Er war ein bulliger Kerl und wirkte nicht sehr umgänglich: ein Afroamerikaner mit Händen wie Fleischklopfer, dessen zu enger Blazer den kräftigen, untersetzten Körperbau verriet. Als ich ihn zum ersten Mal sah, richtete er einen Revolver auf mich. Übrigens war er der Erste, der mich jemals mit einer Waffe bedrohte. Er trat am 18. Juni 2008 in mein Leben. Das war der Tag, an dem ich ernsthafte Ermittlungen in den Mordfällen Nola Kellergan und Deborah Cooper aufnahm. An diesem Morgen, knapp achtundvierzig Stunden nach meiner Ankunft in Goose Cove, beschloss ich, dass es Zeit war, mir das gähnende Loch vorzunehmen, das man zwanzig Meter vom Haus entfernt gegraben hatte und das ich mir bislang nur aus der Entfernung angesehen hatte. Ich schlüpfte also unter der Polizeiabsperrung hindurch und inspizierte ausgiebig das Terrain, das ich so gut kannte. Goose Cove lag eingebettet zwischen Strand und Küstenwald, und weder Zäune noch Verbotsschilder grenzten das Grundstück ab. Es war also frei zugänglich, und nicht selten sah man Spaziergänger am Strand entlang oder durch den nahen Wald gehen. Das Loch befand sich auf einem zwischen Terrasse und Wald gelegenen Rasenstück hoch über dem Meer. Als ich nun davorstand, schwirrten mir tausend Fragen durch den Kopf, allen voran die, wie viele Stunden ich wohl auf dieser Terrasse und in Harrys Arbeitszimmer verbracht hatte, während die Leiche dieses Mädchens hier unter der Erde ruhte. Ich machte mit dem Handy ein paar Fotos und sogar einige Videoaufnahmen und versuchte mir den verwesten Körper vorzustellen, den die Polizei gefunden haben musste. Ich stand so unter dem Bann des Tatorts, dass ich die bedrohliche Gestalt hinter mir nicht bemerkte. Erst als ich mich umdrehte, um den Abstand zur Terrasse zu filmen, entdeckte ich den Mann, der ein paar Meter hinter mir stand und einen Revolver auf mich richtete. Ich schrie: »Nicht schießen! Verdammt, nicht schießen! Ich bin Marcus Goldman, der Schriftsteller!«

Sofort ließ er die Waffe sinken. »Sie sind Marcus Goldman?«

Er schob den Revolver in ein Halfter an seinem Gürtel, und dabei sah ich, dass er eine Dienstmarke trug.

»Sie sind Polizist?«, fragte ich.

»Sergeant Perry Gahalowood. Mordkommission der State Police. Was haben Sie hier zu suchen? Das hier ist ein Tatort.«

»Machen Sie das öfter, ich meine, mit Ihrer Kanone auf andere Menschen zielen? Was, wenn ich von der Federal Police wäre? Dann würden Sie jetzt blöd aus der Wäsche schauen! Ich würde Sie auf der Stelle feuern lassen.«

Er lachte schallend. »Sie? Ein Bulle? Seit zehn Minuten beobachte ich Sie, wie Sie auf Zehenspitzen herumtrippeln, um Ihre Mokassins nicht schmutzig zu machen. Außerdem fangen Beamte von der Federal Police nicht an zu schreien, wenn sie eine Waffe sehen, sondern ziehen ihre eigene und schießen auf alles, was sich bewegt.«

»Ich habe Sie für einen Gangster gehalten.«

»Weil ich schwarz bin?«

»Nein, weil Sie eine Gangstervisage haben. Ist das eine Indianerkrawatte?«

»Ja.«

»Völlig aus der Mode.«

»Sagen Sie mir jetzt, was Sie hier zu suchen haben?«

»Ich wohne hier.«

»Was soll das heißen?«

»Ich bin ein Freund von Harry Quebert. Er hat mich gebeten, mich in seiner Abwesenheit um das Haus zu kümmern.«

»Sie sind ja total verrückt! Harry Quebert ist des zweifachen Mordes angeklagt, sein Haus wurde durchsucht, und der Zutritt ist verboten. Ich loche Sie ein, mein Guter.«

»Sie haben das Haus nicht versiegelt.«

Im ersten Augenblick war er perplex, dann erwiderte er: »Ich habe nicht damit gerechnet, dass ein Sonntagsschreiber das Haus besetzt.«

»Rechnen sollte man aber können, sogar als Polizist.«

»Ich werde Sie trotzdem einbuchten.«

»Juristisches Vakuum!«, rief ich. »Keine Siegel, kein Verbot! Ich bleibe hier. Sonst zerre ich Sie bis vor den Obersten Gerichtshof und verklage Sie, weil Sie mich mit Ihrer Kanone bedroht haben. Und ich verlange Schadenersatz in Millionenhöhe. Ich habe alles gefilmt.«

»Das ist auf Roths Mist gewachsen, was?«, fragte Gahalowood seufzend.

»Stimmt.«

»Pfff, dieser Teufel! Der würde seine eigene Mutter auf den elektrischen Stuhl schicken, wenn er dadurch einen Klienten entlasten könnte.«

»Trotzdem, juristisches Vakuum, Sergeant. Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel.«

»Doch. Aber das Haus interessiert uns sowieso nicht mehr. Trotzdem verbiete ich Ihnen, noch mal die Polizeiabsperrung zu übertreten. Können Sie nicht lesen? Da steht TATORT – NICHT BETRETEN.«

Mittlerweile hatte ich wieder Oberwasser. Ich klopfte mein Hemd ab und machte ein paar Schritte auf das Loch zu.

»Stellen Sie sich vor, Sergeant, ich ermittle ebenfalls«, erklärte ich gravitätisch. »Sagen Sie mir lieber, was Sie über den Fall wissen.«

Wieder prustete er los. »Ich glaube, ich träume: Sie ermitteln? Hört, hört! Sie schulden mir übrigens fünfzehn Dollar.«

»Fünfzehn Dollar? Wieso?«

»So viel hat mich Ihr Buch gekostet. Ich habe es letztes Jahr gelesen. Ein ganz schlechtes Buch, wohl das schlechteste, das ich in meinem ganzen Leben gelesen habe. Ich hätte gern eine Erstattung.«

Ich sah ihm fest in die Augen und sagte: »Sie können mich mal, Sergeant.«

Und da ich weiterging, ohne zu schauen, wo ich hintrat, fiel ich ins Loch. Wieder stieß ich einen Schrei aus, weil ich mich jetzt genau dort befand, wo die tote Nola gelegen hatte.

»Ich fasse es nicht!«, rief Gahalowood vom Erdhaufen herunter.

Er streckte mir die Hand hin und half mir beim Herausklettern. Wir setzten uns auf die Terrasse, und ich gab ihm sein Geld. Ich hatte aber nur einen Fünfziger.

»Können Sie rausgeben?«, fragte ich.

