5. November 2008
Am Tag nach der Wahl war New York im Freudentaumel. Die Menschen hatten den Sieg der Demokraten bis spätnachts auf den Straßen gefeiert, als wollten sie die Dämonen der letzten Doppelpräsidentschaft verjagen. Ich hatte die Volksfeststimmung lediglich am Fernseher in meinem Büro miterlebt, das ich seit drei Tagen nicht verlassen hatte.
An diesem Morgen erschien Denise um acht Uhr mit einem Obama-Pullover, einer Obama-Tasse, einem Obama-Button und einem Päckchen Obama-Aufkleber im Büro. »Oh, Sie sind schon da, Marcus«, rief sie, als sie durch die Eingangstür trat und sah, dass alle Lichter brannten. »Waren Sie gestern Abend draußen? Was für ein Sieg! Ich habe Ihnen Sticker für Ihren Wagen mitgebracht.« Immer noch redend, legte sie die Sachen auf ihrem Tisch ab, schaltete die Kaffeemaschine ein und den Anrufbeantworter aus. Dann kam sie in mein Büro. Als sie sah, in was für einem Zustand sich das Zimmer befand, riss sie die Augen auf und rief: »Um Himmels willen, Marcus, was ist denn hier los?«
Ich saß in meinem Sessel und starrte die Wand an, die ich nachts mit meinen Notizen und Ermittlungsskizzen tapeziert hatte. Außerdem hatte ich mir immer wieder die Aufnahmen von Harry, Nancy Hattaway und Robert Quinn angehört.
»Ich kapiere an diesem Fall etwas nicht«, gestand ich. »Und das macht mich verrückt.«
»Haben Sie die ganze Nacht hier verbracht?«
»Ja.«
»Ach, Marcus, und ich dachte, Sie wären unterwegs, um sich ein bisschen zu amüsieren! Das haben Sie schon ewig nicht mehr gemacht. Ist es Ihr Roman, der Sie so quält?«
»Nein, etwas, was ich vergangene Woche herausgefunden habe.«
»Was haben Sie denn herausgefunden?«
»Da bin ich mir eben nicht ganz sicher. Was soll man tun, wenn einem klar wird, dass man von einem Menschen, den man immer bewundert und als Vorbild gesehen hat, nach Strich und Faden belogen wurde?«
Sie überlegte kurz und sagte dann: »Sowas Ähnliches ist mir passiert, und zwar mit meinem ersten Mann. Ich habe ihn mit meiner besten Freundin im Bett überrascht.«
»Und was haben Sie getan?«
»Nichts. Ich habe nichts gesagt und auch nichts getan. Das war in den Hamptons. Wir waren übers Wochenende mit meiner besten Freundin und deren Mann in ein Hotel am Meer gefahren. Am Samstag habe ich am frühen Abend einen Strandspaziergang gemacht, allein, weil mein Mann gesagt hatte, er wäre müde. Ich bin früher als gedacht zurückgekommen. Allein spazieren zu gehen ist eben doch nicht so lustig. Ich bin zu unserem Zimmer gegangen, habe die Tür mit der Schlüsselkarte geöffnet und die beiden zusammen im Bett erwischt. Er hat auf ihr gelegen, auf meiner besten Freundin! Es ist irre, aber mit diesen Schlüsselkarten kann man praktisch lautlos die Zimmer betreten. Sie haben mich weder gesehen noch gehört. Ich habe ihnen kurz zugeschaut und gesehen, wie sich mein Mann abgerackert hat, um sie wie ein Hündchen zum Winseln zu bringen, dann habe ich das Zimmer leise verlassen, bin zum Kotzen auf die Toilette und wieder spazieren gegangen. Eine Stunde später bin ich zurückgekommen. Mein Mann hat mit dem Mann meiner besten Freundin lachend an der Bar gesessen und Gin getrunken. Ich habe kein Wort gesagt. Abends ist er wie ein nasser Sack ins Bett gefallen, hat gesagt, er wäre restlos erledigt, da wäre nichts zu machen, und ist eingeschlafen. Trotzdem habe ich kein Wort gesagt. Sechs Monate lang habe ich kein Wort gesagt.«
»Und dann haben Sie die Scheidung eingereicht …«
»Nein. Er hat mich ihretwegen verlassen.«
»Bereuen Sie, dass Sie nichts unternommen haben?«
»Ja, täglich.«
»Also sollte ich etwas tun. Wollen Sie mir das damit sagen?«
»Ja, tun Sie etwas, Marcus. Machen Sie es nicht wie ich betrogene dumme Kuh.«
Ich lächelte. »Sie sind alles, nur keine dumme Kuh, Denise.«
»Marcus, was ist letzte Woche passiert? Was haben Sie herausgefunden?«
Fünf Tage zuvor
Am 31. Oktober bestätigte Professor Gideon Alkanor, einer der großen Spezialisten für Kinderpsychiatrie an der Ostküste und ein guter Bekannter von Gahalowood, was im Grunde offensichtlich war: Nola hatte unter einer erheblichen psychischen Störung gelitten.
Am Tag nach unserer Rückkehr aus Jackson waren Gahalowood und ich mit dem Auto zum Kinderkrankenhaus in Boston gefahren, wo Alkanor uns in seinem Büro empfing. Anhand der Informationen, die Gahalowood ihm vorab hatte zukommen lassen, war er zu dem Schluss gelangt, dass man bei Nola von einer Kindheitspsychose sprechen konnte.
