein Alibi verschaffe?«
»Komm schon, ich bitte dich, du musst mich decken …«
»Ständig soll ich dich decken!«
»Noch einmal! Nur noch ein einziges Mal! Bitte!«
»Geh nicht!«, beschwor Nancy sie. »Geh nicht zu diesem Kerl! Das muss ein Ende haben! Ich habe Angst um dich. Was macht ihr eigentlich bei ihm? Ihr habt Sex, oder? Ist es das?«
Nola setzte eine sanfte, beschwichtigende Miene auf. »Mach dir keine Sorgen, Nancy. Du deckst mich, okay? Versprich es mir! Du weißt, was passiert, wenn herauskommt, dass ich gelogen habe. Du weißt, was man dann zu Hause mit mir macht …«
Nancy seufzte resigniert. »Also gut. Ich warte hier, bis du zurück bist. Aber es darf nicht später als achtzehn Uhr dreißig werden, sonst krieg ich Ärger mit meiner Mutter.«
»Verstanden. Und falls man dir Fragen stellt – was haben wir gemacht?«
»Wir haben den ganzen Nachmittag hier verquatscht«, wiederholte Nancy wie ein Papagei. »Nola, ich habe es satt, für dich zu lügen!«, stöhnte sie. »Warum machst du das? Sag schon!«
»Weil ich ihn liebe! Ich liebe ihn so sehr! Für ihn würde ich alles tun!«
»Igitt, wie eklig! Ich will lieber gar nicht daran denken.«
Ein blauer Mustang tauchte in einer der Straßen auf, die an die Grünanlage grenzten, und hielt am Fahrbahnrand. Als Nola ihn erblickte, verkündete sie: »Da ist er. Ich muss los. Bis nachher, Nancy. Danke, du bist eine echte Freundin.«
Rasch lief sie zum Wagen und schlüpfte hinein. »Guten Tag, Luther«, sagte sie zum Fahrer, während sie sich auf die Rückbank setzte. Sofort fuhr der Wagen los und war gleich darauf verschwunden, ohne dass außer Nancy jemand etwas von diesem merkwürdigen Vorgang mitbekommen hatte.
Eine Stunde später fuhr der Mustang vor dem Herrenhaus von Elijah Stern in Concord vor. Luther führte das junge Mädchen ins Innere. Sie kannte den Weg bereits.
»Tfieh dich fon mal auf«, wies Luther sie höflich an. »Ich fage Mifter Ftern Befeid, daff du da bift.«
12. August 1975
Wie jeden Morgen seit der Reise nach Martha’s Vineyard, wo er seine Inspiration wiedergefunden hatte, stand Harry bei Tagesanbruch auf und ging joggen, bevor er sich an die Arbeit setzte.
Wie jeden Morgen lief er bis nach Aurora. Und wie jeden Morgen legte er am Jachthafen eine Pause ein, um ein paar Liegestütze zu machen. Es war noch nicht einmal sechs Uhr. Die Stadt schlief. Er war absichtlich nicht am Clark’s vorbeigelaufen, das um diese Zeit öffnete, weil er Jenny nicht begegnen wollte. Sie war toll und hatte es nicht verdient, so von ihm behandelt zu werden. Eine Weile betrachtete er gedankenverloren den Ozean, der im Morgenlicht in den unglaublichsten Farben badete. Als er seinen Namen hörte, fuhr er zusammen.
»Harry? Es stimmt also: Du stehst so früh auf, um joggen zu gehen?«
Er drehte sich um. Es war Jenny in ihrer Arbeitskleidung aus dem Clark’s. Sie kam näher und versuchte unbeholfen, ihn zu umarmen.
»Ich schaue mir einfach gern den Sonnenaufgang an«, gab er zur Antwort.
Sie lächelte. Wenn er den weiten Weg auf sich nahm, liebte er sie wohl doch ein bisschen, sagte sie sich.
»Willst du im Clark’s einen Kaffee trinken?«, schlug sie vor.