»Nein.«

»Dann behalten Sie den Rest.«

»Danke, Schriftsteller.«

»Ich bin kein Schriftsteller mehr.«

Obwohl Sergeant Gahalowood offensichtlich ein unwirscher Zeitgenosse und obendrein ein Sturkopf war, erzählte er mir auf meine dringliche Bitte hin, dass er am Tag des Funds Bereitschaft gehabt hatte und als einer der Ersten an der Grube gewesen war. »Es lagen menschliche Überreste und eine Ledertasche darin. In die Innenseite der Tasche war der Name Nola Kellergan eingeprägt. Ich habe sie geöffnet und darin ein relativ gut erhaltenes Manuskript gefunden. Ich vermute, durch das Leder wurde das Papier konserviert.«

»Woher wussten Sie, dass das Manuskript von Harry Quebert war?«

»Das wusste ich nicht gleich. Ich habe es ihm im Verhörraum gezeigt, und er hat es sofort wiedererkannt. Natürlich habe ich den Text anschließend überprüft. Er stimmte Wort für Wort mit seinem Buch Der Ursprung des Übels überein, das 1976 veröffentlicht worden ist, nicht mal ein Jahr nach dieser Tragödie. Seltsamer Zufall, was?«

»Nur weil er ein Buch für Nola geschrieben hat, ist das noch lange kein Beweis, dass er sie getötet hat. Er hat gesagt, dass das Manuskript verschwunden war und Nola seine Texte manchmal mitgenommen hat.«

»Die Leiche der Kleinen wurde in seinem Garten gefunden! Mit dem Manuskript seines Buchs! Bringen Sie mir den Beweis für seine Unschuld, Schriftsteller, dann ändere ich vielleicht meine Meinung.«

»Ich würde das Manuskript gern sehen.«

»Ausgeschlossen. Es ist ein Beweisstück.«

»Aber ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich ebenfalls ermittle«, insistierte ich.

»Ihre Ermittlungen interessieren mich nicht, Schriftsteller. Sie erhalten Zugang zur Akte, nachdem Quebert der Grand Jury vorgeführt worden ist.«

Ich wollte ihm beweisen, dass ich kein Amateur war und auch etwas von der Sache verstand. »Ich habe mit Travis Dawn, dem jetzigen Polizeichef von Aurora, gesprochen. Offenbar gab es zum Zeitpunkt von Nolas Verschwinden eine heiße Spur, und zwar den Fahrer eines schwarzen Chevrolet Monte Carlo.«

»Das ist mir bekannt«, versetzte Gahalowood. »Und dreimal dürfen Sie raten, wer damals genau so einen Wagen besaß: Harry Quebert.«

»Woher wissen Sie das?«

»Weil ich den damaligen Polizeibericht gelesen habe.«

Ich dachte kurz nach, dann sagte ich: »Eine Minute noch, Sergeant. Wenn Sie so schlau sind, erklären Sie mir doch, warum Harry an der Stelle, wo er Nola angeblich verscharrt hatte, Blumen hätte pflanzen lassen sollen.«

»Weil er davon ausging, dass die Gärtner nicht so tief graben würden.«

»Das ist doch absurd, und das wissen Sie auch. Harry hat Nola Kellergan nicht getötet.«

»Wieso sind Sie sich da so sicher?«

»Er hat sie geliebt.«

»Das sagen sie alle, wenn man ihnen den Prozess macht: ›Ich habe sie zu sehr geliebt, darum musste ich sie töten.‹ Wer liebt, tötet nicht.« Mit diesen Worten stand Gahalowood von seinem Stuhl auf, um mir klarzumachen, dass er mir nichts mehr zu sagen hatte.

»Sie gehen schon, Sergeant? Aber unsere Ermittlungen haben doch gerade erst begonnen.«

»Unsere? Sie meinen meine.«

»Wann sehen wir uns wieder?«

»Nie, Schriftsteller. Nie.«

Er ging ohne jeden weiteren Gruß.

Auch wenn mich dieser Gahalowood nicht ernst nahm – Travis Dawn tat es durchaus, als ich ihn wenig später auf dem Polizeirevier von Aurora aufsuchte und ihm die anonyme Botschaft zeigte, die ich am Vorabend entdeckt hatte. »Das hier habe ich in Goose Cove gefunden«, sagte ich und legte ihm den Zettel auf den Schreibtisch.

Er las ihn. »Fahr nach Hause, Goldman? Von wann ist das?«

»Von gestern Abend. Ich war am Strand spazieren. Als ich zurückkam, steckte diese Nachricht in der Haustür.«

»Ich nehme an, du hast nichts Auffälliges bemerkt …«

»Nein, nichts.«

»War es das erste Mal?«

»Ja. Aber ich bin ja auch erst seit zwei Tagen hier.«

»Ich werde eine Anzeige aufnehmen, damit die Sache aktenkundig ist. Du solltest vorsichtig sein, Marcus.«

»Du hörst dich an wie meine Mutter.«

»Nein, im Ernst. Du darfst bei dieser ganzen Geschichte die emotionale Seite nicht unterschätzen. Kann ich diesen Brief behalten?«

»Er gehört dir.«

»Danke. Was kann ich sonst noch für dich tun? Ich gehe davon aus, dass du nicht nur gekommen bist, um mit mir über dieses Stück Papier zu reden.«

»Ich möchte dich bitten, mit mir nach Side Creek zu fahren, wenn du Zeit hast. Ich möchte gern den Ort sehen, an dem alles passiert ist.«

Travis erklärte sich nicht nur bereit, mit mir nach Side Creek zu fahren, sondern ermöglichte mir außerdem eine Zeitreise, die mich dreiunddreißig Jahre zurück in die Vergangenheit führte. Wir fuhren mit seinem Dienstwagen haargenau die Strecke ab, die er zurückgelegt hatte, nachdem er Deborah Coopers ersten Anruf entgegengenommen hatte. Von Aurora kommend, folgten wir der Route 1 an der Küste entlang in Richtung Maine, kamen an Goose Cove vorbei und gelangten ein paar Meilen später an den Waldrand bei Side Creek und zur Kreuzung mit der Side Creek Lane, an deren Ende Deborah Cooper gewohnt hatte. Travis bog ab, und kurz darauf standen wir vor ihrem Haus, einem hübschen, von Wald umgebenen und dem Meer zugewandten Holzbau. Ein wunderschöner, aber gottverlassener Ort.

»Hier hat sich nichts verändert«, meinte Travis, als wir ums Haus gingen. »Nur der Anstrich ist neu, er ist ein klein wenig heller als der alte. Sonst ist alles genau wie damals.«

»Wer wohnt jetzt hier?«

»Ein Ehepaar aus Boston, das hier die Sommermonate verbringt. Sie kommen im Juli und fahren Ende August wieder ab. Die übrige Zeit steht es leer.«

Er zeigte mir die Hintertür, die zur Küche führte, und sagte: »Als ich Deborah Cooper zum letzten Mal lebend gesehen habe, hat sie vor dieser Tür gestanden. Chief Pratt war gerade eingetroffen. Er hat zu ihr gesagt, dass sie lieber im Haus bleiben und sich keine Sorgen machen solle, und dann sind wir losgezogen, um den Wald abzusuchen. Wer hätte ahnen können, dass sie zwanzig Minuten später durch einen Schuss in die Brust umgebracht würde?«

Travis steuerte auf den Wald zu. Ich begriff, dass er demselben Weg folgte, den er dreiunddreißig Jahre zuvor mit Chief Pratt eingeschlagen hatte.

»Was ist eigentlich aus Chief Pratt geworden?«, fragte ich und heftete mich an seine Fersen.

»Er ist im Ruhestand. Er wohnt immer noch in Aurora, im Mountain Drive. Du bist ihm bestimmt schon über den Weg gelaufen. Ein eher stämmiger Typ, der ständig und überall Golfhosen trägt.«

Wir schlugen uns zwischen den Baumreihen durch. Trotz des dichten Bestands war weiter vorn, etwas tiefer gelegen, der Strand zu erkennen. Nach einem gut viertelstündigen Fußmarsch blieb Travis abrupt an drei kerzengeraden Kiefern stehen.