»Was bedeutet das, grob gesagt?«, preschte Gahalowood vor.
Alkanor nahm seine Brille ab und putzte sie seelenruhig, als wollte er sich seine Worte reiflich überlegen. Schließlich wandte er sich an mich: »Das bedeutet, dass Sie gar nicht so unrecht hatten, Mr Goldman. Ich habe Ihr Buch neulich gelesen. In Anbetracht dessen, was Sie beschreiben, und der Informationen, die Perry mir geliefert hat, würde ich sagen, dass Nola manchmal den Bezug zur Wirklichkeit verloren hat. Vermutlich hat sie das Zimmer ihrer Mutter während einer ihrer Krisen in Brand gesteckt. In der Nacht zum 30. August 1969 ist Nolas Verhältnis zur Realität gestört: Sie will ihre Mutter töten, und in diesem konkreten Augenblick hat der Akt des Tötens für sie keine Bedeutung. Sie begeht eine Handlung, deren Tragweite ihr nicht bewusst ist. Zu dieser ersten traumatischen Erfahrung kommt später der Exorzismus hinzu, und es ist durchaus vorstellbar, dass die Erinnerung daran der Auslöser für ihre spätere Persönlichkeitsspaltung ist, bei der Nola die Rolle der Mutter übernimmt, die sie getötet hat. Und ab da wird alles richtig kompliziert: Jedes Mal, wenn Nola den Bezug zur Realität verliert, setzt ihr die Erinnerung an ihre Mutter und ihre Tat zu.«
Mir verschlug es für einen Moment die Sprache. »Sie wollen damit sagen, dass …«
Alkanor nickte, und bevor ich meinen Satz beenden konnte, fuhr er fort: »… Nola sich in diesen sogenannten Dekompensationsphasen selbst schlug.«
»Und was kann solche Krisen auslösen?«, erkundigte sich Gahalowood.
»Vermutlich starke Gefühlsschwankungen: Stress, tiefe Trauer … Dinge, die Sie in Ihrem Buch beschreiben, Mr Goldman: die Begegnung mit Harry Quebert, in den sie sich unsterblich verliebt, dann die Zurückweisung durch ihn, die sie zu ihrem Selbstmordversuch treibt. Das klassische Schema, würde ich sagen. Immer wenn ihre Gefühle sie überfordern, dekompensiert sie, und dann erscheint ihr ihre Mutter, um sie für das, was sie getan hat, zu bestrafen.«
Nola und ihre Mutter waren also die ganze Zeit lang eine Person gewesen. Jetzt fehlte uns nur noch die Bestätigung von David Kellergan, und so begaben wir uns am Samstag, den 1. November 2008, als Abordnung in die Terrace Avenue 245: Gahalowood, ich und Travis Dawn, den wir über das, was wir in Alabama erfahren hatten, ins Bild gesetzt hatten und den Gahalowood gebeten hatte, uns zu begleiten, um David Kellergan zu beschwichtigen.
Als Letzterer uns vor seiner Tür stehen sah, verkündete er augenblicklich: »Ich habe Ihnen nichts zu sagen. Weder Ihnen noch sonst wem.«
»Aber ich habe Ihnen etwas zu sagen«, erklärte Gahalowood ruhig. »Ich weiß, was im März 1969 in Alabama geschehen ist. Ich weiß von dem Brand. Ich weiß alles.«
»Gar nichts wissen Sie.«
»Du solltest sie anhören«, sagte Travis. »Nun mach schon auf, David. Drinnen redet es sich besser.«
Schließlich gab David Kellergan nach. Er ließ uns herein und führte uns in die Küche. Dort schenkte er sich eine Tasse Kaffee ein, ohne uns welchen anzubieten, und setzte sich an den Tisch. Gahalowood und Travis nahmen ihm gegenüber Platz, ich blieb im Hintergrund stehen.
»Also?«, fragte Kellergan.
»Ich bin nach Jackson geflogen«, begann Gahalowood. »Ich habe mit Pfarrer Jeremy Lewis gesprochen und weiß, was Nola getan hat.«
»Seien Sie still!«
»Sie litt unter einer Kindheitspsychose. Sie hatte Anfälle von Schizophrenie. Am 30. August 1969 hat sie das Zimmer ihrer Mutter angezündet.«
»Nein!«, schrie David Kellergan. »Sie lügen!«
»Als Sie an jenem Abend nach Hause kamen, stand Nola singend auf der Veranda. Später, als Sie herausgefunden hatten, was passiert war, haben Sie ihr den Teufel ausgetrieben. Sie dachten, es wäre zu ihrem Besten, aber es machte alles noch schlimmer. Danach litt sie phasenweise unter einer Persönlichkeitsspaltung und versuchte, sich selbst zu bestrafen. Deshalb sind Sie weit aus Alabama weg gegangen, quer durchs ganze Land, in der Hoffnung, die Geister abzuschütteln, aber das Gespenst Ihrer Frau hat Sie beide verfolgt, weil es immer noch in Nolas Kopf herumspukte.«
Eine Träne lief über seine Wange. »Sie hatte manchmal diese Zustände«, flüsterte er mit erstickter Stimme. »Ich konnte nichts dagegen tun. Dann hat sie sich selbst gezüchtigt. Sie war Tochter und Mutter in einem, hat sich geschlagen und dann selbst angefleht, damit aufzuhören.«
»Und Sie haben die Musik aufgedreht und sich in die Garage zurückgezogen, weil es unerträglich war.«
»Ja! Unerträglich! Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Meine Tochter, meine geliebte Tochter, war so krank.« Er begann zu schluchzen. Voller Entsetzen über das, was er da zu hören bekam, starrte Travis ihn an.