»Danke, aber ich will nicht aus dem Rhythmus kommen …«
Sie ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken. »Dann setzen wir uns doch wenigstens kurz.«
»Ich möchte nicht zu lang Pause machen.«
Traurig verzog sie das Gesicht. »Ich habe seit Tagen nichts von dir gehört! Und ins Clark’s kommst du auch nicht mehr …«
»Tut mir leid. Mein Buch nimmt mich ganz in Beschlag.«
»Aber das Leben besteht doch nicht nur aus Büchern! Komm mich ab und zu besuchen, das würde mich freuen. Ich verspreche dir auch, dass meine Mutter dich in Ruhe lässt. Sie hätte dich deine Schulden nicht alle auf einmal bezahlen lassen sollen.«
»Macht nichts.«
»Ich muss jetzt los, wir öffnen um sechs. Möchtest du bestimmt keinen Kaffee?«
»Nein danke.«
»Kommst du vielleicht später vorbei?«
»Ich glaube, eher nicht.«
»Wenn du jeden Morgen hierherkommst, könnte ich am Jachthafen auf dich warten … Ich meine, wenn du willst. Nur, um dir Hallo zu sagen.«
»Mach dir keine Mühe.«
»In Ordnung. Auf jeden Fall arbeite ich heute bis fünfzehn Uhr. Falls du zum Schreiben kommen willst … Ich werde dich nicht stören, versprochen. Ich hoffe, du bist nicht sauer, weil ich mit Travis auf den Ball gegangen bin … Ich liebe ihn nicht, weißt du. Er ist nur ein Freund. Ich … Ich wollte dir etwas sagen, Harry: Ich liebe dich. Ich liebe dich, wie ich noch nie jemanden geliebt habe.«
»Sag das nicht, Jenny …«
Die Rathausuhr schlug sechsmal: Jenny war spät dran. Sie küsste ihn auf die Wange und eilte davon. Sie hätte ihm nicht sagen sollen, dass sie ihn liebte. Sie bereute es bereits und kam sich dumm vor. Während sie die Straße zum Clark’s hinaufging, drehte sie sich um, um ihm zuzuwinken, aber er war schon verschwunden. Wenn er doch noch im Clark’s vorbeikam, sagte sie sich, hieße das, dass er sie ein kleines bisschen liebte, dass nicht alles verloren war. Sie legte einen Schritt zu, aber kurz vor dem Scheitelpunkt der Steigung sprang hinter einem Holzzaun eine große, krumme Gestalt hervor und versperrte ihr den Weg. Jenny stieß einen entsetzten Schrei aus, doch gleich darauf erkannte sie Luther.
»Luther! Hast du mich erschreckt!« Eine Straßenlaterne beleuchtete sein schiefes Gesicht und seine kräftige Statur.
»Waf … Waf will er von dir?«
»Nichts, Luther …«
Er packte ihren Arm: »Mach … Mach dich nicht über mich luftig! Waf will er von dir?«
»Er ist ein Freund! Lass mich jetzt los, Luther! Herrgott, du tust mir weh! Lass mich los, oder ich sage es!«
Er lockerte seine Umklammerung und fragte: »Haft du über meinen Vorflag nachgedacht?«
»Die Antwort lautet Nein, Luther! Ich will nicht, dass du mich malst! Und jetzt lass mich vorbei, oder ich sage, dass du dich hier herumtreibst, und dann kriegst du Ärger.«
Sofort ließ Luther von ihr ab und rannte wie ein wild gewordenes Tier im Morgengrauen davon. Der Schreck saß Jenny in den Knochen und sie fing an zu weinen. Sie hastete zum Restaurant, doch bevor sie durch die Tür trat, wischte sie sich die Augen trocken, damit ihre Mutter, die bereits da war, nichts merkte.
Harry war anschließend einmal durch die ganze Stadt gelaufen und trabte nun die Route 1 nach Goose Cove entlang. Unterwegs dachte er über Jenny nach. Er durfte ihr keine falschen Hoffnungen machen. Sie tat ihm sehr leid. An der großen Kreuzung ließen ihn seine Beine im Stich. Die Muskeln waren bei der Pause am Jachthafen ausgekühlt, und er fühlte Krämpfe aufsteigen. Allein stand er am Rand der menschenleeren Straße. Schon bereute er es, dass er bis Aurora gejoggt war, denn er konnte sich nicht vorstellen, noch bis nach Goose Cove zurückzulaufen. In diesem Augenblick hielt ein blauer Mustang neben ihm. Der Fahrer ließ die Scheibe herunter, und Harry erkannte Luther Caleb.
»Brauchen Fie Hilfe?«
»Ich bin zu weit gelaufen … Ich denke, ich habe mich übernommen.«
»Fteigen Fie ein. Ich fahre Fie nach Haufe.«
»Was für ein Glück, dass ich Sie getroffen habe«, seufzte Harry, als er sich auf den Beifahrersitz sinken ließ. »Was machen Sie so früh in Aurora?«
Caleb antwortete nicht. Wortlos fuhr er seinen Gast nach Goose Cove. Kaum hatte er Harry zu Hause abgesetzt, machte er mit seinem Mustang kehrt, aber anstatt nach Concord zu fahren, bog er nach links in Richtung Aurora ab und fuhr gleich darauf in einen kleinen Waldweg. Im Schutz der Kiefern ließ Caleb den Wagen stehen, huschte zwischen den Baumreihen hindurch und versteckte sich in der Nähe des Hauses im Gebüsch. Es war Viertel nach sechs. Er lehnte sich an einen Baumstamm und wartete.
Gegen neun Uhr traf Nola in Goose Cove ein, um sich um ihren Liebsten zu kümmern.