»Hier war es«, verkündete er.

»Hier war was

»Hier haben wir das Blut, die blonden Haarbüschel und einen roten Stofffetzen gefunden. Es war grauenhaft. Ich werde diese Stelle immer wiedererkennen. Mittlerweile ist zwar mehr Moos auf den Steinen, und die Bäume sind größer, aber für mich hat sie sich nicht verändert.«

»Was habt ihr dann gemacht?«

»Wir haben begriffen, dass die Sache ernst ist, aber uns blieb keine Zeit, uns hier länger aufzuhalten, weil plötzlich dieser Schuss knallte. Es war verrückt, aber wir hatten es nicht kommen sehen … Damit will ich sagen, dass wir zwangsläufig an dem Mädchen oder seinem Mörder vorbeigekommen sein mussten … Ich weiß auch nicht, wie wir sie übersehen konnten … Wahrscheinlich haben sie sich im Unterholz versteckt, und er hat ihr den Mund zugehalten, damit sie nicht schreit. Der Wald ist riesig, da ist es ein Kinderspiel unterzutauchen. Ich vermute, sie konnte sich in einem Augenblick der Unachtsamkeit von ihrem Angreifer losreißen und ist Hilfe suchend zum Haus gerannt. Er ist ihr gefolgt und hat die alte Cooper abgeknallt.«

»Als ihr den Schuss gehört habt, seid ihr sofort zum Haus zurückgelaufen?«

»Ja.«

Wir machten kehrt und gingen zum Haus zurück.

»Es hat sich alles in der Küche abgespielt«, fuhr Travis fort. »Nola kommt aus dem Wald gelaufen und ruft um Hilfe, die alte Cooper holt sie rein und geht ins Wohnzimmer, um die Polizei anzurufen und sie darüber zu informieren, dass das Mädchen bei ihr ist. Ich weiß, dass sich das Telefon im Wohnzimmer befindet, weil ich es selbst eine halbe Stunde zuvor benutzt habe, um Chief Pratt anzurufen. Während sie telefoniert, dringt der Angreifer ins Haus ein, um sich Nola zu holen, aber in diesem Augenblick taucht die alte Cooper wieder auf, und er erschießt sie. Dann packt er Nola und zerrt sie zu seinem Wagen.«

»Wo stand dieser Wagen?«

»Am Rand der Route 1, dort, wo die Straße an diesem verfluchten Wald entlangführt. Komm mit, ich zeig’s dir.«

Travis lotste mich abermals vom Haus in den Wald, doch diesmal in die andere Richtung. Mit festem Schritt ging er vor mir zwischen den Bäumen hindurch, und kurz darauf standen wir an der Route 1.

»Hier parkte der schwarze Chevrolet. Damals lag die Straße nicht so frei da, sondern war hinter Sträuchern versteckt.«

»Woher wusste man, dass er diesen Weg eingeschlagen hatte?«

»Es gab Blutspuren vom Haus bis hierher.«

»Und der Wagen?«

»Hatte sich in Luft aufgelöst. Wie ich dir schon erzählt habe: Ein Hilfssheriff, der auf der Straße als Verstärkung unterwegs war, hat ihn zufällig entdeckt. Es kam zu einer Verfolgungsjagd. Wir haben in der ganzen Gegend Straßensperren errichtet, aber er ist uns entwischt.«

»Wie hat der Mörder es bloß geschafft, euch durch die Lappen zu gehen?«

»Das wüsste ich auch gern. Ich muss dir gestehen, dass ich mir nach dreiunddreißig Jahren immer noch jede Menge Fragen zu diesem Fall stelle. Es vergeht kein Tag, an dem ich mich, wenn ich in mein Polizeiauto steige, nicht frage, was passiert wäre, wenn wir diesen beschissenen Chevrolet geschnappt hätten. Vielleicht hätten wir die Kleine retten können …«

»Du glaubst also, dass sie sich in diesem Wagen befunden hat?«

»Jetzt, wo wir ihre Leiche zwei Meilen von hier gefunden haben, gehe ich fest davon aus.«

»Und du glaubst auch, dass Harry am Steuer von diesem schwarzen Chevrolet gesessen hat, oder?«

Er hob die Schultern. »Sagen wir, angesichts der jüngsten Entwicklungen wüsste ich nicht, wer sonst.«

Der frühere Polizeichef Gareth Pratt, den ich noch am selben Tag aufsuchte, schien in Bezug auf Harrys Täterschaft derselben Ansicht wie sein damaliger Assistent zu sein. Er empfing mich in Golfhosen auf seiner Vorderveranda. Seine Frau Amy brachte uns etwas zu trinken und tat dann so, als kümmerte sie sich um die Pflanzenkübel auf der Veranda, aber eigentlich lauschte sie unserer Unterhaltung. Allerdings machte sie daraus keinen Hehl, sondern kommentierte die Ausführungen ihres Mannes.

»Ich habe Sie schon mal gesehen, oder?«, fragte Pratt.

»Ja, ich war schon oft in Aurora.«

»Das ist der nette junge Mann, der dieses Buch geschrieben hat«, klärte ihn seine Frau auf.

»Sie sind doch nicht etwa der Typ, der dieses Buch geschrieben hat?«, wiederholte er.

»Doch«, erwiderte ich. »Bin ich.«

»Das habe ich dir doch gerade gesagt, Gareth«, schaltete sich Amy erneut ein.

»Schätzchen, unterbrich uns bitte nicht dauernd. Das ist mein Besuch, danke! Also, Mr Goldman, was verschafft mir die Ehre?«

»Offen gestanden, suche ich nach Antworten auf ein paar Fragen, die ich mir im Zusammenhang mit dem Mord an Nola Kellergan stelle. Ich habe mit Travis Dawn gesprochen, und er hat mir gesagt, dass Sie Harry schon damals im Verdacht hatten.«

»Das stimmt.«

»Weshalb?«

»Ein paar Dinge haben uns diesen Floh ins Ohr gesetzt, allen voran der Ausgang der Verfolgungsjagd. Er ließ vermuten, dass der Mörder von hier sein musste. Er musste die Gegend wie seine Westentasche kennen, um einfach so abzutauchen, während die gesamte Polizei des Bezirks im Einsatz war. Und dann war da dieser schwarze Monte Carlo. Sie können sich denken, dass wir eine Liste aller im Umland wohnenden Besitzer dieses Modells haben erstellen lassen. Der Einzige von ihnen, der kein Alibi hatte, war Quebert.«

»Und trotzdem haben Sie diese Spur am Ende nicht weiterverfolgt …«

»Nein, weil wir abgesehen von der Sache mit dem Auto nicht wirklich etwas gegen ihn in der Hand hatten. Wir haben ihn im Übrigen sehr schnell von der Liste der Verdächtigen gestrichen. Der Fund der Leiche dieses armen Mädchens in seinem Garten beweist allerdings, dass wir falschgelegen haben. Es ist verrückt, ich konnte den Burschen immer wahnsinnig gut leiden, aber vielleicht hat genau das mein Urteilsvermögen getrübt. Er war immer so charmant, so freundschaftlich, so einnehmend … Sie selber kennen ihn doch gut, Mr Goldman, wenn ich es richtig verstanden habe … Jetzt, wo Sie von dem Mädchen in seinem Garten wissen, gibt es da nicht irgendetwas, was er irgendwann gesagt oder getan hat, was Sie im Nachhinein hellhörig macht?«

»Nein, Chief. Mir fällt nichts Derartiges ein.«

Zurück in Goose Cove, fiel mein Blick auf die Hortensienbüsche, die hinter der Polizeiabsperrung am Rand der Grube mit bloß liegenden Wurzeln verkümmerten. Ich ging in das kleine Nebengebäude, das als Garage diente, und sah mich nach einem Spaten um. Dann drang ich erneut in die verbotene Zone ein, schaufelte über dem Meer an einer Stelle mit lockerem Erdreich ein Loch und pflanzte die Blumen ein.

