Roy Barnaski rief mich am Samstagvormittag, den 28. Juni, an.
»Mein lieber Goldman«, begann er, »Sie wissen, was für ein Datum am Montag ist?«
»Der 30. Juni.«
»Der 30. Juni. Na, so was! Verrückt, wie die Zeit verfliegt! Il tempo è passato, Goldman. Und was ist am 30. Juni?«
»Der nationale Eiscreme-Soda-Tag«, erwiderte ich. »Ich habe gerade einen Artikel darüber gelesen.«
»Am 30. Juni läuft Ihre Frist ab, Goldman! Das passiert am Montag! Ich habe vorhin mit Douglas Claren, Ihrem Agenten, gesprochen. Er ist völlig außer sich. Er sagt, er ruft Sie nicht mehr an, weil Sie unberechenbar geworden sind. ›Mit Goldman sind die Pferde durchgegangen‹, hat er zu mir gesagt. Wir versuchen, Ihnen eine rettende Hand zu reichen und uns mit Ihnen zu arrangieren, aber Sie, Sie galoppieren lieber ohne Ziel drauflos und rennen gegen die Wand.«
»Eine rettende Hand? Sie wollen, dass ich so etwas wie einen Erotikroman über Nola Kellergan schreibe.«
»Immer gleich große Worte, Marcus! Ich will das Publikum unterhalten, ihm Lust machen, Bücher zu kaufen. Die Leute kaufen immer weniger Bücher, außer wenn man ihnen Schauergeschichten vorsetzt, die ihre niederen Instinkte ansprechen.«
»Ich werde keinen Schundroman schreiben, um meine Karriere zu retten.«
»Wie Sie wollen. Dann sage ich Ihnen jetzt, was am 30. Juni passieren wird: Marisa, meine Sekretärin, die Sie ja kennen, wird um halb elf zur Morgenbesprechung in mein Büro kommen. Wir gehen jeden Montag um halb elf die wichtigsten Termine der Woche durch. Sie wird zu mir sagen: ›Marcus Goldman hatte bis heute Zeit, Ihnen sein Manuskript vorzulegen. Wir haben nichts erhalten.‹ Ich werde mit ernster Miene nicken, den Tag vermutlich verstreichen lassen und meine schreckliche Pflicht vor mir herschieben, aber um siebzehn Uhr dreißig werde ich schweren Herzens Richardson, den Leiter der Rechtsabteilung, anrufen, um ihn ins Bild zu setzen. Ich werde ihm sagen, dass wir Sie unverzüglich wegen Nichteinhaltung Ihres Vertrages verklagen und von Ihnen Schadenersatz in Höhe von zehn Millionen Dollar fordern.«
»Zehn Millionen Dollar? Das ist lächerlich, Barnaski.«
»Sie haben recht. Fünfzehn Millionen!«
»Sie sind ein Arschloch, Barnaski.«
»Nun, genau da irren Sie sich, Goldman: Das Arschloch sind Sie! Sie wollen bei den Großen mitmischen, sich aber nicht an die Regeln halten. Sie wollen in der Profiliga spielen, doch Sie weigern sich, an den Vorrunden teilzunehmen. Aber so läuft das nicht. Und wissen Sie was? Mit dem Geld aus Ihrem Prozess werde ich einen vor Ehrgeiz strotzenden Nachwuchsautor fürstlich dafür bezahlen, dass er die Geschichte von Marcus Goldman erzählt, diesem vielversprechenden Gutmenschen, der seine eigene Karriere und Zukunft torpediert hat. Er wird Sie in Florida in Ihrer Elendsbaracke interviewen, in die Sie sich verkrochen haben und in der Sie schon morgens um zehn Whisky saufen, um alles zu vergessen. Bis bald, Goldman. Wir sehen uns vor Gericht.« Er legte auf.