»Warum haben Sie sie nicht behandeln lassen?«, wollte Gahalowood wissen.
»Ich hatte Angst, dass man sie mir wegnimmt, dass man sie einsperrt! Außerdem wurden die Anfälle mit der Zeit immer seltener. Ein paar Jahre hatte ich den Eindruck, als würde sich die Erinnerung an das Feuer allmählich verflüchtigen, ja ich glaubte sogar, diese Krisen würden irgendwann ganz ausbleiben. Es wurde immer besser – bis zum Sommer 1975. Plötzlich und ohne dass ich es mir erklären konnte, hatte sie wieder eine Serie schlimmer Anfälle.«
»Wegen Harry«, sagte Gahalowood. »Die Begegnung mit Harry hat sie emotional überfordert.«
»Es war ein grauenhafter Sommer«, berichtete der alte Kellergan. »Ich spürte, wie sich die Krisen anbahnten, ich konnte sie fast vorhersagen. Es war entsetzlich. Sie schlug sich mit dem Lineal auf Finger und Brüste. Oder sie füllte eine Wanne mit Wasser, tauchte ihren Kopf unter und flehte zwischendurch ihre Mutter an, damit aufzuhören. Und belegte sich dann wieder in der Stimme ihrer Mutter mit den schlimmen Beschimpfungen.«
»Dieses Untertauchen, das hatten Sie vorher mit ihr praktiziert, nicht wahr?«
»Jeremy Lewis hat geschworen, dass es kein anderes Mittel dagegen gibt! Ich hatte gehört, dass er sich als Exorzist betätigte, aber ich hatte mit ihm nie darüber gesprochen. Plötzlich hat er behauptet, das Böse hätte von Nolas Körper Besitz ergriffen und man müsste sie davon erlösen. Ich habe nur eingewilligt, damit er Nola nicht anzeigt. Jeremy war total verrückt, aber was hätte ich tun sollen? Ich hatte doch keine Wahl … In diesem Land steckt man auch Kinder ins Gefängnis!«
»Nola ist wiederholt von zu Hause ausgerissen, richtig?«
»Ja, ein paarmal. Einmal ist sie eine ganze Woche weggeblieben. Ich weiß es noch ganz genau, es war Ende Juli 1975. Was hätte ich tun sollen? Die Polizei rufen? Und was hätte ich ihr erzählt? Dass meine Tochter langsam dem Wahnsinn verfiel? Ich beschloss, bis zum Wochenende zu warten, bevor ich Alarm schlug. Ich habe sie die ganze Woche lang überall Tag und Nacht gesucht. Und auf einmal war sie wieder da.«
»Was ist am 30. August passiert?«
»Sie hatte eine sehr heftige Krise. In so einem Zustand hatte ich sie noch nie erlebt. Ich habe versucht, sie zu beruhigen, aber es war nichts zu machen. Also habe ich mich in der Garage verkrochen, um dieses verfluchte Motorrad zu reparieren. Ich habe die Musik voll aufgedreht und mich den Großteil des Nachmittags versteckt. Den Rest kennen Sie. Als ich zu ihr gegangen bin, war sie nicht mehr da … Dann bin ich losgegangen, um im Viertel nach ihr zu suchen, aber dann habe ich gehört, dass in der Nähe von Side Creek ein blutendes Mädchen gesehen worden war, und begriffen, dass die Lage ernst war.«
»Was haben Sie gedacht?«
»Ehrlich gesagt, dachte ich zuerst, Nola wäre von zu Hause weggelaufen und das Blut käme von ihren Selbstzüchtigungen. Ich dachte, Deborah Cooper hätte Nola vielleicht mitten in einem ihrer Anfälle erlebt. Schließlich war es der 30. August, also der Tag, an dem unser Haus in Jackson abgebrannt ist.«
»Hatte Nola an diesem Datum bereits früher mal eine so schlimme Krise?«
»Nein.«
»Was hätte eine derartige Krise auslösen können?«
David Kellergan zögerte mit der Antwort. Travis Dawn begriff, dass man ihn zum Reden ermuntern musste. »Wenn du etwas weißt, David, musst du es uns sagen. Das ist sehr wichtig. Tu es für Nola.«
»Als ich an jenem Tag in ihr Zimmer gegangen bin und sie nicht da war, habe ich auf ihrem Bett einen aufgerissenen Umschlag liegen sehen, einen an sie adressierten Umschlag mit einem Brief darin. Ich glaube, dieser Brief hat die Krise ausgelöst. Es war ein Abschiedsbrief.«
»Von diesem Brief hast du uns nie etwas erzählt!«, rief Travis.