30. August 2002

»Harry?«

Es war sechs Uhr früh. Er stand mit einer Tasse Kaffee in der Hand auf der Terrasse von Goose Cove. Als ich seinen Namen sagte, drehte er sich um. »Marcus? Sie sind ja ganz verschwitzt … Sagen Sie bloß, Sie waren schon laufen!«

»Ja. Die üblichen acht Meilen.«

»Wann sind Sie aufgestanden?«

»Früh. Erinnern Sie sich noch, als ich vor zwei Jahren zum ersten Mal hier war und Sie mich gezwungen haben, im Morgengrauen aufzustehen? Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht. Ich stehe früh auf, dann gehört mir die Welt. Und Sie? Was machen Sie hier draußen?«

»Ich schaue, Marcus.«

»Und was sehen Sie?«

»Sehen Sie das kleine Rasenstück zwischen den Kiefern, oberhalb vom Strand? Ich will schon seit Langem etwas daraus machen. Es ist der einzige ebene Flecken auf diesem Grundstück, man könnte dort ein Gärtchen anlegen. Mir schwebt ein hübscher kleiner Ort vor mit zwei Bänken, einem Eisentisch und rundherum Hortensien. Einem Meer von Hortensien.«

»Warum gerade Hortensien?«

»Weil ich mal jemanden kannte, der sie liebte. Ich möchte Hortensienbeete haben, um mich immer an sie zu erinnern.«

»Haben Sie sie geliebt?«

»Ja.«

»Sie sehen traurig aus, Harry.«

»Achten Sie nicht darauf.«

»Harry, warum reden Sie mit mir nie über Ihr Liebesleben?«

»Weil es dazu nichts zu sagen gibt. Schauen Sie lieber, schauen Sie gut hin. Oder, besser gesagt, schließen Sie die Augen! Ja, schließen Sie sie ganz fest, sodass kein Licht durch Ihre Lider dringt. Und jetzt stellen Sie sich vor, dass da ein gepflasterter Weg ist, der von der Terrasse bis zu den Hortensien führt. Und von zwei kleinen Bänken aus hat man gleichzeitig den Ozean und die wunderschönen Blumen im Blick. Was kann es Schöneres geben, als den Ozean und die Hortensien zu sehen? Und da steht auch ein kleiner Springbrunnen mit einer Statue in der Mitte. In den setze ich vielleicht bunte japanische Karpfen.«

»Fische? Die würden nicht eine Stunde überleben, weil die Möwen sie fressen würden.«

Er lächelte. »Die Möwen können hier tun, was sie wollen, Marcus. Aber Sie haben recht, ich werde keine Karpfen ins Bassin setzen. Und jetzt gehen Sie, und duschen Sie schön heiß, ja? Nicht, dass Sie sich den Tod oder irgendeine fiese Krankheit holen und Ihre Eltern denken, dass ich mich nicht gut um Sie kümmere. Ich mache inzwischen Frühstück. Marcus …«

»Ja, Harry?«

»Wenn ich einen Sohn hätte …«

»Ich weiß, Harry. Ich weiß.«

Am Donnerstag, den 19. Juni 2008, fuhr ich morgens zum Sea Side Motel. Es war ganz einfach zu finden: Von der Side Creek Lane aus folgte man vier Meilen der Route 1 in nördlicher Richtung, dann konnte man es gar nicht verpassen, das riesige Holzschild mit der Aufschrift:

SEA SIDE MOTEL & RESTAURANT
seit 1960

Diesen Ort, an dem Harry auf Nola gewartet hatte, gab es schon ewig. Bestimmt war ich hundertmal daran vorbeigefahren, ohne ihm die geringste Beachtung zu schenken – warum hätte ich das bis zum heutigen Tag auch tun sollen? Es war ein von einem Rosengarten umgebenes Holzgebäude mit rotem Dach. Gleich dahinter begann der Wald. Sämtliche Zimmer im Erdgeschoss gingen direkt zum Parkplatz; die im ersten Stock erreichte man über eine Außentreppe.

Der Angestellte an der Rezeption erklärte mir, dass sich das Motel seit seiner Erbauung kaum verändert hatte, lediglich die Zimmer waren irgendwann modernisiert und ein Restaurant angebaut worden. Zum Beweis holte er das Buch hervor, das anlässlich des vierzigjährigen Bestehens gedruckt worden war, und zeigte mir die alten Fotos.

»Warum interessieren Sie sich so für das Motel?«, fragte er schließlich.

»Weil ich eine sehr wichtige Auskunft benötige«, erwiderte ich.

»Ich höre.«

»Ich möchte wissen, ob in der Nacht vom Samstag, den 30. August, auf Sonntag, den 31. August 1975, jemand in Zimmer 8 geschlafen hat.«

Er brach in Gelächter aus. »1975? Ist das Ihr Ernst? Seit wir auf Computer umgestellt haben, können wir das Gästeregister maximal zwei Jahre zurückverfolgen. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen sagen, wer am 30. August 2006 darin geschlafen hat. Rein theoretisch, meine ich, weil ich nämlich nicht befugt bin, Ihnen solche Auskünfte zu geben.«

»Also gibt es keine Möglichkeit, das herauszufinden?«

»Die einzigen Daten, die wir abgesehen vom Register speichern, sind die E-Mail-Adressen für unseren Newsletter. Haben Sie vielleicht Interesse, unseren Newsletter zu erhalten?«

»Nein, danke. Aber ich würde mich gern in Zimmer 8 umsehen, wenn das möglich ist.«

»Darin umsehen können Sie sich leider nicht, aber das Zimmer ist frei. Möchten Sie es für die Nacht mieten? Das macht hundert Dollar.«

»Auf Ihrem Schild steht, dass alle Zimmer fünfundsiebzig Dollar kosten. Wissen Sie was? Ich gebe Ihnen zwanzig Dollar, Sie zeigen mir das Zimmer, und alle sind zufrieden.«

»Sie sind ein zäher Verhandlungspartner, aber einverstanden.«

Zimmer 8 befand sich im ersten Stock. Es war ein vollkommen durchschnittliches Zimmer mit einem Bett, einer Minibar, einem Fernseher, einem kleinen Schreibtisch und einem Bad.

»Warum interessieren Sie sich so für dieses Zimmer?«, wollte der Angestellte wissen.

»Das ist kompliziert. Ein Freund hat mir gesagt, dass er vor dreißig Jahren hier übernachtet hat. Wenn das stimmt, bedeutet das, dass er unschuldig ist an den Verbrechen, die man ihm zur Last legt.«

»Und was für Verbrechen sind das?«

Ich antwortete nicht darauf, sondern fragte weiter: »Warum heißt das Motel eigentlich Sea Side Motel? Das Meer ist gar nicht zu sehen.«

»Nein, aber es gibt einen Weg, der durch den Wald zum Strand führt. Das steht auch im Prospekt. Aber den Leuten, die hier absteigen, ist das egal, die gehen sowieso nicht an den Strand.«

»Wollen Sie damit sagen, dass man von Aurora aus auch hierherkommt, wenn man immer am Meer entlang und dann durch den Wald geht?«

»Rein theoretisch, ja.«

Den Rest des Tages verbrachte ich in der Gemeindebibliothek, um die Archive zu durchforsten und die Vergangenheit zu rekonstruieren. Dabei war mir Erne Pinkas eine große Hilfe: Ohne auf die Zeit zu achten, unterstützte er mich bei meinen Recherchen.