Kurz nach diesem erbaulichen Anruf ging ich zum Mittagessen ins Clark’s. Dort begegnete ich zufällig den Quinns in der Version von 2008. Tamara saß an der Theke und stauchte gerade ihre Tochter zusammen, weil sie ihr dieses und jenes nicht recht machte. Robert war in einer Ecke in Deckung gegangen, aß Rührei und las den Sportteil des Concord Herald. Ich setzte mich neben Tamara, schlug eine Zeitung auf und tat so, als wäre ich in die Lektüre vertieft, aber in Wirklichkeit wollte ich mitanhören, wie sie sich, nach Luft schnappend, darüber beklagte, dass die Küche schmutzig, der Service nicht schnell genug und der Kaffee kalt war, dass die Ahornsirupflaschen klebten, die Zuckerdosen leer und die Tische fettverschmiert waren, dass es im Restaurant zu warm und die Toasts nicht gut waren und dass sie für ihr Essen nicht einen Cent bezahlen würde, dass zwei Dollar für einen Kaffee Diebstahl waren, dass sie ihr dieses Restaurant nie überlassen hätte, wenn sie gewusst hätte, dass Jenny es zu einer zweitklassigen Kaschemme herunterwirtschaften würde; dabei hätte sie so große Pläne für dieses Lokal gehabt, in das die Leute übrigens früher wegen ihrer Hamburger aus dem ganzen Staat gekommen wären, weil sie als die besten weit und breit gegolten hätten. Als Tamara merkte, dass ich zuhörte, warf sie mir einen abschätzigen Blick zu und keifte: »Sie da, junger Mann, was geht Sie das an?«
Mit scheinheiligem Gesicht drehte ich mich zu ihr um. »Ich? Ich höre gar nicht zu, Madam.«
»Natürlich hören Sie zu, denn Sie antworten mir ja! Woher kommen Sie?«
»Aus New York, Madam.«
Schlagartig wurde sie umgänglicher, als hätte das Wort »New York« sie besänftigt, und fragte mich honigsüß: »Was treibt einen jungen, gut aussehenden New Yorker wie Sie nach Aurora?«
»Ich schreibe ein Buch.«
Augenblicklich verfinsterte sich ihr Gesicht, und sie zeterte: »Ein Buch? Sie sind Schriftsteller? Ich hasse Schriftsteller! Das ist eine Bande von Müßiggängern, Taugenichtsen und Lügnern. Wovon leben Sie? Von staatlicher Unterstützung? Meiner Tochter gehört dieses Restaurant, und ich warne Sie: Mit Anschreiben läuft hier nichts! Wenn Sie also nicht bezahlen können, hauen Sie ab. Hauen Sie ab, bevor ich die Polizei rufe. Der Polizeichef ist mein Schwiegersohn.«
Jenny, die hinter der Theke stand, wirkte bestürzt. »Mom, das ist Marcus Goldman. Er ist ein bekannter Schriftsteller.«
Die alte Quinn verschluckte sich fast an ihrem Kaffee. »Gütiger Gott, sind Sie etwa der kleine Rotzlöffel, der immer an Queberts Rockzipfel gehangen hat?«
»Ja, Madam.«
»Sind Sie aber groß geworden! Wollen Sie meine Meinung über Quebert wissen?«
»Nein danke, Madam.«
»Ich sage sie Ihnen trotzdem. Ich halte ihn für einen abgefeimten Hurensohn, der den elektrischen Stuhl verdient!«
»Mom!«, protestierte Jenny.
»Das ist die Wahrheit!«
»Mom, hör auf!«
»Halt den Mund, Tochter. Jetzt rede ich. Und jetzt hören Sie gut zu, Sie bescheuerter Schriftsteller: Wenn Sie auch nur ein Fünkchen Anstand haben, schreiben Sie die Wahrheit über Harry Quebert. Er ist der letzte Schweinehund, ein Perverser, eine linke Bazille und ein Mörder. Er hat die kleine Nola, die alte Cooper und in gewisser Weise auch meine Jenny umgebracht.«
Jenny floh in die Küche. Ich glaube, sie weinte. Kerzengerade auf ihrem Barhocker sitzend, erzählte mir Tamara Quinn mit zornblitzenden Augen und erhobenem Zeigefinger den Grund für ihren Groll und auch, wie Harry Quebert ihren Namen entehrt hatte. Die Begebenheit, von der sie mir nun berichtete, hatte sich am Sonntag, den 13. Juli 1975, zugetragen, der für die Familie Quinn eigentlich zu einem denkwürdigen Datum hätte werden sollen, denn an jenem Tag hatte sie auf ihrem frisch gemähten Rasen ab Mittag (wie auf der an das knappe Dutzend Gäste verschickten Einladungskarte stand) zur Gartenparty geladen.
13. Juli 1975
Es war ein großes Ereignis, und entsprechend groß hatte Tamara Quinn die Sache aufgezogen: ein Festzelt im Garten, Tafelsilber und weiße Tischdecken, ein aus Fisch- und kalten Fleischhäppchen, Platten mit Meeresfrüchten und russischem Salat bestehendes Büfett von einem Feinkosthändler aus Concord. Ein Kellner mit Referenzen war verpflichtet worden, um die Gäste mit kalten Getränken und italienischem Wein zu versorgen. Alles sollte perfekt sein. Dieser Lunch sollte eine mondäne Veranstaltung ersten Ranges werden: Gleich würde Jenny der Prominenz von Aurora offiziell ihren neuen Freund vorstellen.