13. August 1975
»Wissen Sie, Dr. Ashcroft, das passiert mir immer wieder, und danach mache ich mir jedes Mal Vorwürfe.«
»Wie kommt das?«
»Ich weiß auch nicht. Es bricht irgendwie aus mir heraus. Es ist wie ein Zwang, den ich nicht unterdrücken kann. Ich bin ganz unglücklich darüber. Ganz unglücklich! Aber ich kann nichts dagegen tun.«
Dr. Ashcroft sah Tamara Quinn prüfend an, dann fragte er: »Sind Sie in der Lage, den Menschen zu sagen, was Sie für sie empfinden?«
»Ich … Nein. Das tue ich nie.«
»Warum nicht?«
»Weil sie es sowieso wissen.«
»Sind Sie sich sicher?«
»Natürlich!«
»Woher sollen sie es wissen, wenn Sie es ihnen nicht sagen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, Herr Doktor …«
»Weiß Ihre Familie, dass Sie zu mir kommen?«
»Nein! Nein! Ich … Das geht sie nichts an.«
Er nickte. »Hören Sie, Mrs Quinn, Sie sollten aufschreiben, was in Ihnen vorgeht. Schreiben kann beruhigend wirken.«
»Das tue ich, ich schreibe alles auf. Seit wir darüber gesprochen haben, schreibe ich alles in ein Heft, das ich wie meinen Augapfel hüte.«
»Und? Hilft es Ihnen?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht ein bisschen.«
»Darüber reden wir nächste Woche. Die Zeit ist um.«
Tamara Quinn erhob sich und verabschiedete sich mit einem Händedruck von ihrem Arzt. Dann verließ sie die Praxis.
14. August 1975
Es war gegen elf Uhr. Nola saß seit dem frühen Vormittag in Goose Cove auf der Terrasse und tippte auf der Remington eifrig die handgeschriebenen Blätter ab, während Harry ihr gegenüber weiterschrieb. »Das ist gut!«, rief sie zwischendurch immer wieder begeistert. »Das ist wirklich sehr gut!« Statt einer Antwort lächelte Harry. Er fühlte sich unglaublich inspiriert.
Es war heiß. Nola fiel auf, dass Harry nichts mehr zu trinken hatte, und ging in die Küche, um einen Eistee zuzubereiten. Kaum war sie im Haus verschwunden, tauchte auf der Terrasse ein Besucher auf, der außen herumgegangen war: Elijah Stern.
»Harry Quebert, Sie arbeiten zu viel!«, schmetterte Stern zur Begrüßung. Harry fuhr zusammen, denn er hatte ihn nicht kommen hören. Eisiger Schrecken befiel ihn: Niemand durfte Nola hier sehen.
»Elijah Stern!«, rief Harry, so laut er konnte, damit Nola es hörte und im Haus blieb.
»Harry Quebert!«, wiederholte, noch lauter, Elijah Stern, der nicht verstand, warum Harry so schrie. »Ich habe an der Tür geklingelt, aber vergeblich. Als ich Ihren Wagen sah, habe ich mir gesagt, dass Sie vielleicht auf der Terrasse sind, und habe mir erlaubt, ums Haus zu gehen.«
»Das haben Sie gut gemacht!«, brüllte Harry aus vollem Hals.
Sterns Blick fiel auf die Papiere und die Schreibmaschine auf der anderen Seite des Tisches.
»Sie schreiben und tippen gleichzeitig?«, erkundigte er sich neugierig.
»Ja. Ich … Ich schreibe parallel an mehreren Seiten.«
Stern ließ sich auf einen Stuhl fallen. Er war nass geschwitzt. »An mehreren Seiten gleichzeitig? Wenn das nicht genial ist! Stellen Sie sich vor, ich war in der Gegend und habe mir gesagt, dass ich doch einen Abstecher nach Aurora machen könnte. Es ist eine so nette Stadt! Also habe ich den Wagen in der Hauptstraße stehen lassen und einen Spaziergang gemacht. Und siehe da: Ich bin bis hierher marschiert, bestimmt aus alter Gewohnheit.«
»Dieses Haus, Elijah, ist einfach unglaublich … Es ist ein märchenhafter Ort.«
»Ich freue mich, dass Sie bleiben konnten.«
»Danke für Ihre Großzügigkeit. Ich stehe tief in Ihrer Schuld.«
»Danken Sie mir nicht, Sie schulden mir nichts.«
»Eines Tages werde ich genügend Geld haben und Ihnen das Haus abkaufen.«
»Umso besser, Harry, umso besser. Nichts wünsche ich Ihnen mehr. Ich würde mich freuen, wenn Sie es mit Leben erfüllen würden. Sie müssen entschuldigen, aber ich bin klatschnass und halb verdurstet.«
Nervös sah Harry Richtung Küche. Er hoffte, dass Nola sie gehört hatte und sich nicht blicken ließ. Er musste unbedingt einen Weg finden, Stern loszuwerden. »Außer Wasser kann ich Ihnen leider nichts anbieten …«
Stern lachte schallend. »Macht nichts, mein Freund … Ich habe mir schon gedacht, dass Sie hier nichts zu essen und zu trinken haben. Und genau das macht mir Sorge: Schreiben ist schön und gut, aber passen Sie auf, dass Sie nicht vom Fleisch fallen! Es wird höchste Zeit, dass Sie heiraten, damit Sie jemanden haben, der sich um Sie kümmert. Wissen Sie was? Fahren Sie mich zurück in die Stadt, und ich lade Sie zum Mittagessen ein. Dann können wir ein bisschen plaudern. Aber natürlich nur, wenn Sie Lust haben …«
»Gern!«, erwiderte Harry erleichtert. »Sehr gern sogar! Ich hole nur rasch den Autoschlüssel.«
Harry ging ins Haus. Als er an der Küche vorbeikam, sah er, dass Nola sich unter dem Tisch versteckt hatte. Sie schenkte ihm ein wundervolles, komplizenhaftes Lächeln und legte den Finger auf die Lippen. Er lächelte zurück und ging wieder nach draußen zu Stern.