»Weil er von einem Mann stammte, der der Schrift nach nicht im passenden Alter für eine Liebesgeschichte mit meiner Tochter war. Was willst du? Hätte die ganze Stadt Nola für ein Flittchen halten sollen? Damals war ich mir sicher, dass die Polizei sie finden und nach Hause bringen würde. Danach wollte ich sie gründlich behandeln lassen! Jawohl, gründlich!«
»Wer war der Verfasser dieses Abschiedsbriefs?«, fragte Gahalowood.
»Harry Quebert.«
Wir waren sprachlos. Der alte Kellergan stand auf und verschwand. Kurz darauf kehrte er mit einer Pappschachtel voller Briefe zurück.
»Die habe ich, nachdem Nola verschwunden ist, in ihrem Zimmer hinter einem losen Brett gefunden. Nola hat sich mit Harry Quebert Briefe geschrieben.«
Gahalowood fischte aufs Geratewohl einen heraus und überflog ihn. »Woher wissen Sie, dass es Harry Quebert war?«, forschte er. »Die Briefe sind nicht unterschrieben …«
»Weil … Weil diese Briefe in seinem Buch vorkommen.«
Ich kramte in der Schachtel: Tatsächlich enthielt sie die Korrespondenz aus Der Ursprung des Übels, zumindest die Briefe, die Nola erhalten hatte. Sie waren alle da: die Briefe, die von den beiden handelten, und auch die Briefe, die Nola in der Klinik von Charlotte’s Hill erhalten hatte. Ich erkannte die klare, perfekte Handschrift des Manuskripts wieder, und das jagte mir einen Schauer über den Rücken: All das hatte wirklich stattgefunden.
»Und das hier ist der berühmte letzte Brief«, verkündete der alte Kellergan und gab Gahalowood ein Kuvert.
Gahalowood las ihn und reichte ihn an mich weiter.
Meine
Allerliebste,
das ist mein letzter Brief. Das sind meine
letzten Worte. Ich schreibe Ihnen, um Adieu zu sagen.
Von heute an wird es kein »wir« mehr geben. Die Liebenden trennen sich und finden nicht mehr zusammen, so enden Liebesgeschichten.
Meine Allerliebste, Sie werden mir fehlen. Sie werden mir so fehlen.
Meine Augen weinen. Alles in mir brennt.
Wir werden uns nie wiedersehen. Sie werden mir so fehlen.
Ich hoffe, dass Sie glücklich werden.
Ich sage mir, dass das zwischen Ihnen und mir ein Traum war und es jetzt Zeit ist, aufzuwachen.
Sie werden mir mein Leben lang fehlen.
Adieu. Ich liebe Sie, wie ich nie wieder lieben werde.
»Er entspricht der letzten Seite von Der Ursprung des Übels«, erklärte Kellergan.
Ich nickte wie vor den Kopf geschlagen, denn ich erkannte den Text wieder.
»Seit wann wissen Sie, dass Harry und Nola sich geschrieben haben?«, fragte Gahalowood.
»Erst seit ein paar Wochen. Im Supermarkt ist mir das Buch in die Hände gefallen. Es war gerade wieder ins Sortiment aufgenommen worden. Ich weiß auch nicht, warum, aber ich habe es gekauft. Ich musste es lesen, um alles besser zu verstehen. Der eine oder andere Satz darin kam mir bekannt vor. Schon verrückt, die Macht der Erinnerung! Ich habe nachgedacht, und plötzlich ist mir klar geworden: Die Sätze stammten aus den Briefen, die ich in Nolas Zimmer gefunden hatte. Ich hatte sie dreißig Jahre lang nicht angerührt, aber sie waren irgendwo in meinem Gedächtnis abgespeichert. Also habe ich sie noch einmal gelesen, und danach war mir alles klar: Dieser gottverdammte Brief, Sergeant, hat dazu geführt, dass meine Tochter verrückt vor Kummer wurde! Luther Caleb hat Nola vielleicht getötet, aber Quebert ist in meinen Augen mindestens so schuldig wie er. Hätte sie nämlich nicht diese Zustände bekommen, wäre sie vielleicht nicht von zu Hause ausgerissen und Caleb in die Arme gelaufen.«
»Deshalb haben Sie also Harry im Motel besucht«, folgerte Gahalowood.
»Ja! Dreiunddreißig Jahre lang habe ich mich gefragt, wer diese verfluchten Briefe geschrieben hat. Dabei stand die Antwort die ganze Zeit in sämtlichen Bibliotheken Amerikas! Ich bin zum Sea Side Motel gefahren, und es kam zum Streit. Ich war so aufgebracht, dass ich nach Hause gefahren bin, um mein Gewehr zu holen, aber als ich zum Motel zurückkam, war er verschwunden. Ich glaube, ich hätte ihn umgebracht. Er wusste, wie labil sie war, und trotzdem hat er die Sache auf die Spitze getrieben!«
Ich fiel aus allen Wolken. »Was sagen Sie da?«, stieß ich hervor.
»Er wusste alles über Nola! Alles!«, rief David Kellergan.