Es war zehn Minuten vor zwölf. Stolz betrachtete Tamara das Arrangement in ihrem Garten: Alles war bereit. Wegen der Hitze wollte sie bis zur letzten Minute warten, bevor sie die Platten heraustragen ließ. Ach, wie sich alle an den Jakobs- und Venusmuscheln und an den Hummerschwänzen delektieren würden, während sie den geistreichen Gesprächen Harry Queberts mit der wundervollen Jenny am Arm lauschten! Das hatte etwas Grandioses, und als Tamara sich die Szene ausmalte, bebte sie innerlich vor Vorfreude. Nach einem letzten Blick auf ihre Vorbereitungen, ging sie noch einmal die Tischordnung durch, die sie auf einem Blatt Papier notiert hatte, und versuchte sie sich einzuprägen. Alles war perfekt. Fehlten nur noch die Gäste.
Tamara hatte vier ihrer Freundinnen samt Ehemännern eingeladen. Vorher hatte sie lange über die Gästezahl nachgegrübelt: Zu wenig Gäste konnten den Eindruck erwecken, die Gartenparty sei missglückt, zu viele konnten ihrem exquisiten ländlichen Mittagessen leicht den Anstrich eines Volksfestes verleihen. Am Ende hatte sie sich dafür entschieden, diejenigen herauszupicken, die Auroras Gerüchteküche ordentlich einheizen würden, damit es schon bald hieß, dass Tamara Quinn schicke Einladungen mit handverlesenen Gästen gab, weil ihr Schwiegersohn in spe der Star des amerikanischen Literaturbetriebs war. Sie hatte Amy Pratt eingeladen, weil sie die Organisatorin des Sommerballs war; des Weiteren Belle Carlton, die sich für die Hüterin des guten Geschmacks hielt, weil ihr Mann jedes Jahr ein neues Auto fuhr; Cindy Tirsten, die zahlreichen Damenclubs vorsaß; und Donna Mitchell, eine wahre Landplage, die zu viel redete und sich andauernd mit den Erfolgen ihrer Kinder brüstete. Tamara würde dafür sorgen, dass ihnen Augen und Ohren übergingen. Übrigens hatten sie nach Erhalt der Einladung alle bei ihr angerufen, um sich nach dem Anlass für diese Festivität zu erkundigen. Aber Tamara hatte es klugerweise verstanden, die Spannung aufrechtzuerhalten, indem sie ausweichend geantwortet hatte: »Ich habe euch eine große Neuigkeit mitzuteilen.« Sie konnte es kaum erwarten, die Gesichter ihrer Freundinnen zu sehen, wenn sie Jenny und den großen Quebert zukünftig fürs Leben vereint, erblickten. Schon bald würden die Quinns das Stadtgespräch sein, und von allen beneidet werden.
Tamara war so sehr mit ihrer Einladung beschäftigt, dass sie zu den wenigen Einwohnern Auroras zählte, die sich nicht vor dem Haus der Kellergans drängten. Wie alle anderen hatte sie die Nachricht am Morgen erhalten und augenblicklich um ihre Gartenparty gefürchtet. Nola hatte versucht, sich das Leben zu nehmen. Doch gottlob war der Selbstmordversuch der Kleinen kläglich gescheitert, und darüber war Tamara doppelt froh: zum einen, weil sie das Fest hätte absagen müssen, wenn Nola tot gewesen wäre, weil es sich unter diesen Umständen nicht geziemt hätte, zu feiern. Und zum anderen war es ein Segen, dass heute Sonntag und nicht etwa Samstag war, denn hätte Nola sich an einem Samstag umzubringen versucht, hätte jemand für sie im Clark’s einspringen müssen, und das wäre sehr schwierig gewesen. Es war wirklich anständig von Nola, dass sie es an einem Sonntag gemacht und obendrein vermasselt hatte!
Zufrieden mit den Arrangements im Außenbereich, ging Tamara nachsehen, was sich im Innern des Hauses tat. Sie traf Jenny auf ihrem Posten in der Diele an, wo sie die Gäste empfangen sollte. Kräftig schimpfen musste sie allerdings mit dem armen Bobbo, der zwar Hemd und Krawatte trug, aber seine Hose noch nicht angezogen hatte, weil er sonntags immer in Boxershorts auf der Veranda seine Zeitung lesen durfte, und er liebte es, wenn die Brise in seine Shorts fuhr und ihn kühlte, insbesondere die behaarten Partien, denn das war sehr angenehm.
