Früher oder später bildeten sich alle ein, Nola irgendwo zu sehen: im Einkaufsladen der Nachbarstadt, an einer Bushaltestelle, am Tresen eines Restaurants. In der Woche nach Nolas Verschwinden – die Suche wurde unterdessen fortgesetzt – musste sich die Polizei mit einer Menge irriger Zeugenaussagen herumschlagen. So wurde im Bezirk Cordridge eine Kinovorführung unterbrochen, weil ein Besucher Nola Kellergan in der dritten Reihe zu erkennen glaubte, und in der Gegend von Manchester wurde ein Familienvater, der seine blonde, fünfzehnjährige Tochter auf den Jahrmarkt begleitete, zur Überprüfung seiner Personalien aufs Revier mitgenommen.

Die Suchmaßnahmen blieben trotz ihrer Intensität ergebnislos. Dank des Einsatzes der örtlichen Bevölkerung hatten sie auf sämtliche Nachbarstädte Auroras ausgeweitet werden können, doch man hatte nicht den Hauch einer Spur entdeckt. Spezialisten des FBI waren angereist, um die Polizeiarbeit zu optimieren und, sich auf Erfahrungswerte und Statistiken stützend, die Orte vorzugeben, an denen vorrangig gesucht werden sollte: Wasserläufe, Waldränder in der Nähe von Parkplätzen sowie Müllkippen, auf denen ekelerregende Abfälle vor sich hinfaulten. Die Sache erschien ihnen so komplex, dass sie sogar ein Medium bemüht hatten, das sich in Oregon in zwei Mordfällen bewährt hatte, hier aber nicht weiterhelfen konnte.

In dem von Schaulustigen und Journalisten belagerten Städtchen Aurora ging es hoch her. Auf dem Polizeirevier in der Hauptstraße herrschte hektische Betriebsamkeit, denn dort wurden die Suchmaßnahmen koordiniert, Informationen gesammelt und ausgewertet. Die Telefonleitungen waren überlastet, die Apparate klingelten unablässig, oft wegen nichts und wieder nichts, aber jeder Anruf musste gründlich überprüft werden. In Vermont und Massachusetts war man Hinweisen nachgegangen und hatte Hundestaffeln losgeschickt, jedoch ohne Erfolg. Die kurzen Pressetermine, die Chief Pratt und Captain Rodik zweimal täglich vor dem Eingang des Polizeireviers abhielten, wurden zusehends zu einem Eingeständnis ihrer Ohnmacht.

Unmerklich hatte sich ein Netz engmaschiger Überwachung über Aurora gelegt. FBI-Agenten hatten sich unter die Journalisten geschmuggelt, die aus dem ganzen Staat angereist waren, um über die Geschehnisse zu berichten. Sie observierten die nähere Umgebung rund um das Haus der Kellergans und hörten das Telefon ab. Sollte es sich tatsächlich um eine Entführung handeln, müsste der Entführer bald in Erscheinung treten. Entweder würde er anrufen oder sich, wenn er ein ganz abgefeimter Bursche war, unter die Schaulustigen mischen, die an der Terrace Avenue 245 vorbeidefilierten und Zeichen ihrer Anteilnahme niederlegten. Sollte es in diesem Fall aber nicht um Lösegeld gehen, sondern es sich, wie mancher befürchtete, um die Tat eines Geisteskranken handeln, musste dieser so schnell wie möglich unschädlich gemacht werden, bevor er wieder zuschlagen konnte.

Die Bevölkerung rückte zusammen. Die Männer konnten die Stunden schon nicht mehr zählen, die sie Wiesen und Wälder Abschnitt für Abschnitt durchkämmt und die Ufer von Wasserläufen abgesucht hatten. Robert Quinn nahm sich zwei Tage frei, um sich an der Suche zu beteiligen. Erne Pinkas verließ die Fabrik mit Erlaubnis seines Vorarbeiters täglich eine Stunde früher, um die Suchtrupps zu verstärken, die vom Spätnachmittag bis zum Einbruch der Dunkelheit im Einsatz waren. In der Küche des Clark’s richteten Tamara Quinn, Amy Pratt und andere Ehrenamtliche den Proviant für die Freiwilligen her. Ihre Gespräche kreisten ausschließlich um die Ermittlungen.