Sie fuhren mit dem Chevrolet zum Clark’s. Dort setzten sie sich auf die Terrasse und ließen sich Eier, Toasts und Pancakes bringen. Jennys Augen leuchteten auf, als sie Harry sah. Er hatte sich ewig nicht blicken lassen.
»Es ist verrückt«, sagte Stern. »Eigentlich wollte ich wirklich nur ein paar Schritte gehen, und plötzlich war ich in Goose Cove. Es war, als hätte mich die Landschaft in sich hineingesaugt.«
»Der Küstenabschnitt zwischen Aurora und Goose Cove ist aber auch wirklich schön«, antwortete Harry. »Ich kann mich nicht daran sattsehen.«
»Sind Sie dort oft unterwegs?«
»Fast jeden Morgen. Ich gehe joggen. Das ist eine schöne Art, den Tag zu beginnen. Ich stehe im Morgengrauen auf und laufe mit der aufgehenden Sonne – ein tolles Gefühl.«
»Sie sind ja ein richtiger Sportler, mein Lieber. Ich wünschte, ich hätte Ihre Disziplin.«
»Ein Sportler? Na, ich weiß nicht … Vorgestern zum Beispiel habe ich auf dem Rückweg von Aurora schreckliche Krämpfe bekommen. An Weiterlaufen war nicht zu denken. Zum Glück habe ich Ihren Fahrer getroffen. Er hat mich netterweise nach Hause gefahren.«
Stern lächelte verkniffen. »Luther war vorgestern früh hier?«, fragte er.
Jenny unterbrach sie, um Kaffee nachzuschenken, und verschwand sogleich wieder.
»Ja«, fuhr Harry fort. »Ich war auch überrascht, ihn so früh in Aurora zu sehen. Wohnt er hier in der Gegend?«
Stern antwortete ausweichend: »Nein, er wohnt auf meinem Besitz. Es gibt dort ein Nebengebäude fürs Personal. Aber er mag die Gegend hier. Man muss auch wirklich zugeben, dass Aurora im Morgenlicht wunderschön ist.«
»Hatten Sie nicht gesagt, dass er sich um die Rosensträucher in Goose Cove kümmert? Ich habe ihn nämlich noch nie dabei gesehen …«
»Aber den Pflanzen geht es doch prächtig, oder nicht? Er ist eben sehr diskret.«
»Dabei bin ich viel zu Hause … Eigentlich fast immer.«
»Luther ist ein diskreter Mensch.«
»Ich habe mich gefragt, was ihm wohl zugestoßen ist. Er spricht so merkwürdig …«
»Ein Unfall … eine alte Geschichte. Er hat große Qualitäten, wissen Sie? Er sieht vielleicht zum Fürchten aus, aber er hat eine schöne Seele.«
»Daran zweifle ich nicht.«
Jenny kam erneut, um die noch vollen Tassen nachzufüllen. Sie schob den Serviettenhalter zurecht, füllte den Salzstreuer auf und tauschte die Ketchupflasche aus. Bevor sie wieder im Innern verschwand, lächelte sie Stern zu und machte Harry ein kleines Zeichen.
»Geht es voran mit Ihrem Buch?«, erkundigte sich Stern.
»Sehr gut sogar. Danke nochmals, dass Sie mir das Haus überlassen haben. Es inspiriert mich sehr.«
»Sie meinen, vor allem dieses Mädchen inspiriert Sie sehr«, sagte Stern grinsend.
»Wie bitte?«, presste Harry hervor.
»Ich habe für diese Dinge einen guten Riecher. Sie vögeln sie, oder?«
»Ich … Ich bitte um Verzeihung?«
»Nun machen Sie nicht so ein Gesicht, mein Freund. Es ist doch nichts dabei. Jenny, die Kellnerin … Sie vögeln sie, nicht wahr? Wenn man sich ansieht, wie sie sich benimmt, seit wir hier sind, lässt sie sich bestimmt von einem von uns beiden vögeln. Da ich aber weiß, dass ich es nicht bin, bleiben Sie übrig. Ha, ha! Gut gemacht. Eine nette Kleine. Sie sehen, mir entgeht nichts.«
Quebert zwang sich zu einem Lachen. »Jenny und ich sind nicht zusammen«, sagte er erleichtert. »Sagen wir, wir hatten einen kurzen Flirt. Sie ist ein liebes Mädchen, aber unter uns gesagt, ich langweile mich mit ihr ein bisschen … Ich würde gern jemanden finden, in den ich richtig verliebt bin, jemand Besonderes, eine, die anders als die anderen ist …«
»Pah, um Sie mache ich mir keine Sorgen. Sie finden bestimmt irgendwann den seltenen Diamanten, der Sie glücklich macht.«
Während Harry und Stern beim Mittagessen saßen, ging Nola mit ihrer Schreibmaschine auf der Route 1 in der prallen Sonne nach Hause. Von hinten näherte sich ein Auto und hielt neben ihr. Es war Chief Pratt am Steuer eines Polizeifahrzeugs aus Aurora.