»Schluss mit dieser Marotte, halb nackt herumzulaufen!«, herrschte seine Frau ihn an. »Was soll das? Wenn der große Harry Quebert erst mal unser Schwiegersohn ist, wirst du dann auch in Boxershorts herumspazieren?«
»Weißt du«, erwiderte Bobbo, »ich glaube, er ist gar nicht so, wie alle denken. Im Grunde ist er ganz einfach gestrickt. Er liebt Autos und ein schön kaltes Bier. Er würde sich bestimmt nicht daran stoßen, mich in meiner Sonntagskluft zu sehen. Außerdem würde ich ihn vorher fragen …«
»Gar nichts fragst du ihn! Dass du mir beim Essen bloß keinen Unfug erzählst! Ich will ganz einfach kein Wort von dir hören. Ach, mein armer Bobbo, wenn es erlaubt wäre, würde ich dir die Lippen zunähen, denn jedes Mal, wenn du den Mund aufmachst, kommt irgendein Blödsinn heraus. Sonntags heißt es ab sofort Hemd und Hose, basta! Lass dich in diesem Haus ja nicht mehr in Unterwäsche blicken! Wir sind jetzt sehr wichtige Leute.« Beim Reden bemerkte sie, dass ihr Mann auf dem niedrigen Wohnzimmertisch ein paar Zeilen auf eine Karte gekritzelt hatte.
»Was ist das?«, kläffte sie.
»Irgendwas.«
»Zeig her!«
»Nein«, versetzte Bobbo trotzig und schnappte sich die Karte.
»Bobbo, ich will das sehen!«
»Das ist ein persönlicher Brief.«
»Ah, der Herr schreibt jetzt persönliche Briefe! Zeig her, sage ich! In diesem Haus entscheide immer noch ich, verflixt und zugenäht!« Sie entriss ihrem Mann die Karte, bevor er sie in seiner Zeitung verschwinden lassen konnte. Auf der Vorderseite war ein Hundewelpe abgebildet. Mit spöttischer Stimme las sie laut vor:
Liebe
Nola,
wir wünschen Dir gute Besserung und hoffen,
Dich ganz bald im Clark’s wiederzusehen.
Die Pralinen sollen Dir das Leben ein wenig versüßen.
Deine Familie Quinn
»Was soll der Quatsch?«, keifte Tamara.
»Die Karte ist für Nola. Ich kaufe ihr etwas Süßes und lege es dazu. Darüber freut sie sich bestimmt, meinst du nicht?«
»Du machst dich lächerlich, Bobbo! Diese Karte mit dem Hundebaby ist lächerlich, und dein Text ist es auch! Wir hoffen, Dich ganz bald im Clark’s wiederzusehen? Sie hat gerade versucht, sich umzubringen! Glaubst du wirklich, sie hat Lust, wieder Kaffee zu servieren? Und die Pralinen? Was soll sie denn mit Pralinen?«
»Sie essen. Sie freut sich bestimmt darüber. Siehst du, du hackst immer auf allem herum. Deshalb wollte ich dir die Karte nicht zeigen.«
»Ach, hör mit dem Gejammer auf, Bobbo«, sagte Tamara angewidert und riss die Karte in vier Stücke. »Ich werde ihr Blumen senden, schicke Blumen aus einem guten Geschäft in Montburry, und nicht deine Supermarktpralinen! Und den Text dazu werde ich selbst schreiben, und zwar auf einer schlichten weißen Karte. In Schönschrift wird darauf stehen: Beste Genesungswünsche von Familie Quinn und Harry Quebert. Und jetzt zieh deine Hose an, meine Gäste kommen gleich.«
Donna Mitchell und ihr Mann klingelten um Punkt zwölf Uhr an der Haustür, dicht gefolgt von Amy und Chief Pratt. Tamara wies den Kellner an, ihnen einen Willkommenscocktail zu servieren, den sie im Garten tranken. Dabei erzählte Chief Pratt, wie das Telefon ihn aus dem Bett gerissen hatte. »Die kleine Kellergan hat jede Menge Tabletten geschluckt. Ich glaube, sie hat alles geschluckt, was sie in die Finger bekommen hat, darunter auch ein paar Schlaftabletten, aber keine wirklich starken Mittel. Man hat sie ins Krankenhaus nach Montburry gebracht, um ihr den Magen auszupumpen. Der Reverend hat sie im Badezimmer gefunden. Er behauptet, sie hätte Fieber gehabt und versehentlich das falsche Medikament eingenommen. Ich sehe das ein bisschen anders … Aber Hauptsache, der Kleinen geht es gut.«
»Welch ein Glück, dass es morgens und nicht etwa mittags passiert ist«, bemerkte Tamara. »Es wäre doch ein Jammer gewesen, wenn ihr nicht hättet kommen können.«
»Ja, richtig. Was hast du uns denn so Wichtiges mitzuteilen?«, wollte Donna wissen, die sich nicht länger beherrschen konnte.