»Soll das heißen, Harry wusste über Nolas Psychosen Bescheid?«
»Ja! Mir war bekannt, dass Nola ab und zu mit der Schreibmaschine zu ihm ging. Vom Rest wusste ich natürlich nichts. Ich fand es sogar gut, dass sie einen Schriftsteller kannte. Schließlich waren Ferien, und so war sie beschäftigt. Bis dieser unselige Kerl dann hier aufkreuzte und Streit suchte, weil er glaubte, dass meine Frau Nola schlug.«
»Harry hat Sie in jenem Sommer aufgesucht?«
»Ja. Mitte August. Ein paar Tage bevor Nola verschwunden ist.«
15. August 1975
Mitten am Nachmittag. Vom Fenster seines Büros aus bemerkte Reverend Kellergan, wie ein schwarzer Chevrolet auf den Parkplatz der Gemeinde fuhr. Er sah Harry Quebert aussteigen und mit raschem Schritt auf den Eingang zugehen. Was mochte der Grund für seinen Besuch sein? Seit seiner Ankunft in Aurora hatte sich Harry nie in der Kirche blicken lassen. David Kellergan hörte die Eingangstür zuschlagen, dann Schritte auf dem Gang, und gleich darauf erschien Harry im Rahmen der offenen Bürotür.
»Guten Tag, Harry«, begrüßte er ihn. »Welch schöne Überraschung!«
»Guten Tag, Reverend. Störe ich Sie?«
»Nicht im Geringsten. Bitte kommen Sie herein.«
Harry trat ein und schloss hinter sich die Tür.
»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich der Reverend. »Sie schauen so merkwürdig.«
»Ich bin hier, um mit Ihnen über Nola zu reden …«
»Oh, das trifft sich gut. Ich wollte Ihnen nämlich danken. Ich weiß, dass sie manchmal zu Ihnen geht, und sie kommt immer sehr vergnügt nach Hause. Ich hoffe, sie stört Sie nicht … Dank Ihnen ist sie in den Ferien gut beschäftigt.«
Aber Harrys Gesicht blieb ernst. »Sie war heute Morgen bei mir«, sagte er. »Sie war in Tränen aufgelöst und hat mir alles über Ihre Frau erzählt.«
Der Reverend wurde kreidebleich. »Über … meine Frau? Was hat sie Ihnen gesagt?«
»Dass sie sie schlägt! Und dass sie ihren Kopf in einem Becken mit eiskaltem Wasser untertaucht!«
»Harry, ich …«
»Damit ist jetzt Schluss, Reverend! Ich weiß alles.«
»Harry, die Sache ist etwas komplizierter. Ich …«
»Komplizierter? Wollen Sie mir etwa einreden, dass es für diese Misshandlungen einen guten Grund gibt? Hä? Ich werde zur Polizei gehen und denen alles erzählen, Reverend.«
»Nein, Harry, bloß nicht …«
»Doch, das werde ich. Was glauben Sie? Dass ich nicht wage, Sie anzuzeigen, weil Sie ein Kirchenmann sind? Das beeindruckt mich gar nicht! Was für ein Mensch lässt zu, dass seine Frau seine Tochter verprügelt?«
»Harry … Hören Sie mir zu, ich bitte Sie. Hier liegt ein schreckliches Missverständnis vor, und wir sollten uns in Ruhe unterhalten.«
»Ich weiß nicht, was Nola Harry erzählt hatte«, erklärte uns der Reverend. »Er war nicht der Erste, der ahnte, dass etwas komisch war. Aber bis dahin hatte ich es nur mit Nolas Freunden zu tun gehabt, mit Teenagern, deren Fragen ich leicht ausweichen konnte. Harry war ein anderes Kaliber. Ich musste ihm gegenüber zugeben, dass Nolas Mutter nur in ihrem Kopf existierte. Ich habe ihn beschworen, mit niemandem darüber zu reden, aber dann hat er sich in Dinge eingemischt, die ihn nichts angingen, und wollte mir Vorschriften in Bezug auf meine Tochter machen. Er wollte, dass ich sie behandeln lasse! Ich habe ihn zum Teufel geschickt. Eine Woche später ist Nola verschwunden.«
»Und danach haben Sie Harry über dreißig Jahre lang gemieden«, sagte ich, »weil Sie beide die Einzigen waren, die Nolas Geheimnis kannten.«
»Sie war mein einziges Kind, verstehen Sie doch! Ich wollte, dass alle sie in guter Erinnerung behalten. Die Leute sollten nicht denken, dass sie verrückt war. Sie war ja auch nicht verrückt, sondern nur labil! Und hätte die Polizei von ihren Krisen gewusst, sie hätte nicht all diese Anstrengungen unternommen, um sie zu finden. Dann hätte man sie als Irre und Ausreißerin abgestempelt!«
Gahalowood wandte sich an mich: »Und was schließen wir aus alldem, Schriftsteller?«
»Dass Harry uns angelogen hat. Er hat gar nicht im Motel auf Nola gewartet. Er hat mit ihr Schluss gemacht. Er wusste von Anfang an, dass er mit ihr Schluss machen würde. Er hatte nie vor, mit ihr durchzubrennen. Am 30. August 1975 hat sie einen letzten Brief von Harry erhalten, in dem stand, dass er ohne sie fortgegangen ist.«
Nach dem aufschlussreichen Besuch beim alten Kellergan fuhren Gahalowood und ich sofort ins Hauptquartier der State Police, um den Brief mit der letzten Seite des bei Nola gefundenen Manuskripts abzugleichen: Sie waren identisch.