»Wo willst du denn mit der Schreibmaschine hin?«, fragte er leicht belustigt.
»Heim, Chief.«
»Zu Fuß? Woher zum Teufel kommst du? Egal: Steig ein, ich bringe dich hin.«
»Danke, Chief, aber ich gehe lieber zu Fuß.«
»Sei nicht albern. Es ist mörderisch heiß.«
»Nein danke, Chief.«
Chief Pratts Stimme klang plötzlich aggressiv: »Warum willst du nicht, dass ich dich nach Hause fahre? Steig ein, sage ich! Na, los!«
Nola gehorchte, und Pratt forderte sie auf, sich neben ihn auf den Beifahrersitz zu setzen. Statt jedoch in die Stadt zu fahren, wendete er.
»Wohin fahren wir, Chief? Aurora liegt in der anderen Richtung.«
»Keine Sorge, meine Kleine. Ich will dir nur etwas Schönes zeigen. Du hast doch keine Angst, oder? Ich will dir eine schöne Stelle im Wald zeigen. Du willst sie doch sehen, oder nicht? Das wird dir gefallen.«
Nola verstummte. Chief Pratt fuhr bis Side Creek, bog in einen Waldweg ein und parkte im Schutz der Bäume. Er schnallte den Gürtel auf, öffnete den Hosenschlitz, packte Nola am Nacken und befahl ihr, es ihm noch mal so gut zu machen wie neulich in seinem Büro.
15. August 1975
Um acht Uhr morgens ging Louisa Kellergan ins Zimmer ihrer Tochter. Nola erwartete sie schon, sie saß in Unterwäsche auf dem Bett. Heute war der Tag. Sie wusste es. Louisa schenkte ihrer Tochter ein liebevolles Lächeln. »Du weißt, warum ich es tue, Nola …«
»Ja, Mutter.«
»Es ist nur zu deinem Besten, damit du ins Paradies kommst. Du willst doch ein Engel werden, oder nicht?«
»Ich weiß nicht, ob ich ein Engel werden will, Mutter.«
»Red keinen Unsinn. Komm mit, mein Schatz.«
Nola erhob sich und folgte ihrer Mutter gehorsam ins Bad. Die große Blechwanne stand mit Wasser gefüllt auf dem Boden.
Nola betrachtete ihre Mutter: Sie war eine schöne Frau mit herrlichen, blonden Locken. Alle fanden, dass sie sich besonders ähnlich sahen.
»Ich liebe dich, Mutter«, sagte Nola.
»Ich liebe dich auch, mein Schatz.«
»Es tut mir leid, dass ich ein böses Mädchen bin.«
»Du bist kein böses Mädchen.«
Nola kniete vor der Wanne nieder. Ihre Mutter nahm ihren Kopf und tauchte ihn unter. Langsam und mit ernster Miene zählte sie bis zwanzig, dann zog sie Nolas Kopf an den Haaren aus dem eiskalten Wasser. Nola schrie in panischer Angst.
»Komm schon, Tochter, du musst Buße tun. Noch einmal«, sagte Louisa und tauchte Nolas Kopf erneut ins eisige Wasser.
Der Reverend hatte sich in die Garage verzogen und hörte seine Musik.
Er war schockiert über das, was er gerade gehört hatte. »Deine Mutter hält deinen Kopf unter Wasser?«, fragte Harry bestürzt.
Es war Mittag. Nola war gerade erst nach Goose Cove gekommen. Sie hatte den ganzen Vormittag geweint, und obwohl sie sich vor ihrer Ankunft die Tränen aus den geröteten Augen gewischt hatte, war Harry sofort aufgefallen, dass etwas nicht stimmte.
»Sie taucht meinen Kopf in die große Blechwanne«, erzählte Nola. »Das Wasser ist eiskalt! Sie taucht meinen Kopf hinein und drückt ihn unter Wasser. Ich glaube jedes Mal, ich muss sterben … Ich kann nicht mehr, Harry. Helfen Sie mir …«
Sie schmiegte sich an ihn. Harry schlug vor, hinunter an den Strand zu gehen. Der Strand heiterte sie immer auf. Er holte die Blechdose mit der Aufschrift SOUVENIR AUS ROCKLAND, MAINE, und sie gingen zu den Felsen, um die Möwen zu füttern. Danach setzten sie sich in den Sand und betrachteten den Horizont.