Tamara setzte ein breites Lächeln auf und erwiderte, dass sie mit ihrer Ankündigung lieber warten wolle, bis alle Gäste da seien. Das Ehepaar Tirsten traf wenig später ein, die Carltons um zwanzig nach zwölf. Als Grund für ihre Verspätung nannten sie Probleme mit der Lenkung ihres neuen Wagens. Nun waren alle da. Alle bis auf Harry Quebert. Tamara schlug vor, noch einen Begrüßungsdrink einzunehmen.
»Auf wen warten wir?«, erkundigte sich Donna.
»Das werdet ihr schon sehen«, entgegnete Tamara.
Jenny lächelte. Es würde ein wundervoller Tag werden.
Um zwanzig vor eins war Harry immer noch nicht da. Ein dritter Begrüßungsdrink wurde gereicht. Dann, um zwei Minuten vor eins, ein vierter.
»Noch ein Willkommenscocktail?«, stöhnte Amy Pratt.
»Weil ihr uns alle überaus willkommen seid!«, verkündete Tamara, die sich wegen der Verspätung ihres Stargastes allmählich ernsthafte Sorgen zu machen begann.
Die Sonne brannte gnadenlos. Allen war leicht schwummrig. »Ich habe Hunger«, vermeldete Bobbo schließlich und kassierte dafür einen kräftigen Klaps auf den Nacken. Es wurde Viertel nach eins, und noch immer kein Harry. Tamara spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte.
»Wir haben uns die Beine in den Bauch gestanden«, vertraute mir Tamara an der Theke des Clark’s an. »Meine Güte, was haben wir gewartet! Und es war mörderisch heiß! Allen lief der Schweiß in Strömen herunter …«
»Ich bin fast verdurstet«, rief Robert und versuchte, sich an unserem Gespräch zu beteiligen.
»Halt den Mund! Ich werde hier befragt. Große Schriftsteller wie Mr Goldman interessieren sich nicht für Esel wie dich.«
Sie warf mit einer Gabel nach ihm, wandte sich dann wieder mir zu und sagte: »Kurzum, wir haben bis halb zwei gewartet.«
Tamara hatte gehofft, Harry hätte eine Autopanne oder vielleicht sogar einen Unfall gehabt. Egal was, Hauptsache er versetzte sie nicht! Unter dem Vorwand, in der Küche nach dem Rechten sehen zu müssen, hatte sie mehrmals bei ihm in Goose Cove angerufen, doch vergeblich. Also hatte sie sich die Nachrichten im Radio angehört, aber es wurde kein Unfall gemeldet, und an diesem Tag war in New Hampshire auch kein berühmter Schriftsteller gestorben. Zweimal vernahm sie Motorengeräusche vor dem Haus, und jedes Mal machte ihr Herz einen Hüpfer: Das war er! Aber nein: Es waren nur irgendwelche dämlichen Nachbarn.
Die Gäste konnten nicht mehr: Erschlagen von der Hitze, hatten sie sich schließlich in den Schatten des Zeltdachs geflüchtet. Dort saßen sie nun schweigend auf ihren Plätzen und langweilten sich tödlich. »Ich hoffe, es handelt sich um eine wirklich große Neuigkeit«, meinte Donna nach einer Weile. »Wenn ich noch einen von diesen Cocktails trinke, muss ich mich übergeben«, verkündete Amy. Schließlich bat Tamara den Kellner, die Platten aufzutragen, und schlug ihren Gästen vor, mit dem Essen zu beginnen.