»Ich weiß etwas!«, behauptete Tamara Quinn immer wieder. »Ich weiß etwas ganz Wichtiges!«

»Was denn? Erzähl schon!«, riefen ihre Zuhörerinnen, während sie Weißbrot mit Butter bestrichen, um Sandwiches zu machen.

»Das kann ich euch nicht sagen … Es ist viel zu schlimm.«

Jede der Frauen hatte ihr Teil beizusteuern. Schon seit Langem argwöhnte man, dass es in der Terrace Avenue 245 nicht mit rechten Dingen zuging, und es war bestimmt kein Zufall, wenn die Sache jetzt ein böses Ende nahm. Mrs Philips, deren Sohn mit Nola in eine Klasse ging, berichtete, wie ein Schüler in der Pause zum Spaß Nolas Polohemd hochgehoben und alle die blauen Flecken auf ihrem Körper gesehen hatten. Mrs Hattaway erzählte, dass ihre Tochter Nancy sehr eng mit Nola befreundet war und sich im Sommer eine ganze Reihe merkwürdiger Dinge abgespielt hatten, insbesondere Folgendes: Nola war ungefähr eine Woche lang wie vom Erdboden verschluckt und die Haustür der Kellergans in dieser Zeit für jeden Besucher geschlossen gewesen. »Und dann diese Musik!«, schickte Mrs Hattaway hinterher. »Tag für Tag lief in der Garage diese viel zu laute Musik. Ich habe mich gefragt, warum zum Teufel das ganze Viertel mit diesem ohrenbetäubenden Lärm beschallt werden musste. Eigentlich hätte ich mich beschweren sollen, aber ich habe mich nicht getraut. Schließlich handelte es sich ja um den Reverend …«

Montag, 8. September 1975

Es war um die Mittagszeit.

Harry wartete in Goose Cove. In seinem Kopf drängten sich die immer selben Fragen: Was war geschehen? Was war mit ihr passiert? Seit einer Woche hatte er sich hier im Haus eingeigelt und wartete. Er schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer und schreckte beim leisesten Geräusch hoch. Er aß nichts mehr. Er hatte das Gefühl, verrückt zu werden. Wo konnte Nola stecken? Wie konnte es sein, dass die Polizei keine Spur von ihr fand? Je länger er darüber nachdachte, desto mehr drängte sich ihm ein Gedanke auf: Was war, wenn Nola alle Spuren verwischt hatte? Wenn sie den Angriff nur simuliert hatte? Tomatenketchup im Gesicht und Schreie, um eine Entführung vorzutäuschen? Während die Polizei in Aurora und Umgebung nach ihr suchte, hätte sie Zeit gehabt, sich in aller Ruhe in den entlegensten Winkel Kanadas abzusetzen. Vielleicht würde man sie schon bald für tot erklären und die Suche nach ihr einstellen. Hatte Nola alles nur inszeniert, damit sie ein für alle Mal Ruhe hatten? Falls ja, warum war sie dann nicht zu ihrer Verabredung ins Motel gekommen? War die Polizei zu schnell da gewesen? Hatte sie sich im Wald verstecken müssen? Und was war bei Deborah Cooper vorgefallen? Gab es zwischen beiden Fällen einen Zusammenhang, oder war alles nur reiner Zufall? Wenn Nola nicht entführt worden war, warum gab sie ihm dann kein Lebenszeichen? Warum hatte sie sich nicht hierher, nach Goose Cove, geflüchtet? Er bemühte sich nachzudenken: Wo konnte sie sein? An einem Ort, den nur sie beide kannten. Martha’s Vineyard? Zu weit weg. Die Blechdose in der Küche erinnerte ihn an ihren Ausflug nach Maine ganz zu Anfang ihrer Beziehung. Hielt sie sich in Rockland versteckt? Bei diesem Gedanken schnappte er sich die Wagenschlüssel und stürmte nach draußen.