Damaligen Zeitungsberichten zufolge war am Tag des Verschwindens niemandem etwas Ungewöhnliches aufgefallen: Weder hatte jemand gesehen, wie Nola sich davonmachte, noch hatte man irgendwen bemerkt, der sich in der Nähe ihres Elternhauses herumgetrieben hätte. Ihr Verschwinden blieb in aller Augen ein großes Rätsel, das durch den Mord an Deborah Cooper noch verstärkt wurde. Gleichwohl hatten einige Zeugen – im Wesentlichen Nachbarn – ausgesagt, an jenem Tag aus dem Haus der Kellergans Lärm und Schreie gehört zu haben, während andere berichtet hatten, es habe sich bei dem Lärm um Musik gehandelt, die der Reverend besonders laut gestellt hatte, wie es seine Gewohnheit gewesen sei. Nachforschungen des Aurora Star hatten ergeben, dass Nolas Vater oft in seiner Garage werkelte und dabei immer Musik hörte. Er stellte die Musik so laut, dass sie den Lärm seiner Werkzeuge übertönte, weil er sich sagte, dass gute Musik, selbst wenn sie zu laut war, immer noch besser war als Hammerschläge. Aber falls seine Tochter ihn um Hilfe gerufen hatte, hätte er sie nicht hören können. Laut Pinkas machte sich der Vater heute noch Vorwürfe, weil er die Musik so laut aufgedreht hatte. Er hatte das Haus der Familie in der Terrace Avenue nie aufgegeben, sondern sich darin verkrochen und spielte wie ein Besessener immer wieder dieselbe Platte, als wollte er sich bestrafen. Von den Kellergans war nur noch er übrig. Louisa, die Mutter, war schon vor Langem gestorben. An dem Abend, an dem Nola ausgegraben worden war, hatten offenbar Journalisten den alten David Kellergan zu Hause heimgesucht. »Das war erschütternd«, berichtete Pinkas. »Er sagte so etwas Ähnliches wie: Sie ist also tot … Und ich habe die ganze Zeit über gespart, damit sie studieren kann. Und stell dir vor: Am nächsten Tag standen fünf falsche Nolas bei ihm auf der Matte. Wegen der Kohle. Der Arme war vollkommen verstört. Wir leben wirklich in einer verrückten Zeit. Die Menschheit hat nur Dreck im Kopf, Marcus. Das ist meine Meinung.«

»Hat ihr Vater das oft gemacht, ich meine, die Musik voll aufgedreht?«, fragte ich.

»Ja, ständig. Und was Harry angeht … Ich bin gestern in der Stadt der alten Quinn über den Weg gelaufen …«

»Der alten Quinn?«

»Ja, ihr gehörte früher das Clark’s. Sie erzählt jedem, der es hören will, sie hätte schon immer gewusst, dass Harry ein Auge auf Nola geworfen hatte … Sie behauptet, sie hätte damals einen unwiderlegbaren Beweis dafür gehabt.«

»Was für einen Beweis?«, wollte ich wissen.

»Keine Ahnung. Hast du was von Harry gehört?«

»Ich gehe ihn morgen besuchen.«

»Grüße ihn von mir.«

»Besuch ihn doch auch mal, wenn du willst … Er würde sich freuen.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das will.«

Ich wusste, dass der fünfundsiebzigjährige Rentner Pinkas, ein ehemaliger Arbeiter in einer Textilfabrik in Concord, der nie studiert hatte und darunter litt, dass er seine Leidenschaft für Bücher außerhalb seiner ehrenamtlichen Tätigkeit in der Bücherei nicht ausleben konnte, Harry unendlich dankbar war, weil dieser ihm gestattet hatte, unentgeltlich seine Literaturvorlesungen am Burrows College zu besuchen. Deshalb hatte ich ihn immer für einen von Harrys treusten Unterstützern gehalten, doch nun ging sogar er auf Distanz zu ihm.

»Weißt du«, sagte er, »Nola war ein ganz besonderes Mädchen, sanftmütig und nett zu jedem. Jeder hier hatte Nola gern! Sie war wie unser aller Tochter. Wie konnte Harry nur … Ich meine, auch wenn er sie nicht getötet hat, hat er dieses Buch geschrieben! Scheiße, sie war erst fünfzehn! Sie war noch ein Kind! Er hat sie so sehr geliebt, dass er für sie ein Buch geschrieben hat? Einen Liebesroman? Ich war mit meiner Frau fünfzig Jahre lang verheiratet und hatte nie das Bedürfnis, ein Buch für sie zu schreiben.«

»Aber dieses Buch ist ein Meisterwerk.«

»Dieses Buch ist Teufelswerk! Es ist pervers. Übrigens habe ich die letzten Exemplare, die wir hier hatten, weggeworfen. Die Leute sind zu aufgebracht.«

Ich seufzte, antwortete aber nicht darauf. Ich wollte mich nicht mit ihm streiten. Stattdessen fragte ich einfach nur: »Erne, kann ich ein Paket in die Bücherei schicken lassen?«

»Ein Paket. Aber sicher. Warum?«

»Ich habe meine Putzfrau gebeten, mir per FedEx einen wichtigen Gegenstand aus meiner Wohnung zu schicken. Aber mir ist es lieber, das Paket wird hierher geliefert. Ich bin nicht immer in Goose Cove, und der Briefkasten quillt über vor gehässiger Post, die ich schon gar nicht mehr raushole. Hier bin ich wenigstens sicher, dass es ankommt.«

Der Briefkasten von Goose Cove lieferte ein anschauliches Bild davon, wie es um Harrys Ruf stand: Ganz Amerika, das ihn eben noch bewundert hatte, buhte ihn aus und überhäufte ihn mit Schmähbriefen. Der größte Skandal in der Geschichte des Verlagswesens war im Gange: Der Ursprung des Übels war aus sämtlichen Regalen der Buchhandlungen und von den Lehrplänen der Schulen verschwunden, der Boston Globe hatte die Zusammenarbeit mit Harry einseitig aufgekündigt, und der Verwaltungsrat des Burrows College hatte beschlossen, ihn mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben zu entbinden. Die Zeitungen taten sich keinen Zwang mehr an, ihn einen Triebtäter zu nennen. Er war Diskussions- und Gesprächsthema Nummer eins. Roy Barnaski, der eine geschäftliche Chance witterte, die er unter keinen Umständen auszulassen gedachte, wollte unbedingt ein Buch über den Fall herausbringen. Und da Douglas es nicht schaffte, mich zu überreden, rief Barnaski mich schließlich höchstpersönlich an, um mir eine kleine Lektion in Sachen Marktwirtschaft zu erteilen.

»Das Publikum will dieses Buch«, behauptete er. »Hören Sie sich das an: Ein paar Fans stehen sogar unten vor unserem Gebäude und skandieren Ihren Namen.«

Er schaltete auf Lautsprecher und gab seinen Mitarbeitern einen Wink, die daraufhin aus vollen Lungen Gold-man! Gold-man! Gold-man! brüllten.

»Das sind keine Fans, Roy, das sind Ihre Mitarbeiter. Guten Tag, Marisa.«

»Guten Tag, Marcus«, antwortete Marisa.