Um vierzehn Uhr war das Essen bereits weit fortgeschritten – und noch immer keine Nachricht von Harry. Jennys Kehle war wie zugeschnürt, sie bekam keinen Bissen herunter. Sie riss sich zusammen, um vor den anderen nicht loszuschluchzen. Tamara bebte innerlich vor Wut: zwei Stunden Verspätung, er kam bestimmt nicht mehr. Wie zum Teufel konnte er ihr das antun? Welcher Mann von Welt benahm sich so? Und als wäre das nicht genug, piesackte Donna sie nun ständig mit der Frage, was denn diese so wichtige Neuigkeit war, die sie ihnen mitzuteilen hatte. Tamara hüllte sich in Schweigen. Um die Situation und die Ehre seiner Frau zu retten, stand der unselige Bobbo feierlich auf, hob das Glas und verkündete seinen Gästen stolz: »Meine lieben Freunde, wir wollten euch mitteilen, dass wir einen neuen Fernseher haben.«
Verständnisloses Schweigen machte sich breit. Tamara, die es nicht ertrug, derart bloßgestellt zu werden, stand ihrerseits auf und verkündete: »Robert hat Krebs, er muss bald sterben.« Alle waren tief betroffen, auch Bobbo selbst, der nicht gewusst hatte, dass er bald sterben musste, und der sich fragte, wann der Arzt bei ihnen angerufen und warum ihm seine Frau nichts gesagt hatte. Plötzlich fing er an zu weinen, denn er hing am Leben. Seine Familie, seine Tochter, seine kleine Stadt – das alles würde ihm fehlen. Die anderen umarmten ihn, versprachen, dass sie ihn bis zum letzten Atemzug im Krankenhaus besuchen und ihn niemals vergessen würden.
Harry war deshalb nicht zu Tamara Quinns Gartenparty gekommen, weil er an Nolas Krankenbett saß. Sowie Pinkas ihm die Nachricht überbracht hatte, war er nach Montburry zum Krankenhaus gefahren. Stundenlang hatte er auf dem Parkplatz hinter dem Lenkrad seines Wagens gesessen, weil er nicht wusste, was er tun sollte. Er hatte Schuldgefühle: Schließlich hatte Nola seinetwegen sterben wollen. Bei dieser Vorstellung bekam er Lust, sich selbst das Leben zu nehmen. Er ließ seinen Emotionen freien Lauf, und zum ersten Mal wurde ihm die Tragweite seiner Gefühle für Nola bewusst. Er verfluchte die Liebe. Solange Nola ganz nah bei ihm war, konnte er sich einreden, dass es zwischen ihnen keine tiefen Gefühle gab und er sie aus seinem Leben verbannen musste, aber jetzt, wo er sie fast verloren hätte, konnte er sich nicht mehr vorstellen, ohne sie zu leben. Nola, allerliebste Nola. N-O-L-A.
Es war siebzehn Uhr, als er es schließlich wagte, das Krankenhaus zu betreten. Er hoffte, niemandem zu begegnen, aber in der Eingangshalle stieß er auf David Kellergan, dessen Augen vom Weinen gerötet waren. »Reverend … Ich habe das von Nola gehört. Es tut mir aufrichtig leid.«
»Danke, dass Sie gekommen sind, um mir Ihr Mitgefühl auszudrücken, Harry. Sie werden bestimmt hören, dass Nola versucht hat, sich das Leben zu nehmen, aber das ist eine bösartige Verleumdung. Sie hatte Kopfschmerzen und hat aus Versehen die falschen Tabletten genommen. Sie ist öfter mal mit den Gedanken woanders, wie alle Kinder.«
»Selbstverständlich, Reverend«, entgegnete Harry. »Diese verfluchten Pillen. In welchem Zimmer liegt sie? Ich würde sie gern besuchen.«
»Das ist sehr nett von Ihnen, aber es ist besser, wenn sie vorerst keinen Besuch bekommt. Sie darf sich nicht zu sehr anstrengen, verstehen Sie?«
Immerhin hatte Reverend Kellergan ein Büchlein dabei, in das Besucher ihren Namen eintragen konnten. Nachdem Harry Rasche Genesung! H.L. Quebert hineingeschrieben hatte, tat er, als würde er gehen, versteckte sich jedoch in seinem Chevrolet. Er wartete noch eine Stunde, und als er den Reverend quer über den Parkplatz zu seinem Auto gehen sah, kehrte er unauffällig ins Hauptgebäude des Krankenhauses zurück und ließ sich Nolas Zimmernummer geben: Zimmer 26 im zweiten Stock. Mit pochendem Herzen klopfte er an. Keine Antwort. Langsam öffnete er die Tür.