Als er die Haustür aufstieß, stand plötzlich Jenny vor ihm. Sie hatte gerade klingeln und nachsehen wollen, ob alles in Ordnung war. Sie hatte ihn seit Tagen nicht gesehen und sich Sorgen gemacht. Er war abgemagert und sah schrecklich aus. Ja, er trug sogar noch denselben Anzug, den er eine Woche zuvor im Clark’s angehabt hatte. »Harry, was ist los mit dir?«, fragte sie.

»Ich warte.«

»Worauf?«

»Auf Nola.«

Jenny begriff nicht. Sie sagte: »Ach ja, was für eine schreckliche Geschichte! Die ganze Stadt ist erschüttert. Eine Woche ist schon um, und nicht der kleinste Hinweis, nicht die geringste Spur. Harry … du siehst elend aus, ich mache mir Sorgen um dich. Hast du in letzter Zeit etwas gegessen? Ich lasse dir ein Bad ein und mache dir eine kleine Mahlzeit zurecht.«

Er hatte jetzt keine Zeit, sich mit Jenny abzugeben. Er musste den Ort finden, an dem Nola sich versteckt hielt. Ein wenig unsanft schob er Jenny beiseite, ging die paar Holzstufen hinunter, die zum kiesbedeckten Parkplatz führten, und stieg in seinen Wagen. »Ich will nichts«, sagte er durchs offene Fenster. »Ich bin sehr beschäftigt und möchte nicht gestört werden.«

»Beschäftigt? Womit?«, fragte Jenny traurig.

»Mit Warten.« Er fuhr los und war gleich darauf hinter einer Reihe von Kiefern verschwunden. Sie setzte sich auf die Stufen vor dem Haus und fing an zu weinen. Je mehr sie ihn liebte, desto unglücklicher wurde sie.

Im selben Augenblick betrat Travis Dawn mit seinem Rosenstrauß in der Hand das Clark’s. Er hatte Jenny seit Tagen, seit Nola verschwunden war, nicht gesehen. Den Vormittag hatte er zusammen mit den Suchtrupps im Wald verbracht, und als er in seinen Streifenwagen gestiegen war, hatte er auf dem Boden die Blumen gesehen. Zum Teil waren sie schon vertrocknet und krümmten sich merkwürdig, aber ihm war plötzlich danach gewesen, sie Jenny sofort zu bringen, als wäre das Leben viel zu kurz. Also hatte er sich für eine Weile vom Dienst entfernt, um sie im Clark’s zu besuchen, aber sie war nicht da.

Kaum hatte er sich an die Theke gesetzt, kam auch schon Tamara Quinn angesegelt, wie sie es in letzter Zeit immer tat, wenn sie eine Uniform erblickte. »Wie kommt die Suche voran?«, erkundigte sie sich mütterlich besorgt.

»Bislang haben wir nichts gefunden, Mrs Quinn. Gar nichts.«

Seufzend betrachtete sie die müden Gesichtszüge des jungen Polizisten. »Hast du schon zu Mittag gegessen, mein Junge?«

»Äh … Nein, Mrs Quinn. Eigentlich wollte ich Jenny sprechen.«

»Sie ist kurz weg.« Sie brachte ihm ein Glas Eistee und legte ein Tischset aus Papier und Besteck vor ihn hin. Da bemerkte sie die Blumen und fragte: »Sind die für Jenny?«

»Ja, Mrs Quinn. Ich wollte mich vergewissern, dass es ihr gut geht. Bei all den Geschichten in letzter Zeit …«

»Sie ist bestimmt gleich wieder hier. Ich habe sie gebeten, zur Mittagsschicht zurück zu sein, aber wie man sieht, verspätet sie sich. Dieser Kerl bringt sie noch um den Verstand …«

»Wer?«, erkundigte sich Travis. Er spürte, wie sich sein Herz verkrampfte.