Barnaski griff wieder zum Hörer. »Überlegen Sie doch mal, Goldman: Wir bringen das Buch im Herbst. Der Erfolg ist vorprogrammiert! Anderthalb Monate, um das Ding zu schreiben – geht das für Sie in Ordnung?«

»Anderthalb Monate? Ich habe zwei Jahre für mein erstes Buch gebraucht. Außerdem weiß ich nicht mal, was ich zu dem Thema schreiben sollte. Bis jetzt weiß niemand, was passiert ist.«

»Ich kann Ihnen Ghostwriter * [* Der Begriff Ghostwriter ist mittlerweile so geläufig, dass dabei ganz in Vergessenheit gerät, was in der Originalsprache so schön anklingt: das Geisterhafte, weil Unwürdige dieser Tätigkeit. (Anm. d. Autors)] besorgen, damit Sie schneller vorankommen. Das muss keine große Literatur werden. Die Leute wollen vor allem wissen, was Quebert mit der Kleinen angestellt hat. Also halten Sie sich einfach an die Fakten, und bereiten Sie sie mit ein bisschen Spannung, Schmuddelkram und natürlich mit ein bisschen Sex auf.«

»Sex?«

»Also, Goldman, ich muss Ihnen doch wohl nicht Ihren Job erklären! Wer wird das Buch schon kaufen, wenn es darin nicht ein paar unanständige Szenen zwischen dem Tattergreis und der Siebenjährigen gibt? Das ist es, was die Leute wollen. Selbst wenn das Buch nichts taugt, werden wir es tonnenweise verkaufen. Und darum geht es doch, oder nicht?«

»Harry war damals vierunddreißig und Nola fünfzehn!«

»Jetzt seien Sie nicht so kleinlich! Wenn Sie mir das Buch schreiben, löse ich Ihren alten Vertrag auf und biete Ihnen obendrein eine halbe Million Dollar Vorschuss als Dank für Ihre Kooperation.«

Als ich rundweg ablehnte, platzte Barnaski der Kragen: »Na gut, wenn Sie unbedingt der Spielverderber sein wollen, Goldman, dann kann ich auch anders: Ich erwarte das Manuskript in genau elf Tagen, sonst haben Sie einen Prozess am Hals, und das ist Ihr Ruin!«

Er knallte den Hörer auf. Wenig später, als ich gerade im Gemischtwarenladen an der Hauptstraße ein paar Einkäufe machte, erhielt ich einen Anruf von Douglas, der mich abermals zu überreden versuchte. Bestimmt hatte Barnaski ihn darauf angesetzt.

»Marc, du darfst in dieser Sache nicht ehrpusselig sein«, redete er mir ins Gewissen. »Ich erinnere dich daran, dass Barnaski dich in der Hand hat! Dein alter Vertrag gilt nach wie vor, und deine einzige Chance, ihn aufzuheben, besteht darin, seinen Vorschlag zu akzeptieren. Außerdem wird deine Karriere mit diesem Buch explodieren. Eine halbe Million Vorschuss – es gibt Schlimmeres, oder?«

»Barnaski will, dass ich eine Art Schundroman schreibe! Kommt nicht infrage. So ein Buch mache ich nicht. Ich schmiere nicht in ein paar Wochen irgendeinen Dreck zusammen. Gute Bücher brauchen Zeit.«

»Aber das sind die modernen Methoden! So macht man Umsatz! Verträumte Schriftsteller, die auf der Suche nach Inspiration warten, bis der erste Schnee fällt, das war einmal! Um dein Buch wird man sich schon reißen, noch bevor auch nur eine Zeile davon existiert, weil die Leute alles wissen wollen. Und zwar sofort. Das Marktfenster ist begrenzt: Im Herbst sind Präsidentschaftswahlen, und die Kandidaten bringen bestimmt Bücher heraus, die das öffentliche Interesse komplett in Beschlag nehmen werden. Das Buch von Barack Obama ist bereits in aller Munde. Unglaublich, was?«

Ich glaubte überhaupt nichts mehr. Ich bezahlte die Einkäufe und ging zurück zu meinem auf der Straße geparkten Wagen. Da entdeckte ich, hinter einen Scheibenwischer geklemmt, das Stück Papier. Wieder dieselbe Botschaft:

Fahr nach Hause, Goldman.

Ich schaute mich um: Niemand zu sehen. Ein paar Leute an Tischen auf einer nahe gelegenen Terrasse; Kunden, die gerade den Laden verließen. Wer stellte mir nach? Wem passte es nicht, dass ich im Mordfall Nola Kellergan ermittelte?

Am Freitag, den 20. Juni, dem Tag nach diesem neuerlichen Zwischenfall, machte ich mich wieder auf den Weg ins Gefängnis, um Harry zu besuchen. In Aurora hielt ich kurz an der Bücherei, wo mein Paket gerade ausgeliefert worden war.

»Was ist da drin?«, fragte Pinkas neugierig und in der Hoffnung, dass ich es vor seinen Augen öffnete.

»Ein Gerät, das ich brauche.«

»Was für ein Gerät?«

»Ein Arbeitsgerät. Danke, dass du es entgegengenommen hast, Ernie.«

»Warte, möchtest du einen Kaffee? Ich habe gerade welchen gemacht. Brauchst du eine Schere, um das Paket zu öffnen?«

»Danke, Erne. Den Kaffee trinke ich gern ein anderes Mal. Ich muss jetzt los.«

In Concord beschloss ich kurzerhand, einen Abstecher zum Hauptquartier der State Police zu machen, um Sergeant Gahalowood aufzusuchen und ihm die Hypothesen zu unterbreiten, die ich nach unserer kurzen Begegnung aufgestellt hatte.

Das Hauptquartier der State Police von New Hampshire, in dem sich auch die Räume der Kriminalpolizei befanden, war ein großes, rotes Backsteingebäude am Hazen Drive 33 im Zentrum von Concord. Es war kurz vor dreizehn Uhr. Man teilte mir mit, dass Gahalowood gerade zu Tisch sei, und bat mich, im Gang auf einer Bank neben einem Tisch mit kostenpflichtigem Kaffee und Zeitschriften zu warten. Als Gahalowood eine Stunde später erschien, stand ihm die schlechte Laune ins Gesicht geschrieben.

»Sie sind es?«, platzte er bei meinem Anblick wütend heraus. »Man hat mich angerufen und gesagt, Perry, beeil dich, da ist so ein Typ, der seit einer Stunde auf dich wartet. Also lasse ich mein restliches Essen stehen und komme, um nachzusehen, was los ist, weil es ja wichtig sein könnte, und wen treffe ich hier? Den Schriftsteller!«

»Nehmen Sie es mir nicht übel. Ich habe mir gesagt, dass wir letztes Mal keinen guten Start hatten und vielleicht …«

»Ich hasse Sie, Schriftsteller, lassen Sie sich das gesagt sein! Meine Frau hat Ihr Buch gelesen. Sie findet Sie intelligent und gut aussehend. Ihre Fresse, die hinten auf dem Buch abgebildet ist, hat wochenlang auf ihrem Nachttisch gethront. Sie haben in unserem Schlafzimmer gewohnt! Sie haben bei uns geschlafen! Sie haben mit uns zu Abend gegessen! Sind mit uns in die Ferien gefahren! Haben mit meiner Frau gebadet! Haben alle ihre Freundinnen zum Glucksen gebracht! Sie haben mir das Leben vermiest!«

»Sie sind verheiratet, Sergeant? Wahnsinn! Sie sind so unangenehm, dass ich geschworen hätte, Sie haben keine Familie.«

Grimmig drückte er seinen Kopf in sein Doppelkinn. »Was um Himmels willen wollen Sie?«, bellte er.