»Ich will fortgehen, Harry!«, rief Nola. »Ich will, dass Sie mich ganz weit von hier wegbringen!«
»Fortgehen?«
»Sie und ich, ganz weit weg. Sie haben gesagt, dass wir irgendwann fortgehen. Ich will irgendwohin, wo ich mich vor der Welt verstecken kann. Wollen Sie nicht mit mir weit weg von hier sein? Lassen Sie uns fortgehen, ich flehe Sie an! Sagen wir, am Ende dieses schrecklichen Monats am 30., dann haben wir genau fünfzehn Tage, um alles vorzubereiten.«
»Am 30.? Du willst, dass wir beide zusammen am 30. August durchbrennen? Ist das nicht Wahnsinn?«
»Wahnsinn? Wahnsinn ist, in diesem elenden Nest leben zu müssen! Wahnsinn ist, sich so zu lieben, wie wir es tun, und es nicht zu dürfen! Wahnsinn ist, dass wir uns verstecken müssen wie seltsame Tiere! Ich kann nicht mehr, Harry! Ich gehe auf jeden Fall weg. Am 30. August verlasse ich abends diese Stadt. Ich halte es hier nicht länger aus. Kommen Sie mit, ich flehe Sie an! Lassen Sie mich nicht allein!«
»Und wenn uns jemand aufhält?«
»Wer sollte uns aufhalten? In zwei Stunden sind wir in Kanada. Aus welchem Grund sollte man uns aufhalten? Fortzugehen ist kein Verbrechen. Fortzugehen bedeutet, frei zu sein, und wer kann uns daran hindern, frei sein zu wollen? Die Freiheit ist das Fundament Amerikas! Sie ist in unserer Verfassung verankert. Ich gehe, Harry, so viel steht fest. In fünfzehn Tagen bin ich weg. Am Abend des 30. August verlasse ich diese Unglücksstadt. Kommen Sie mit?«
Ohne nachzudenken, antwortete er: »Ja! Natürlich! Ich kann mir nicht mehr vorstellen, ohne dich zu leben. Am 30. August brechen wir zusammen auf.«
»Oh, allerliebster Harry, ich bin ja so glücklich! Aber was wird aus Ihrem Buch?«
»Mein Buch ist fast fertig.«
»Fast fertig? Das ist ja phantastisch! Wie schnell Sie vorangekommen sind!«
»Das Buch ist nicht mehr wichtig. Wenn ich mit dir fliehe, glaube ich nicht, dass ich Schriftsteller bleiben kann. Aber was soll’s? Alles, was zählt, bist du! Alles, was zählt, sind wir! Alles, was zählt, ist glücklich zu sein!«
»Natürlich werden Sie immer Schriftsteller sein! Wir werden das Manuskript per Post nach New York schicken! Ich liebe Ihren neuen Roman! Es ist wahrscheinlich der schönste Roman, den ich je zu lesen bekommen habe. Sie werden ein ganz großer Schriftsteller werden. Ich glaube an Sie! Also am 30.? In fünfzehn Tagen. In fünfzehn Tagen hauen wir ab, Sie und ich, nach Kanada! Wir werden so glücklich sein, Sie werden sehen. Die Liebe, Harry, ist das Einzige, was ein Leben wirklich schön machen kann. Alles andere ist überflüssig.«
18. August 1975
Er saß hinter dem Steuer seines Streifenwagens und beobachtete sie durch die Fensterscheibe des Clark’s. Seit dem Ball hatten sie kaum miteinander gesprochen. Sie hielt Abstand zu ihm, und das machte ihn traurig. Seit einigen Tagen wirkte sie besonders unglücklich. Er fragte sich, ob es womöglich etwas mit ihm zu tun hatte, aber dann fiel ihm ein, wie er sie einmal in Tränen aufgelöst auf ihrer Veranda angetroffen und sie ihm erzählt hatte, dass ihr ein Mann wehgetan hatte. Was genau hatte sie mit »wehtun« gemeint? Ob sie Sorgen hatte? Oder, schlimmer: War sie geschlagen worden? Von wem? Was war los? Er beschloss, all seinen Mut zusammenzunehmen und mit ihr zu reden. Wie immer wartete er, bis sich das Diner ein wenig geleert hatte, bevor er sich hineintraute. Als er schließlich eintrat, räumte Jenny gerade einen Tisch ab.
»Hallo, Jenny«, sagte er mit klopfendem Herzen.
»Hallo, Travis.«
»Wie geht’s?«
»Gut.«
»Wir haben uns seit dem Ball nicht oft gesehen«, sagte er.
»Ich hatte hier alle Hände voll zu tun.«
»Ich wollte dir sagen, dass ich mich sehr gefreut habe, dein Tanzpartner zu sein.«
»Danke.« Sie wirkte bedrückt.
»Jenny, du bist mir gegenüber in letzter Zeit so abweisend.«
»Nein, Travis … Ich … Das hat nichts mit dir zu tun.«
Sie dachte an Harry. Sie dachte Tag und Nacht an ihn. Warum wies er sie zurück? Vor ein paar Tagen war er mit Elijah Stern hier gewesen und hatte kaum ein Wort an sie gerichtet. Sie hatte sehr wohl bemerkt, dass die beiden sich lustig über sie gemacht hatten.
»Jenny, du weißt, dass du mir alles erzählen kannst, wenn du Sorgen hast.«
»Ich weiß. Du bist so nett zu mir, Travis. Aber jetzt muss ich den Tisch hier fertig machen.« Sie steuerte auf die Küche zu.
»Warte«, sagte Travis.