»Harry Quebert.«

»Harry Quebert?«

»Ich bin mir sicher, dass sie zu ihm gegangen ist. Ich verstehe nicht, warum sie sich diesen Mistkerl in den Kopf gesetzt hat. Egal, eigentlich sollte ich mit dir nicht darüber reden … Tagesgericht ist heute Kabeljau mit Bratkartoffeln …«

»Perfekt, Mrs Quinn. Danke.«

Sie legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter. »Du bist ein guter Junge, Travis. Ich würde mich freuen, wenn Jenny mit jemandem wie dir zusammen wäre.«

Sie ging in die Küche, und Travis trank ein paar Schlucke von seinem Eistee. Er war geknickt.

Wenige Minuten später kam Jenny. Sie hatte sich hastig nachgeschminkt, damit niemandem auffiel, dass sie geweint hatte. Sie ging hinter die Theke und band sich ihre Schürze um. Da bemerkte sie Travis. Lächelnd streckte er ihr den verwelkten Blumenstrauß entgegen.

»Sie sind nicht mehr besonders schön«, entschuldigte er sich, »aber ich wollte sie dir schon vor Tagen schenken. Ich dachte mir, schließlich kommt es auf die Geste an.«

»Danke, Travis.«

»Es sind Wildrosen. Ich kenne eine Stelle in der Nähe von Montburry, wo sie zu Hunderten wachsen. Wenn du willst, fahre ich mal mit dir hin. Ist alles in Ordnung, Jenny? Du siehst nicht gut aus …«

»Geht schon.«

»Diese schreckliche Geschichte geht dir an die Nieren, stimmt’s? Hast du Angst? Mach dir keine Sorgen, die Polizei ist überall. Außerdem bin ich mir sicher, dass wir Nola finden.«

»Ich habe keine Angst. Es ist was anderes.«

»Was denn?«

»Das ist nicht wichtig.«

»Ist es wegen Harry Quebert? Deine Mutter hat gesagt, dass er dir gefällt.«

»Kann sein. Vergiss es, Travis, es ist nicht weiter wichtig. Ich muss … Ich muss jetzt in die Küche. Ich bin spät dran, und meine Mutter macht mir bestimmt wieder eine Szene.«

Jenny verschwand durch die Schwingtür und lief geradewegs ihrer Mutter in die Arme, die gerade ein paar Teller herrichtete. »Du kommst schon wieder zu spät, Jenny! Ich bin hier mit allem ganz allein!«

»Entschuldige, Ma.«

Tamara reichte ihr einen Teller mit Kabeljau und Bratkartoffeln. »Bring das bitte Travis.«

»Ja, Ma.«

»Ich finde, er ist ein netter Junge.«

»Ich weiß …«

»Du wirst ihn für Sonntag zum Mittagessen bei uns zu Hause einladen.«

»Zum Mittagessen? Nein, Ma. Ich will nicht. Er gefällt mir überhaupt nicht. Außerdem würde er sich Hoffnungen machen, und das wäre nicht nett von mir.«

»Keine Widerrede! Als du keinen Begleiter für den Ball hattest und er dich aufgefordert hat, hast du dich auch nicht so geziert! Du gefällst ihm sehr, das sieht man, und er würde einen guten Ehemann abgeben. Schlag dir diesen Quebert verdammt noch mal aus dem Kopf! Mit dem wird es nie was! Schreib dir das hinter die Ohren! Quebert ist kein anständiger Mensch! Es ist Zeit, dass du einen Mann findest, und du kannst dich glücklich schätzen, dass dir so ein hübscher Kerl den Hof macht, obwohl du den ganzen Tag in einer Servierschürze herumrennst!«