»Verstehen.«

»Ein ziemlich ehrgeiziges Ziel für jemanden wie Sie.«

»Ich weiß.«

»Lassen Sie die Polizei ihre Arbeit machen, hören Sie?«

»Ich brauche Informationen, Sergeant. Ich will alles wissen, das ist bei mir krankhaft. Ich bin ein sehr ängstlicher Mensch, ich muss alles unter Kontrolle haben.«

»Bringen Sie sich erst mal selbst unter Kontrolle!«

»Können wir in Ihr Büro gehen?«

»Nein.«

»Sagen Sie mir einfach nur, ob Nola wirklich im Alter von fünfzehn Jahren gestorben ist.«

»Ja, das hat die Knochenanalyse bestätigt.«

»Sie wurde also kurz nach ihrer Entführung getötet?«

»Ja.«

»Aber was ist mit der Tasche? Warum wurde sie mit ihrer Tasche begraben?«

»Keine Ahnung.«

»Wenn sie eine Tasche dabeihatte, könnte das ein Hinweis darauf sein, dass sie abgehauen ist?«

»Wenn Sie weglaufen wollen, packen Sie doch etwas zum Anziehen in Ihre Tasche, oder nicht?«

»Allerdings.«

»Aber in ihrer Tasche war nur dieses Buch.«

»Der Punkt geht an Sie, würde ich sagen. Ich bin von Ihrem Scharfsinn geblendet. Aber diese Tasche …«

Er fiel mir ins Wort: »Ich hätte Ihnen neulich nichts von dieser Tasche erzählen dürfen. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«

»Das weiß ich auch nicht.«

»Mitleid, schätze ich. Ja, genau: Sie haben mir leidgetan mit Ihrer hilflosen Miene und Ihren schlammverdreckten Schuhen.«

»Danke. Wenn ich mir noch eine Frage erlauben darf: Was können Sie mir über die Autopsie sagen? Spricht man bei einem Skelett überhaupt von ›Autopsie‹?«

»Was weiß ich.«

»Wäre ›forensische Untersuchung‹ vielleicht die passendere Bezeichnung?«

»Ich pfeife auf die richtige Bezeichnung. Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass man ihr den Schädel eingeschlagen hat! Jawohl, eingeschlagen, und zwar so: bumm, bumm!«

Er begleitete seine Worte mit den entsprechenden Gesten. Ich fragte: »Mit einem Baseballschläger?«

»Was weiß denn ich, Sie elende Nervensäge!«

»War es eine Frau oder ein Mann?«

»Was?«

»Hätte nicht auch eine Frau die Schläge ausführen können? Warum unbedingt ein Mann?«

»Weil die damalige Augenzeugin, Deborah Cooper, eindeutig einen Mann erkannt hatte. So, hiermit ist diese Unterhaltung beendet, Schriftsteller. Sie töten mir den letzten Nerv.«

»Aber was ist mit Ihnen? Was halten Sie von dieser Sache?«

Er zog ein Familienfoto aus seinem Geldbeutel.

»Ich habe zwei Töchter, Schriftsteller. Sie sind vierzehn und siebzehn. Was der alte Kellergan durchgemacht hat, würde ich nicht ertragen. Ich suche nach der Wahrheit. Und ich will Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit ist nicht die Summe aus einzelnen Fakten, sie ist eine viel komplexere Angelegenheit. Deshalb werde ich die Ermittlungen fortsetzen. Sollte ich einen Beweis für Queberts Unschuld finden, kommt er frei, glauben Sie mir. Aber wenn er schuldig ist, werde ich nicht zulassen, dass Roth den Geschworenen einen seiner Taschenspielertricks auftischt, die er so gut wie kein anderer beherrscht, um Verbrecher rauszuboxen. Denn das ist auch keine Gerechtigkeit.«

Gahalowood sah zwar wie ein angriffslustiger Bison aus, aber seine Einstellung gefiel mir.

»Eigentlich sind Sie ein anständiger Kerl, Sergeant. Was halten Sie davon: Ich spendiere Ihnen ein paar Donuts, und wir plaudern noch ein bisschen?«

»Ich will keine Donuts, ich will, dass Sie verschwinden. Ich habe zu arbeiten.«

»Aber Sie müssen mir erklären, wie man ermittelt. Ich habe keine Ahnung, wie das geht. Was muss ich tun?«

»Auf Wiedersehen, Schriftsteller. Für den Rest der Woche habe ich genug von Ihnen. Vielleicht sogar für den Rest meines Lebens.«

Ich war enttäuscht, dass ich nicht ernst genommen wurde, insistierte aber nicht. Zum Abschied hielt ich ihm die Hand hin. Er zerquetschte mir mit seiner kräftigen Pranke fast die Knöchel, dann ging ich. Doch draußen auf dem Parkplatz hörte ich, wie er mir hinterherrief: »He, Schriftsteller!« Ich drehte mich um und sah, wie er mit seiner massigen Gestalt auf mich zutrottete.

»Schriftsteller«, sagte er atemlos, als er mich erreicht hatte. »Ein guter Polizist interessiert sich nicht für den Täter …, sondern für das Opfer. Sie müssen sich mit dem Opfer befassen. Sie müssen das Pferd vom Kopf her aufzäumen, also vor dem Mord anfangen. Nicht vom Schwanz her. Wenn Sie sich auf den Mord versteifen, kommen Sie auf Abwege. Sie müssen sich fragen, was für ein Mensch das Opfer war … Fragen Sie sich, wer Nola Kellergan war …«

»Und was ist mit Deborah Cooper?«

»Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Es dreht sich alles um Nola. Deborah Cooper war nur ein Kollateralopfer. Finden Sie heraus, wer Nola war, dann finden Sie auch ihren Mörder und im Zuge dessen den von der alten Cooper.«

Wer war Nola Kellergan? Diese Frage wollte ich Harry im Staatsgefängnis stellen. Er sah schlecht aus und schien sehr um den Inhalt seines Garderobenschranks im Fitnessclub besorgt.

»Haben Sie alles gefunden?«, fragte er mich schon, noch bevor er mich begrüßte.

»Ja.«

»Und haben Sie alles verbrannt?«

»Ja.«

»Auch das Manuskript?«

»Auch das Manuskript.«

»Warum haben Sie mir nicht ausrichten lassen, dass die Sache erledigt ist? Ich war halb tot vor Sorge! Wo haben Sie die letzten zwei Tage gesteckt?«

»Ich habe auf eigene Faust ermittelt. Harry, warum lag diese Schachtel im Garderobenschrank eines Fitnessstudios?«

»Ich weiß, das wird Ihnen seltsam vorkommen … Nach Ihrem Besuch im März in Goose Cove hatte ich Angst, jemand anders könnte die Schachtel finden. Sie hätte jedem in die Hände fallen können: einem dreisten Gast, der Putzfrau … Also habe ich beschlossen, dass es ratsam wäre, meine Erinnerungsstücke woanders zu verstecken.«

»Sie haben sie versteckt? Aber das macht Sie zum Täter! Und dieses Manuskript … War es das von Der Ursprung des Übels

»Ja, die allererste Fassung.«

»Ich habe den Text wiedererkannt. Dabei stand auf dem Deckblatt nicht einmal ein Titel …«

»Der Titel ist mir erst im Nachhinein eingefallen.«

»Sie meinen, nachdem Nola verschwunden war?«

»Ja. Aber reden wir nicht über das Manuskript, Marcus. Es ist verflucht, es hat mir nur Unglück gebracht. Der Beweis: Nola ist tot, und ich sitze im Gefängnis.«

Wir starrten uns einen Augenblick an. Dann stellte ich eine Plastiktüte auf den Tisch, in der sich der Inhalt meines Pakets befand.