»Er hatte alles geplant!«, rief ich. »Er wusste, dass er sie verlassen würde. Er wusste es von Anfang an.«
Gahalowood nickte. »Als sie ihm vorschlägt, mit ihr durchzubrennen, weiß er, dass er nicht mit ihr fortgehen wird. Ihm ist klar, dass ein fünfzehnjähriges Mädchen nur ein Klotz am Bein ist.«
»Aber sie hat doch das Manuskript gelesen …«, gab ich zu bedenken.
»Natürlich, aber sie hält es für einen Roman. Sie ahnt nicht, dass Harry ihre Geschichte haargenau niedergeschrieben hat und das Ende bereits besiegelt ist: Harry will sie nicht. Stefanie Larjinjiak hat uns erzählt, dass sie sich Briefe geschrieben haben und Nola immer die Post abgepasst hat. Am Samstagmorgen, dem Tag ihrer Flucht, dem Tag, an dem sie glaubt, dass sie mit dem Mann ihres Lebens dem Glück entgegenreisen wird, kontrolliert sie den Briefkasten ein letztes Mal. Sie will sichergehen, dass darin nicht womöglich ein Brief steckt, der ihre Flucht durch die Preisgabe wichtiger Details gefährden könnte. Aber dann findet sie seine Nachricht, in der es heißt, dass es aus ist.«
Gahalowood betrachtete das Kuvert, in dem der letzte Brief steckte. »Auf dem Umschlag steht zwar ihre Adresse, aber er hat weder eine Briefmarke, noch ist er abgestempelt«, stellte er fest. »Er wurde direkt in ihren Postkasten geworfen.«
»Sie meinen, von Harry?«
»Ja. Bestimmt hat er ihn nachts eingeworfen, bevor er das Weite gesucht hat. Vermutlich in letzter Minute in der Nacht von Freitag auf Samstag. Damit sie nicht ins Motel kommt. Damit sie begreift, dass es kein Treffen geben wird. Am Samstag findet sie dann seine Nachricht und dreht durch. Sie dekompensiert, bekommt einen fürchterlichen Anfall und malträtiert sich selbst. Vater Kellergan verkriecht sich wie immer verzweifelt in seiner Garage. Als Nola zur Besinnung kommt, fällt ihr das Manuskript ein. Sie will eine Erklärung. Sie nimmt das Manuskript und macht sich auf den Weg zum Motel in der Hoffnung, dass das alles nicht wahr ist und Harry dort auf sie wartet. Aber unterwegs begegnet sie Luther, und alles kommt anders.«
»Aber warum kehrt Harry am Tag nach Nolas Verschwinden nach Aurora zurück?«
»Weil er gehört hat, dass sie verschwunden ist. Er hat diesen Brief an sie eingeworfen, und jetzt kriegt er es mit der Panik. Bestimmt macht er sich Sorgen um sie. Wahrscheinlich hat er auch Schuldgefühle, aber ich denke mir, er hat vor allem Angst, dass jemand diesen Brief oder das Manuskript in die Finger und er Ärger kriegen könnte. Deshalb will er lieber in Aurora sein, um zu beobachten, wie sich die Dinge entwickeln, und vielleicht sogar ein paar kompromittierende Beweisstücke in seinen Besitz zu bringen.«
Wir mussten Harry finden. Ich musste unbedingt mit ihm reden. Warum hatte er mir weisgemacht, dass er auf Nola gewartet hätte, wenn er ihr in Wirklichkeit einen Abschiedsbrief geschrieben hatte? Gahalowood leitete eine Fahndung ein. Man überprüfte seine Kreditkartenabrechnungen und Telefonverbindungen. Aber seine Kreditkarte war nicht genutzt worden, und sein Handy sendete kein Signal mehr. Durch eine Anfrage bei der Datenbank der Grenzbehörden erfuhren wir, dass er am Posten von Derby Line in Vermont die Grenze nach Kanada überquert hatte.
»Also ist er jetzt in Kanada«, meinte Gahalowood. »Warum ausgerechnet Kanada?«
»Weil er glaubt, dass dort das Paradies der Schriftsteller ist«, erwiderte ich. »Im Manuskript Die Möwen von Aurora, das er mir hinterlassen hat, landet er mit Nola am Ende dort.«
»Mag ja sein, aber ich darf Sie daran erinnern, dass er in seinem Buch nicht die Wahrheit schreibt? Nicht nur, dass Nola tot ist, sondern er hatte offenbar auch nie vor, mit ihr durchzubrennen. Trotzdem hinterlässt er Ihnen dieses Manuskript, in dem er und Nola in Kanada wieder zusammenfinden. Was ist denn nun wahr?«
»Ich blicke nicht mehr durch!«, fluchte ich. »Warum zum Teufel hat er sich abgesetzt?«
»Weil er etwas zu verbergen hat. Nur wissen wir nicht genau, was.«
Zu diesem Zeitpunkt ahnten wir nicht, dass uns noch weitere Überraschungen ins Haus standen. Zwei größere Vorfälle sollten uns schon bald Antworten auf unsere Fragen liefern.
An diesem Abend teilte ich Gahalowood mit, dass ich für den nächsten Tag einen Flug nach New York gebucht hatte.