»Ma!«

Tamara äffte ein quengelndes Kind nach: »Ma! Ma! Hör mir bloß mit diesem Gejammer auf! Bald wirst du fünfundzwanzig! Willst du als alte Jungfer enden? Deine Klassenkameradinnen sind längst alle verheiratet! Und was ist mit dir? Du warst auf der Highschool die Schönheitskönigin! Was in Gottes Namen ist nur los? Ach, was bin ich von meiner Tochter enttäuscht! Ma ist sehr enttäuscht von dir. Wir essen am Sonntag mit Travis zu Mittag, und damit basta. Du bringst ihm jetzt sein Essen und lädst ihn ein. Und danach wischst du die hinteren Tische ab, die kleben schon. Ich werde dich lehren, ständig zu spät zu kommen!«

Mittwoch, 10. September 1975

»Wissen Sie, Herr Doktor, da gibt es diesen reizenden Polizisten, der hinter ihr her ist. Ich habe ihr gesagt, dass sie ihn am Sonntag zum Mittagessen einladen soll. Sie wollte erst nicht, aber ich habe sie gezwungen.«

»Warum haben Sie sie gezwungen, Mrs Quinn?«

Tamara zuckte mit den Schultern und ließ den Kopf auf die Armlehne der Couch zurückfallen. Sie gönnte sich einen Moment Bedenkzeit. »Weil … Weil ich nicht möchte, dass sie allein bleibt.«

»Sie haben Angst, dass Ihre Tochter bis zum Lebensende allein bleiben könnte?«

»Ja, genau! Bis zum Lebensende!«

»Und was ist mit Ihnen? Haben Sie Angst vor der Einsamkeit?«

»Ja.«

»Was fällt Ihnen zum Wort Einsamkeit ein?«

»Einsamkeit ist gleichbedeutend mit dem Tod.«

»Haben Sie Angst vor dem Tod?«

»Schreckliche Angst, Herr Doktor.«

Sonntag, 14. September 1975

Am Mittagstisch der Quinns wurde Travis mit Fragen bombardiert. Tamara wollte alles über die Ermittlungen wissen, die keine Fortschritte machten. Auch Robert hatte die eine oder andere Frage an ihn, aber die paar Mal, die er sich zu Wort meldete, fuhr ihm seine Frau über den Mund: »Sei still, Bobbo. Das ist nicht gut für deinen Krebs.« Jenny wirkte unglücklich und rührte ihr Essen kaum an. Ihre Mutter dagegen führte das große Wort. Als sie den Apfelkuchen servierte, wagte sie sogar die Frage: »Sag mal, Travis, gibt es eigentlich eine Liste von Verdächtigen?«

»Nicht wirklich. Ich muss gestehen, dass wir im Augenblick etwas im Dunklen tappen. Es ist verrückt, aber wir haben nicht den geringsten Anhaltspunkt.«

»Steht Harry Quebert unter Verdacht?«, wollte Tamara wissen.

»Ma!«, empörte sich Jenny.

»Was ist? Darf man in diesem Haus keine Fragen mehr stellen? Wenn ich ihn erwähne, dann habe ich dafür meine Gründe: Er ist nämlich pervers, Travis. Jawohl, pervers! Es würde mich nicht wundern, wenn er etwas mit dem Verschwinden der Kleinen zu tun hätte.«

»Das sind schwere Anschuldigungen, die Sie da vorbringen, Mrs Quinn«, entgegnete Travis. »Solche Dinge darf man nicht einfach behaupten, wenn man keine Beweise hat.«

»Aber ich hatte einen Beweis!«, keifte sie wutentbrannt. »Ich hatte einen! Stell dir vor, ich hatte einen handgeschriebenen Text von ihm, der sehr kompromittierend war. Er lag in meinem Safe im Restaurant. Ich besitze als Einzige einen Schlüssel dazu! Und weißt du, wo ich den aufbewahre? An einer Kette an meinem Hals! Ich mache ihn nie ab! Nie! Neulich wollte ich dieses verflixte Stück Papier herausholen, um es Chief Pratt zu übergeben, aber es war weg! Es lag nicht mehr in meinem Safe! Wie kann das sein? Ich habe keine Ahnung. Das ist Hexerei.«

»Vielleicht hast du es einfach nur verlegt«, gab Jenny zu bedenken.