Nola war allein, sie saß auf dem Bettrand. Als sie den Kopf drehte und ihn sah, leuchteten ihre Augen zuerst auf, doch dann wurde ihr Gesicht traurig. »Lassen Sie mich in Ruhe, Harry … Lassen Sie mich, oder ich rufe die Schwestern.«
»Nola, ich kann dich nicht einfach hier allein …«
»Sie waren so gemein, Harry. Ich will Sie nicht sehen. Es schmerzt mich, Sie zu sehen. Ihretwegen wollte ich sterben.«
»Verzeih mir, Nola …«
»Ich verzeihe Ihnen nur, wenn Sie mich wiederhaben wollen. Wenn nicht, lassen Sie mich in Ruhe.«
Sie sah ihm fest in die Augen. Er wirkte bekümmert, von Schuldgefühlen geplagt, und sie konnte nicht anders, als ihn anzulächeln. »Ach, allerliebster Harry, kommen Sie mir nicht mit diesem traurigen Hundeblick! Versprechen Sie mir, nie wieder gemein zu sein?«
»Ich verspreche es.«
»Bitten Sie mich für all die Tage, die Sie mich vor Ihrer Tür haben stehen lassen, ohne mir zu öffnen, um Verzeihung.«
»Ich bitte dich um Verzeihung, Nola.«
»Geben Sie sich ein bisschen mehr Mühe. Knien Sie nieder. Knien Sie nieder, und bitten Sie mich um Entschuldigung.«
Ohne lange nachzudenken, kniete er nieder und legte den Kopf auf ihre nackten Beine. Sie beugte sich hinab und streichelte sein Gesicht. »Stehen Sie auf, Harry. Umarmen Sie mich, mein Liebster. Ich liebe Sie. Ich liebe Sie seit dem Tag, an dem ich Sie zum ersten Mal gesehen habe. Ich will für immer Ihre Frau sein.«
Während Harry und Nola sich in dem kleinen Krankenhauszimmer wiederfanden, hatte sich Jenny in Aurora, wo die Gartenparty seit mehreren Stunden beendet war, in ihrem Zimmer eingeschlossen und weinte vor Kummer und Scham. Robert hatte sie trösten wollen, aber sie hatte sich geweigert, die Tür zu öffnen.Tamara hatte soeben wutschäumend das Haus verlassen, um zu Harry zu fahren und ihn zur Rede zu stellen. So verpasste sie knapp den Besucher, der nicht einmal zehn Minuten später an der Tür klingelte. Robert öffnete, und da stand Travis Dawn in Ausgehuniform, streckte ihm mit geschlossenen Augen einen Armvoll Rosen entgegen und stieß ohne Punkt und Komma hervor: »Jenny-willst-du-mit mir-auf-den-Sommerball-gehen-bitte-danke.«
Robert musste lachen. »Guten Tag, Travis. Möchtest du vielleicht mit Jenny sprechen?«
Travis riss die Augen auf und unterdrückte einen Schrei. »Mr Quinn? Ich … Es tut mir leid. Ich bin so eine Niete! Eigentlich wollte ich nur …Ich meine, wäre es Ihnen recht, wenn ich mit Ihrer Tochter auf den Sommerball gehe? Natürlich nur, wenn sie einverstanden ist. Aber vielleicht hat sie schon jemanden. Sie geht schon mit einem anderen, oder? Was bin ich für ein Trottel!«
Robert schlug Travis freundschaftlich auf die Schulter. »Dich schickt der Himmel, mein Junge. Komm rein.«
Er führte den jungen Polizisten in die Küche und holte ein Bier aus dem Kühlschrank.
»Danke«, sagte Travis und legte die Blumen auf die Küchentheke.