»Wie bitte? Sie fliegen zurück nach New York? Sind Sie jetzt vollkommen übergeschnappt, Schriftsteller? Wir stehen kurz vor der Auflösung! Geben Sie mir Ihren Ausweis, damit ich ihn beschlagnahmen kann.«
Ich grinste. »Ich verlasse Sie ja nicht, Sergeant, aber es ist höchste Zeit.«
»Zeit wofür?«
»Wählen zu gehen. Amerika hat ein Rendezvous mit der Geschichte.«
Am 5. November 2008, als New York noch immer Obamas Einzug ins Weiße Haus feierte, traf ich mich mit Barnaski zum Mittagessen im Pierre. Der Sieg der Demokraten hatte ihn in gute Laune versetzt. »Ich liebe die Schwarzen!«, sagte er. »Ich liebe schöne schwarze Menschen! Wenn Sie eine Einladung ins Weiße Haus kriegen, nehmen Sie mich mit! Also, was haben Sie mir so Wichtiges mitzuteilen?«
Ich erzählte ihm, was ich über Nola und ihre Kindheitspsychose in Erfahrung gebracht hatte.
Sein Gesicht hellte sich auf. »Die Szenen, in denen Sie die Misshandlungen durch die Mutter beschreiben – das war in Wirklichkeit Nola selbst?«
»Ja.«
»Fabelhaft!«, trompetete er durchs Restaurant. »Ihr Buch wird in seiner Art bahnbrechend sein! Der Leser hat das Gefühl, selbst nicht ganz bei Verstand zu sein, weil die Figur der Mutter existiert, ohne wirklich zu existieren! Sie sind ein Genie, Goldman! Ein Genie!«
»Nein, ich habe mich einfach nur geirrt. Ich habe mich von Harry an der Nase herumführen lassen.«
»Wusste Harry davon?«
»Ja. Er ist übrigens wie vom Erdboden verschluckt.«
»Was soll das heißen?«
»Er ist unauffindbar. Offenbar hat er die Grenze nach Kanada überquert. Als einzigen Hinweis hat er mir eine kryptische Nachricht und ein unveröffentlichtes Manuskript über Nola hinterlassen.«
»Gehören die Rechte Ihnen?«
»Wie bitte?«
»Die Rechte an dem unveröffentlichten Manuskript – gehören sie Ihnen? Ich kaufe sie Ihnen ab!«
»Verdammt noch mal, Roy! Darum geht es doch gar nicht!«
»Entschuldigung. War ja nur eine Frage.«
»Ein Detail fehlt noch. Irgendetwas habe ich noch nicht begriffen. Diese Geschichte mit der Kindheitspsychose, Harry, der abtaucht … Ein Puzzleteilchen fehlt noch, das weiß ich, aber ich komme nicht darauf.«
»Sie sind ein großer Zauderer, Marcus, aber glauben Sie mir, Angst bringt einen nicht weiter. Gehen Sie zu Doktor Freud, und lassen Sie sich ein paar Pillen zur Entspannung verschreiben. Ich jedenfalls werde Kontakt zur Presse aufnehmen. Wir werden eine Erklärung über die Krankheit der Kleinen verfassen, mit der wir alle glauben machen, dass wir von Anfang an Bescheid wussten, und die Sache als ›Überraschungsei‹ verkaufen, frei nach dem Motto, dass die Wahrheit manchmal ganz anders aussieht und man sich nicht auf den ersten Eindruck verlassen sollte. Die Leute, die Sie verrissen haben, werden als die Gelackmeierten dastehen, und Sie werden als großer Vorreiter gelten. Ihr Buch wird plötzlich wieder in aller Munde sein, und wir werden einen weiteren netten kleinen Packen davon verkaufen, denn durch diese Sache werden auch die, die gar nicht die Absicht hatten, es zu erwerben, ihre Neugier nicht bezähmen können und wissen wollen, wie Sie die Mutter beschrieben haben. Goldman, Sie sind ein Genie! Das Mittagessen geht auf mich.«
Ich verzog das Gesicht und erwiderte: »Das überzeugt mich nicht, Roy. Ich hätte gern noch ein wenig Zeit, um weiterzuforschen.«
»Sie sind nie überzeugt, Sie armes Schwein! Wir haben nicht die Zeit, um zu forschen, wie Sie es nennen! Sie sind ein Dichter, Sie glauben, dass die Zeit, die verrinnt, einen Sinn hat, aber Zeit, die verrinnt, bedeutet entweder Geld, das man verdient, oder Geld, das man verliert. Ich bin ein glühender Anhänger der ersten Option. Aber was soll’s, vielleicht haben Sie mitgekriegt, dass wir seit gestern einen neuen Präsidenten haben. Er sieht gut aus und ist sehr populär. Meinen Berechnungen nach werden wir gut eine Woche lang auf vollen Kanälen von ihm hören. Eine Woche, in der es nur um ihn gehen wird. Es wäre also völlig zwecklos, in dieser Zeit an die Medien heranzutreten, wir würden es bestenfalls zu einer Kurzmeldung in der Rubrik ›Überfahrene Hunde‹ bringen. Ich werde die Presse also erst in einer Woche kontaktieren, was Ihnen ein wenig Zeit verschafft. Es sei denn natürlich, eine Gruppe Südstaatler