»Halt den Mund, Tochter. Ich bin doch nicht verrückt, oder? Bobbo, bin ich verrückt?«

Robert bewegte den Kopf in einer Weise, die weder Ja noch Nein bedeutete, was seine Frau nur noch mehr reizte.

»Warum antwortest du nicht, wenn ich dir eine Frage stelle, Bobbo?«

»Weil ich Krebs habe«, sagte er schließlich hilflos.

»Na, dann bekommst du auch keinen Kuchen. Der Arzt hat es selbst gesagt: Nachtisch könnte dein Tod sein, und zwar auf der Stelle.«

»Ich habe nicht gehört, wie der Arzt das gesagt hat!«, protestierte Robert.

»Siehst du, der Krebs macht dich schon taub. In zwei Monaten bist du bei den Engeln, mein armer Bobbo.«

Travis versuchte, die Lage zu entspannen, indem er den Gesprächsfaden wiederaufgriff. »Wie auch immer: Wenn Sie keine Beweise haben, lässt sich diese Behauptung nicht aufrechterhalten«, stellte er fest. »Polizeiliche Ermittlungen sind eine präzise, wissenschaftliche Angelegenheit. Ich weiß, wovon ich rede, schließlich war ich auf der Polizeiakademie Jahrgangsbester.«

Der Gedanke, dass sie nicht wusste, wohin das Blatt Papier gekommen war, das Harrys Untergang besiegeln könnte, machte Tamara ganz wahnsinnig. Um sich zu beruhigen, griff sie nach dem Tortenmesser und säbelte mit martialischer Miene mehrere Kuchenstücke ab, während Bobbo schniefte, weil er nicht sterben wollte.

Mittwoch, 17. September 1975

Tamara Quinn war wie besessen von diesem Blatt Papier. Zwei Tage lang hatte sie ihr Haus, ihr Auto und sogar die Garage, die sie sonst nie betrat, danach abgesucht – vergeblich. An diesem Morgen zog sie sich nach der ersten Frühstücksschicht in ihr Büro zurück und leerte den Inhalt des Safes auf dem Boden aus. Kein Mensch hatte Zugang zu ihrem Safe, der Zettel konnte also unmöglich daraus verschwunden sein, er musste noch da sein. Vergeblich durchwühlte sie noch einmal den ganzen Inhalt und machte sich dann verdrossen daran, die Sachen wieder einzuräumen. In diesem Augenblick klopfte Jenny an die Tür und steckte den Kopf durch den Spalt. Sie sah ihre Mutter Kopf voraus in dem riesigen Schlund aus Stahl stecken. »Ma! Was machst du da?«

»Ich habe zu tun.«

»Ach, Ma, sag bloß, du suchst immer noch nach diesem bescheuerten Stück Papier!«

»Kümmere dich um deinen eigenen Kram, Tochter! Wie spät ist es?«

Jenny warf einen Blick auf ihre Uhr. »Kurz vor halb neun«, sagte sie.

»Verflixt und zugenäht! Ich bin spät dran.«

»Spät dran? Womit?«

»Ich habe einen Termin.«

»Einen Termin? Aber heute Vormittag werden die Getränke angeliefert. Du warst schon letzten Mittwoch –«

»Du bist doch ein großes Mädchen, oder etwa nicht?«, unterbrach ihre Mutter sie scharf. »Du hast zwei Arme und weißt, wo der Vorratsraum ist. Man muss nicht in Harvard gewesen sein, um ein paar Cola-Kästen übereinanderzustapeln. Ich bin mir sicher, du schaffst das. Und mach dem Lieferanten keine schönen Augen, damit er dir das abnimmt! Es wird Zeit, dass du die Ärmel hochkrempelst!«

Ohne ihre Tochter eines weiteren Blickes zu würdigen, schnappte Tamara sich ihre Autoschlüssel und ging. Eine halbe Stunde später hielt hinter dem Clark’s ein riesiger Lastwagen. Der Lieferant stellte eine Palette mit Cola-Kästen vor dem Serviceeingang ab.