Er wollte sie am Handgelenk festhalten. Obwohl er sie sanft anfasste, stieß Jenny vor Schmerz einen Schrei aus und ließ die Teller fallen. Sie gingen auf dem Boden zu Bruch. Travis hatte nichts ahnend auf den riesigen Bluterguss gefasst, der sich auf ihrem Arm abzeichnete, seit Luther ihn so fest gepackt hatte, weshalb sie trotz der Hitze lange Ärmeln trug.
»Das tut mir wirklich leid«, entschuldigte sich Travis und machte sich eilig daran, die Scherben vom Boden aufzusammeln.
»Das war nicht deine Schuld.«
Er begleitete sie in die Küche und holte einen Besen, um im Gastraum aufzukehren. Als er zurückkam, wusch sich Jenny gerade die Hände, und da sie die Ärmel hochgeschoben hatte, damit sie nicht nass wurden, konnte er den bläulichen Abdruck an ihrem Handgelenk sehen.
»Was ist das?«, fragte er.
»Nichts. Ich habe mich neulich an der Schwingtür gestoßen.«
»Gestoßen?«, explodierte Travis. »Erzähl mir keinen Blödsinn! Jemand hat dich geschlagen! Wer war es?«
»Das ist nicht wichtig.«
»Und ob es wichtig ist! Ich verlange, dass du mir sagst, wer der Mann ist, der dir so wehgetan hat. Sag es mir! Ich gehe hier erst weg, wenn ich es weiß.«
»Es … Es war Luther Caleb, Sterns Fahrer. Er … Neulich früh war er wütend. Er hat mich am Handgelenk gepackt und mir wehgetan. Aber weißt du, das war keine Absicht. Er hat seine Kraft unterschätzt.«
»Das ist schlimm, Jenny! Sehr schlimm! Ich will, dass du mich sofort benachrichtigst, wenn er sich hier wieder blicken lässt!«
20. August 1975
Singend ging sie die Auffahrt von Goose Cove entlang. Eine süße Vorfreude erfüllte sie: In zehn Tagen würden sie zusammen fortgehen. In zehn Tagen würde sie endlich richtig zu leben anfangen. Sie zählte die Nächte bis zum großen Tag: Er war zum Greifen nah. Als sie das Haus am Ende des Kieswegs erblickte, beschleunigte sie den Schritt, denn sie hatte es eilig, Harry wiederzusehen. Sie bemerkte nicht die im Dickicht versteckte Gestalt, die sie beobachtete. Sie betrat das Haus, ohne zu klingeln, wie sie es in letzter Zeit immer tat.
»Allerliebster Harry!«, rief sie, um sich anzukündigen.
Keine Antwort. Das Haus wirkte verlassen. Sie rief noch einmal. Stille. Sie sah im Ess- und im Wohnzimmer nach, fand ihn jedoch nicht. Auch in seinem Arbeitszimmer und auf der Terrasse war er nicht. Also ging sie die Treppe zum Strand hinunter und rief dort nach ihm. Vielleicht war er schwimmen gegangen? Das tat er manchmal, wenn er zu viel gearbeitet hatte. Doch auch am Strand war niemand. Sie spürte, wie sich Unruhe in ihr breitmachte. Wo konnte er nur sein? Sie kehrte ins Haus zurück und rief erneut. Nichts. Sie sah in allen Zimmern im Erdgeschoss nach und ging dann nach oben. Als sie die Tür zum Schlafzimmer öffnete, sah sie ihn auf dem Bett sitzen und einen Stapel Papiere lesen.
»Harry? Hier sind Sie! Seit zehn Minuten suche ich Sie überall …«
Er fuhr zusammen, als er sie hörte. »Entschuldige, Nola, ich habe gelesen … Ich habe dich nicht gehört.« Er stand auf, schob die Blätter in seinen Händen zusammen und legte sie in eine Schublade der Kommode.
Mit einem Lächeln fragte sie: »Und was lesen Sie so Spannendes, dass Sie nicht mal gehört haben, wie ich im Haus nach Ihnen gerufen habe?«
»Nichts Wichtiges.«
»Ist das die Fortsetzung Ihres Romans? Zeigen Sie her!«
»Nichts Wichtiges, ich zeige es dir gelegentlich.«
Sie sah ihn schelmisch an. »Sind Sie sich sicher, dass alles in Ordnung ist, Harry?«
Er lachte. »Es ist alles in Ordnung, Nola.«
Sie gingen an den Strand. Nola wollte die Möwen sehen. Sie breitete die Arme wie Flügel aus und lief in großen Kreisen umher. »Ich wollte, ich könnte fliegen, Harry! Nur noch zehn Tage! In zehn Tagen fliegen wir davon! Wir gehen für immer aus dieser Unglücksstadt fort!«
Sie glaubten sich allein am Strand. Weder Harry noch Nola ahnten, dass Luther Caleb sie von oberhalb der Felsen aus dem Wald beobachtete. Er wartete, bis sie ins Haus zurückkehrten, bevor er sein Versteck verließ. Dann rannte er die Auffahrt von Goose Cove entlang und zu seinem im parallel verlaufenden Waldweg geparkten Mustang. Er fuhr nach Aurora, hielt vor dem Clark’s und stürzte hinein. Er musste unbedingt mit Jenny reden. Jemand musste davon erfahren. Er hatte eine böse Vorahnung. Aber Jenny wollte ihn nicht sehen.