mit Spitzhüten murkst unseren frischgebackenen Präsidenten ab, dann würden wir es gut einen Monat lang nicht auf die Titelseite schaffen. Jawohl, gut einen Monat lang! Stellen Sie sich das Desaster vor: In einem Monat beginnt die Weihnachtszeit, und dann kräht kein Hahn mehr nach unserer Story. Wir werden die Sache mit der Kindheitspsychose also in einer Woche unters Volk streuen, und zwar in Form von Zeitungsbeilagen und dem ganzen Trallala. Mit mehr Luft würde ich auf die Schnelle einen kleinen Elternratgeber herausbringen, etwas in der Art von: Kindheitspsychosen erkennen oder: Wie Sie verhindern, dass Ihr Kind zu einer zweiten Nola Kellergan wird und Sie im Schlaf bei lebendigem Leib verbrennt. Das könnte einschlagen wie eine Bombe. Aber wir haben nicht die Zeit.«
Mir blieb also eine Woche, bevor Barnaski die Katze aus dem Sack ließ. Eine Woche, um zu begreifen, was mir noch schleierhaft war. Vier Tage vergingen: vier nutzlose Tage. Ich telefonierte immer wieder mit Gahalowood, aber auch der gab sich geschlagen. Die Ermittlungen steckten in einer Sackgasse, er kam nicht voran. Dann änderte ein Vorfall in der Nacht des fünften Tages den Verlauf der Ermittlungen. Es war der 10. November, kurz nach Mitternacht. Bei einer routinemäßigen Streifenfahrt nahm der Polizeibeamte Dean Forsyth auf der Strecke von Montburry nach Aurora die Verfolgung eines Wagens auf, der ein Stoppschild missachtet hatte und schneller als erlaubt fuhr. Die Sache hätte als banale Ordnungswidrigkeit durchgehen können, hätte das Verhalten des Fahrers, der hektisch wirkte und übermäßig schwitzte, den Polizisten nicht neugierig gemacht.
»Woher kommen Sie, Sir?«, hatte Officer Forsyth gefragt.
»Aus Montburry.«
»Was haben Sie dort gemacht?«
»Ich … Ich war bei Freunden.«
»Die Namen bitte!«
Das Zögern und der Anflug von Panik im Blick des Fahrers machten Officer Forsyth endgültig stutzig. Er richtete seine Taschenlampe auf das Gesicht des Mannes und bemerkte einen Kratzer auf seiner Wange. »Was ist mit Ihrem Gesicht passiert?«
»Ein tief hängender Ast, den ich nicht gesehen habe.«
Das überzeugte den Officer nicht. »Warum sind Sie so schnell gefahren?«
»Ich … Es tut mir leid. Ich hatte es eilig. Sie haben recht, ich hätte nicht …«
»Haben Sie getrunken, Sir?«
»Nein.«
Der Alkoholtest ergab, dass der Mann tatsächlich nichts getrunken hatte. Das Fahrzeug befand sich in ordnungsgemäßem Zustand, und als der Polizeibeamte mit dem Lichtstrahl seiner Taschenlampe das Wageninnere ausleuchtete, entdeckte er auch keine leeren Medikamentenschachteln oder anderes Verpackungsmaterial, wie sie bei Drogensüchtigen für gewöhnlich auf dem Rücksitz herumlagen. Trotzdem hatte er ein ungutes Gefühl: Seine innere Stimme sagte ihm, dass der Mann viel zu nervös und gleichzeitig zu ruhig war. Plötzlich bemerkte er etwas, was er bislang übersehen hatte: Seine Hände waren schmutzig, seine Schuhe schlammverdreckt und seine Hose klatschnass.
»Steigen Sie aus, Sir«, befahl Forsyth.
»Warum? Was … Was soll das?«, stammelte der Fahrer.
»Befolgen Sie meine Anweisung, und steigen Sie aus.«
Der Mann sträubte sich, woraufhin Officer Forsyth ihn genervt aus dem Wagen zerrte und wegen Nichtbefolgens einer polizeilichen Anweisung festnahm. Er brachte ihn zum Bezirksrevier und übernahm es höchstpersönlich, die üblichen Fotos von ihm zu machen und seine Fingerabdrücke elektronisch zu erfassen. Die Daten, die kurz darauf über seinen Computerbildschirm flimmerten, verschlugen ihm kurzzeitig die Sprache. Dann griff er, obwohl es halb zwei Uhr morgens war, zum Telefonhörer, weil er fand, dass seine Entdeckung wichtig genug war, um Sergeant Perry Gahalowood von der Mordkommission der State Police aus dem Bett zu holen. Drei Stunden später, gegen halb fünf, wurde ich meinerseits von einem Anruf aus dem Schlaf gerissen.
»Schriftsteller? Gahalowood am Apparat. Wo sind Sie?«
»Sergeant?«, antwortete ich schlaftrunken. »In New York, in meinem Bett. Wo sonst? Was ist los?«
»Wir haben den Vogel«, verkündete er.
»Wie bitte?«
»Den Brandstifter, der Harrys Haus angezündet hat … Wir haben ihn heute Nacht verhaftet.«
»Was?«
»Sitzen Sie?«
»Nein, ich liege.«
»Umso besser. Das wird Sie nämlich umhauen.«