»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte er Jenny, als sie die Quittung unterschrieb.

»Nein, Sir. Meine Mutter will, dass ich das allein mache.«

»Wie Sie wollen. Dann noch einen schönen Tag.«

Der Lastwagen fuhr weiter, und Jenny machte sich daran, die schweren Kästen in den Vorratsraum zu schleppen. Sie hätte heulen können. In diesem Augenblick kam Travis im Streifenwagen vorbei und sah sie. Sofort hielt er an und sprang aus dem Wagen. »Soll ich dir helfen?«, fragte er.

Sie zuckte nur mit den Schultern. »Geht schon. Du hast bestimmt zu tun«, erwiderte sie, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.

Er nahm einen Kasten und bemühte sich, ein bisschen Konversation zu machen. »Es heißt, dass das Rezept von Coca-Cola geheim ist und in Atlanta in einem Safe aufbewahrt wird.«

»Wusste ich nicht.«

Er folgte Jenny in den Vorratsraum, wo sie die beiden Kästen, die sie hereingetragen hatten, aufeinanderstellten. Als Jenny nichts weiter sagte, fuhr er fort: »Wie es aussieht, hebt Coca-Cola die Stimmung der GIs, deshalb schickt man es seit dem Zweiten Weltkrieg kästenweise zu den im Ausland stationierten Truppen. Das habe ich in einem Buch über Coca-Cola gelesen. Ich meine, ich habe es zufällig gelesen. Ich lese nämlich auch ernsthaftere Bücher.«

Sie gingen wieder auf den Parkplatz. Dort blickte Jenny ihm tief in die Augen und sagte: »Travis …«

»Ja, Jenny?«

»Drück mich ganz fest. Nimm mich in den Arm, und drück mich! Ich fühle mich so einsam! Und ich bin so unglücklich! Mir ist, als würde mein Herz erfrieren.«

Er nahm sie in den Arm und drückte sie, so fest er konnte.

»Meine Tochter fängt an, mir Fragen zu stellen, Herr Doktor. Vorhin wollte sie wissen, wohin ich jeden Mittwoch gehe.«

»Und was haben Sie ihr geantwortet?«

»Dass sie sich zum Teufel scheren soll! Und dass sie die Palette mit den Cola-Kästen entgegennehmen soll! Es geht sie nichts an, wo ich bin!«

»Ich höre Ihrer Stimme an, dass Sie wütend sind.«

»Ja! Ja! Natürlich bin ich wütend, Doktor Ashcroft!«

»Wütend auf wen?«

»Auf … Auf mich!«

»Warum?«

»Weil ich sie schon wieder angeschrien habe. Wissen Sie, Herr Doktor, da kriegt man Kinder und will, dass sie die glücklichsten Geschöpfe dieser Welt werden, aber dann macht einem das Leben einen Strich durch die Rechnung.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie fragt mich ständig und in allem nach Rat! Ständig hängt sie an meinem Rockzipfel und fragt: Ma, wie macht man das? Ma, wohin kommt das? Ma hier, Ma dort! Ma! Ma! Ma! Aber ich werde nicht immer für sie da sein! Eines Tages werde ich nicht mehr auf sie aufpassen können, verstehen Sie? Wenn ich daran denke, spüre ich das hier im Bauch! Es ist, als würde sich mein ganzer Magen zusammenkrampfen! Das tut richtig weh und raubt mir den Appetit!«

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie Ängste haben, Mrs Quinn?«