»Luther? Du solltest nicht herkommen«, sagte sie zu ihm, als er an der Theke auftauchte.
»Jenny … Ef tut mir leid wegen neulich früh. Ich hätte deinen Arm nicht fo feft anpacken dürfen.«
»Ich habe davon einen blauen Fleck bekommen.«
»Ef tut mir fo leid.«
»Du musst jetzt gehen.«
»Nein, warte …«
»Ich habe dich angezeigt, Luther. Travis hat gesagt, wenn du dich in der Stadt blicken lässt, soll ich ihn anrufen, und dann kriegst du es mit ihm zu tun. Du gehst jetzt besser, bevor er dich hier sieht.«
Der hünenhafte Luther wirkte gekränkt. »Du haft mich angefeigt?«
»Ja. Du hast mir neulich früh solche Angst eingejagt …«
»Aber ich muff dir waf Wichtigef erfählen …«
»Es gibt nichts Wichtiges, Luther, und jetzt geh …«
»Ef geht um Harry Quebert …«
»Um Harry?«
»Ja, fag mir, waf du von Harry Quebert hälft.«
»Warum willst du das wissen?«
»Trauft du ihm?«
»Ob ich ihm traue? Aber sicher. Warum fragst du mich das?«
»Ich muff dir waf fagen …«
»Mir was sagen? Was denn?«
Gerade als Luther antworten wollte, fuhr ein Polizeiauto auf den Platz gegenüber vom Clark’s.
»Das ist Travis!«, rief Jenny. »Verschwinde, Luther, schnell! Ich will nicht, dass du Ärger bekommst.«
Luther nahm auf der Stelle Reißaus. Jenny sah, wie er in sein Auto stieg und davonraste. Kurz darauf kam Travis hereingestürmt.
»Habe ich da gerade Luther Caleb gesehen?«, fragte er.
»Ja«, antwortete Jenny. »Aber er wollte nichts von mir. Er ist ein netter Kerl. Ich bereue es, dass ich ihn angezeigt habe.«
»Ich habe dir gesagt, du sollst mich benachrichtigen! Niemand hat das Recht, Hand an dich zu legen! Niemand!« Travis rannte zu seinem Wagen zurück.
Jenny lief ihm nach und hielt ihn auf dem Gehsteig zurück. »Ich flehe dich an, Travis, tu ihm nichts! Bitte! Ich glaube, er hat es jetzt kapiert.«
Travis starrte sie an, und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Deshalb war sie in letzter Zeit so unnahbar. »Nein, Jenny … Sag mir nicht, dass du …«
»Dass ich was?«
»Dass du auf diesen Spinner stehst!«
»Wie bitte?«
»Herrgott, wie konnte ich nur so dämlich sein!«
»Aber, Travis. Was redest du da?«
Er hörte ihr schon nicht mehr zu, sondern stieg in den Wagen und fuhr wie ein Verrückter mit Blaulicht und heulender Sirene los.
Auf der Route 1 bemerkte Luther auf der Höhe der Side Creek Lane im Rückspiegel das Polizeiauto, das ihn mittlerweile eingeholt hatte. Ängstlich hielt er am Straßenrand. Travis sprang wütend aus seinem Auto. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf: Wie konnte Jenny sich von diesem Monstrum angezogen fühlen? Wie konnte sie ihm diesen Kerl vorziehen? Er, der alles für sie tat, der in Aurora geblieben war, um in ihrer Nähe zu sein, war von diesem Typen ausgestochen worden! Er befahl Luther, aus dem Wagen zu steigen, und taxierte ihn von oben bis unten.
»Du Monster! Du hast dich an Jenny vergriffen!«
»Nein, Travif. Ich verfpreche dir, ef ift nicht fo, wie du denkft.«
»Ich habe den blauen Fleck an ihrem Arm gesehen!«
»Ich habe auf Verfehen fu feft fugepackt. Ef tut mir wirklich leid. Ich will keinen Ärger.«
»Keinen Ärger? Du machst den Ärger! Du bumst sie, was?«
»Wie?«
»Jenny und du – ihr treibt es zusammen, oder?«
»Nein! Nein!«
»Ich tue alles, um sie glücklich zu machen, und du bumst sie? Herrgott noch mal, was läuft auf dieser Welt nur schief?«
»Travif … Ef ift überhaupt nicht fo, wie du denkft.«
»Halt’s Maul!«, schrie Travis, packte Luther am Kragen und stieß ihn zu Boden.
Er wusste nicht recht, was er jetzt tun sollte. Er dachte an Jenny und daran, dass sie ihn abgewiesen hatte. Er fühlte sich erniedrigt und elend. Aber er war auch wütend, denn er hatte es satt, dass alle ständig auf ihm herumtrampelten. Es war Zeit, sich wie ein Mann zu benehmen. Also zog er den Schlagstock aus seinem Gürtel, hob den Arm und drosch wie ein Verrückter auf Luther ein.