»Nein, das Bier ist für mich. Du brauchst was viel Stärkeres.« Robert griff nach einer Whiskyflasche und schenkte ihm einen Doppelten mit Eiswürfeln ein. »Trink das in einem Zug, hörst du?«
Travis gehorchte. Dann sagte Robert: »Du wirkst zu nervös, mein Junge. Du musst dich entspannen. Mädchen mögen keine nervösen Jungs. Glaub mir, davon verstehe ich was.«
»Dabei bin ich sonst nicht schüchtern, aber wenn ich Jenny sehe, bin ich total blockiert. Ich weiß auch nicht, was das ist …«
»Das nennt man Liebe, mein Sohn.«
»Glauben Sie?«
»Aber sicher.«
»Ihre Tochter ist so toll, Mr Quinn. So sanft und klug und schön! Eigentlich sollte ich es Ihnen gar nicht sagen, aber manchmal fahre ich am Clark’s vorbei, nur um sie durch das große Fenster zu sehen. Ich schaue sie an, und dann springt mir fast das Herz aus der Brust, und mir ist, als müsste ich in meiner Uniform ersticken. Das ist Liebe, oder?«
»Aber sicher.«
»Und wissen Sie was? In solchen Augenblicken würde ich am liebsten aus dem Wagen steigen, ins Clark’s gehen und sie fragen, wie es ihr geht und ob sie nicht Lust hat, mit mir nach Feierabend ins Kino zu gehen. Aber ich traue mich nicht. Ist das auch Liebe?«
»Nee, das ist Schwachsinn. So kommt man nie an das Mädchen ran, das man liebt. Nicht so schüchtern, mein Junge. Du bist jung, siehst gut aus und hast alles, was man braucht.«
»Was muss ich tun, Mr Quinn?«
Robert schenkte ihm Whisky nach. »Ich würde Jenny gern herunterrufen, aber sie hat einen anstrengenden Nachmittag hinter sich. Wenn du meinen Rat hören willst: Trink das, fahr heim, zieh die Uniform aus und ein normales Hemd an. Dann rufst du hier an und schlägst Jenny vor, essen zu gehen. Du sagst, du hast Lust, in Montburry einen Hamburger zu essen. Dort gibt es ein Restaurant, das sie sehr mag. Ich gebe dir die Adresse. Du siehst, du kommst wie gerufen. Wenn du dann im Lauf des Abends merkst, dass die Stimmung entspannt ist, schlägst du ihr einen Spaziergang vor. Ihr setzt euch auf eine Bank und schaut euch die Sterne an. Du zeigst ihr die Sternbilder …
»Die Sternbilder?«, unterbrach Travis ihn verzweifelt. »Ich weiß kein einziges!«
»Dann zeig ihr einfach nur den Großen Bären.«
»Den Großen Bären? Ich erkenne den Großen Bären überhaupt nicht! Verdammt, ich bin aufgeschmissen!«
»Gut, dann zeig ihr einen x-beliebigen leuchtenden Punkt am Himmel, und gib ihm irgendeinen Namen. Frauen finden es immer romantisch, wenn sich ein Kerl mit Astronomie auskennt. Aber pass auf, dass du nicht ein Flugzeug für eine Sternschnuppe hältst! Und danach fragst du sie, ob sie mit dir auf den Sommerball gehen will.«
»Glauben Sie, sie sagt Ja?«
»Da bin ich mir sicher.«
»Danke, Mr Quinn. Vielen Dank!«
Nachdem er Travis nach Hause geschickt hatte, gelang es Robert, Jenny aus ihrem Zimmer zu locken. Sie setzten sich zusammen in die Küche, um ein Eis zu essen.
»Mit wem soll ich denn jetzt auf den Ball gehen, Pa?«, fragte Jenny unglücklich. »Ich werde allein hingehen müssen, und alle werden sich über mich lustig machen.«
»Mal doch nicht den Teufel an die Wand. Ich bin mir sicher, es gibt haufenweise Typen, die davon träumen, mit dir hinzugehen.«
Jenny stopfte sich einen Riesenlöffel Eis in den Mund.
»Ich wüsste zu gerne, wer!«, stöhnte sie mit vollem Mund. »Ich kenne nämlich keinen Einzigen.«
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Robert ließ seine Tochter abheben und hörte sie sagen: »Ah, hallo, Travis … Ja? … Ja, gerne … In einer halben Stunde? Perfekt. Bis gleich.« Sie legte auf und lief zurück zu ihrem Vater, um ihm zu erzählen, dass es ihr Freund Travis gewesen war, der ihr vorgeschlagen hatte, in Montburry essen zu gehen. Robert bemühte sich, überrascht zu wirken.
»Siehst du?«, sagte er. »Ich habe dir ja gesagt, dass du nicht allein auf den Ball gehen wirst.«
Zur selben Zeit schnüffelte Tamara in Goose Cove im leeren Haus herum. Sie hatte lange gegen die Tür getrommelt – vergebens. Wenn Harry sich versteckte, würde sie ihn schon finden. Aber es war niemand da, also beschloss sie, sich ein wenig umzusehen. Sie begann im Wohnzimmer, ging dann durch die anderen Räume und schließlich auch in Harrys Büro. Dort wühlte sie in den auf seinem Schreibtisch verstreut liegenden Papieren, bis sie auf eines stieß, das er gerade erst geschrieben haben konnte.
Meine Nola, allerliebste Nola, Nola, meine Liebe! Was hast Du getan? Warum wolltest Du sterben? Etwa meinetwegen? Ich liebe Dich, ich liebe Dich über alles. Verlass mich nicht. Wenn Du stirbst, sterbe ich auch. Du bist das Einzige in meinem Leben, Nola, was zählt. Vier Buchstaben: N-O-L-A.
Außer sich, steckte Tamara das Papier in die Tasche. Sie war fest entschlossen, Harry Quebert zu vernichten.