»Ja! Ja! Ängste! Schreckliche Ängste! Man versucht alles richtig zu machen und für seine Kinder das Beste zu geben! Aber was werden unsere Kinder tun, wenn wir einmal nicht mehr da sind? Was wird dann aus ihnen? Wie können wir sicher sein, dass sie glücklich sind und ihnen nichts passiert? Wie diesem jungen Ding, Doktor Ashcroft! Die arme Nola, was ist bloß mit ihr? Wo kann sie nur sein?«

Wo konnte sie nur sein? In Rockland war sie nicht. Weder am Strand noch in den Restaurants, noch in dem Geschäft. Nirgends. Er rief das Hotel in Martha’s Vineyard an, um zu fragen, ob das Personal nicht vielleicht ein blondes Mädchen gesehen habe, aber der Rezeptionist, mit dem er sprach, hielt ihn für einen Spinner. Also wartete er, tagein, tagaus.

Er wartete den ganzen Montag.

Er wartete den ganzen Dienstag.

Er wartete den ganzen Mittwoch.

Er wartete den ganzen Donnerstag.

Er wartete den ganzen Freitag.

Er wartete den ganzen Samstag.

Er wartete den ganzen Sonntag.

Er wartete voller Ingrimm und Hoffnung. Sie würde zurückkommen. Und sie würden zusammen fortgehen. Sie würden glücklich werden. Sie war der einzige Mensch, der seinem Leben je einen Sinn gegeben hatte. Mochte man Bücher, Häuser, Musik und auch Menschen verbrennen – nichts war wichtig, solange sie bei ihm war. Er liebte sie, und das bedeutete, dass weder Tod noch Unglück ihm Angst machten, solange sie an seiner Seite war. Also wartete er auf sie. Und wenn die Nacht hereinbrach, schwor er den Sternen, dass er immer warten würde.

Während Harry sich weigerte, die Hoffnung aufzugeben, musste Captain Rodik sich das Scheitern des Polizeieinsatzes eingestehen, und das trotz des enormen Aufwands. Seit mittlerweile über zwei Wochen hatte man Himmel und Erde in Bewegung gesetzt – erfolglos. Bei einer Unterredung mit dem FBI und Chief Pratt konstatierte Rodik bitter: »Die Hunde finden nichts, die Menschen finden nichts. Ich glaube nicht, dass wir sie wiederfinden.«

»Da muss ich Ihnen leider recht geben«, bekräftigte der Beauftragte des FBI. »In solchen Fällen taucht das Opfer normalerweise sofort wieder auf, sei es tot oder lebendig, oder es geht eine Lösegeldforderung ein. Trifft weder das eine noch das andere zu, landet der Fall bei all den anderen unaufgeklärten Vermisstenmeldungen, die sich Jahr für Jahr auf unseren Schreibtischen stapeln. Allein letzte Woche sind dem FBI fünf Jungen im ganzen Land als vermisst gemeldet worden. Wir haben einfach nicht die Zeit, uns um alle zu kümmern.«

»Aber was kann mit dieser Kleinen passiert sein?«, fragte Pratt, der sich nicht damit zufriedengeben wollte, die Hände in den Schoß zu legen. »Ob sie ausgerissen ist?«

»Ausgerissen? Nein. Warum war sie dann voller Blut und wirkte verängstigt, als sie gesehen wurde?«

Rodik zuckte mit den Schultern, und der Mann vom FBI schlug vor, ein Bier trinken zu gehen.

Am nächsten Abend, dem 18. September, gaben Chief Pratt und Captain Rodik beim letzten gemeinsamen Pressetermin bekannt, dass die Suche nach Nola Kellergan eingestellt werde. Der Fall blieb bei der Kriminalpolizei offen. Es gab nicht den kleinsten Hinweis, nicht die geringste Fährte: In fünfzehn Tagen hatte man keine Spur von der kleinen Nola Kellergan gefunden.

Ein paar Freiwillige setzten die Suche unter Chief Pratts Führung noch wochenlang fort und weiteten sie bis an die Grenzen des Bundesstaates aus, doch vergebens. Es war, als hätte Nola Kellergan sich in Luft aufgelöst.