»Was ist das?«, wollte Harry wissen.

Statt einer Antwort zog ich einen Minidisc-Rekorder mit angeschlossenem Mikrofon heraus und baute ihn vor Harry auf.

»Marcus, was verflucht noch mal soll das? Sagen Sie bloß, Sie haben diese Höllenmaschine aufgehoben …«

»Aber sicher, Harry. Ich habe sie wie meinen Augapfel gehütet.«

»Packen Sie das wieder ein, ja?«

»Machen Sie nicht so ein Gesicht, Harry …«

»Was zum Teufel haben Sie mit diesem Gerät vor?«

»Ich will, dass Sie mir von Nola, von Aurora, von allem erzählen … Vom Sommer 1975, von Ihrem Buch. Ich muss alles wissen. Irgendwo, Harry, muss die Wahrheit verborgen liegen.«

Er lächelte betrübt. Ich schaltete das Aufnahmegerät ein und ließ ihn reden. Was für ein schönes Bild: Im Besuchsraum dieses Gefängnisses, in dem Männer mit ihren Frauen und Eltern mit ihren Kindern an Plastiktischen zusammensaßen, ließ ich mir von meinem alten Lehrmeister seine Geschichte erzählen.

Auf dem Heimweg nach Aurora aß ich zeitig zu Abend. Da mir anschließend nicht danach war, sofort nach Goose Cove zurückzukehren und in dem riesigen Haus allein zu sein, fuhr ich ein Stück die Küste entlang. Der Tag ging zur Neige, das Meer schimmerte: Alles war wunderschön. Ich kam am Sea Side Motel, am Wald von Side Creek, an der Side Creek Lane und an Goose Cove vorbei, durchquerte Aurora und stellte den Wagen am Grand Beach ab. Dort ging ich zum Wasser hinunter und setzte mich auf die Kieselsteine, um zuzusehen, wie sich der Abend herabsenkte. In der Ferne tanzten die Lichter von Aurora im Spiegel der Wellen, die Wasservögel kreischten, im Gebüsch ringsumher sangen Nachtigallen, und ab und zu tutete das Nebelhorn eines Leuchtturms. Ich schaltete das Aufnahmegerät ein, und Harrys Stimme erklang in der Dunkelheit:

Kennen Sie den Grand Beach, Marcus? Wenn man aus Richtung Massachusetts kommt, ist es gleich der erste Strand von Aurora. Manchmal gehe ich in der Abenddämmerung dorthin und schaue mir die Lichter der Stadt an. Und dann denke ich über alles nach, was in den letzten dreißig Jahren passiert ist. An diesem Strand habe ich am Tag meiner Ankunft in Aurora angehalten. Es war der 20. Mai 1975. Ich war damals vierunddreißig und kam direkt aus New York, wo ich beschlossen hatte, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ich hatte alles aufgegeben, meine Stelle als Literaturlehrer gekündigt, meine Ersparnisse abgehoben und mir vorgenommen, mich als Schriftsteller durchzuschlagen. Ich wollte mich nach Neuengland zurückziehen und den Roman schreiben, den ich mir erträumte.

Ursprünglich wollte ich ein Haus in Maine mieten, aber ein Immobilienmakler in Boston brachte mich auf Aurora. Er erzählte mir von einem Traumhaus, das angeblich genau dem entsprach, wonach ich suchte: Goose Cove. Als ich zum ersten Mal vor diesem Haus stand, habe ich mich sofort darein verliebt. Es war genau der Ort, den ich brauchte: ruhig und in einer Wildnis, die nicht völlig von der Welt abgeschnitten war, weil nur wenige Meilen von Aurora entfernt. Auch die Stadt gefiel mir sehr. Das Leben dort wirkte unbeschwert, die Kinder spielten vollkommen sorglos auf der Straße, die Kriminalitätsrate war gleich null: eine Postkartenidylle. Das Haus in Goose Cove überstieg zwar deutlich meine finanziellen Möglichkeiten, aber die Agentur war damit einverstanden, dass ich die Miete in zwei Teilbeträgen zahlte. Also machte ich Kassensturz: Wenn ich nicht zu viel ausgab, würde ich mit meinem Geld hinkommen. Außerdem hatte ich das gute Gefühl, die richtige Wahl getroffen zu haben. Ich täuschte mich nicht, denn diese Entscheidung hat mein Leben verändert: Das Buch, das ich in jenem Sommer schrieb, sollte mich reich und berühmt machen.

Ich glaube, was mir so sehr an Aurora gefiel, war die Sonderstellung, die ich schon bald genoss: In New York war ich nur ein Lehrer an einer Highschool und ein unbekannter Autor gewesen, aber in Aurora war ich Harry Quebert, ein Schriftsteller, der aus New York gekommen war, um seinen nächsten Roman zu schreiben. Wissen Sie, diese Geschichte mit dem Fabelhaften, Marcus, damals, auf der Highschool, als Sie allen etwas vorgegaukelt haben, um sich hervorzutun – genau dasselbe passierte mir, nachdem ich hier gelandet war. Ich war ein selbstbewusster junger Mann, elegant, gut aussehend, athletisch und kultiviert und wohnte zu allem Überfluss im prachtvollen Anwesen von Goose Cove. Die Einheimischen, die nicht einmal meinen Namen kannten, schlossen aus meinem Auftreten und dem Haus, das ich bewohnte, auf meinen Erfolg. Es fehlte nicht viel, und die Bevölkerung hätte mich für einen großen Star aus New York gehalten. Von einem Tag auf den anderen war ich jemand. Der angesehene Schriftsteller, der ich in New York nicht sein konnte, der war ich in Aurora. Ich hatte der Gemeindebücherei ein paar Exemplare von meinem ersten Roman geschenkt, die ich mitgebracht hatte, und stellen Sie sich vor: Dieser lausige Haufen Papier, von dem man in New York nichts hatte wissen wollen, löste hier in Aurora Begeisterung aus. Das alles war 1975 in einer Kleinstadt in New Hampshire möglich, die, lange bevor es Internet und all diese neuartigen Technologien gab, nach ihrer Daseinsberechtigung suchte und in mir den local hero fand, von dem sie immer geträumt hatte.

Gegen dreiundzwanzig Uhr kehrte ich nach Goose Cove zurück. Als ich in die schmale Kiesauffahrt einbog, tauchte im Lichtkegel meiner Scheinwerfer eine maskierte Gestalt auf, die sofort im Wald verschwand. Ich machte eine Vollbremsung, sprang mit einem Schrei aus dem Wagen und wollte schon die Verfolgung des Eindringlings aufnehmen, als ein heller Lichtschein meinen Blick auf sich zog: Am Haus brannte es. Ich rannte hin, um nachzusehen: Harrys Corvette stand in Flammen. Sie schlugen bereits sehr hoch, und eine beißende Rauchsäule stieg in den Himmel. Ich rief nach Hilfe, aber da war niemand. Um mich herum war nichts als Wald. Die Scheiben der Corvette barsten in der Hitze, das Blech schmolz, und die Flammen loderten höher und höher und züngelten an den Garagenmauern. Ich konnte nichts tun. Es würde alles niederbrennen.