Kapitel 34

BYE, MUM.« ICH umarmte sie fest und barg das Gesicht einen Moment lang an ihrer warmen Schulter. Zwar war ich erwachsen und inzwischen durchaus fähig, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, aber es war eine ungeheure Erleichterung gewesen, wenigstens eine Zeitlang nicht diejenige zu sein, die handeln musste, wenn etwas schieflief.

Mum lächelte und strich mir das Haar hinter die Ohren zurück, wie sie es getan hatte, als ich sechs Jahre alt war. »Wir sind so stolz auf dich«, sagte sie. »Nicht wahr, Eric?«

»Hmm?«, kam es vage von Dad, der die letzten Koffer in den winzigen Kofferraum eines Toyota Yaris wuchtete. »Ich schätze, sie genügt bescheidenen Ansprüchen, so wie es die meisten Töchter tun.«

»Da hörst du es«, sagte Mum. »Überschwängliches Lob aus dem Mund deines Vaters. Ich rechne fest mit einer Grabinschrift, die lautet: ›Es hätte schlimmer kommen können.‹« Sie seufzte. »Nun, Liebes, ich komme in ein paar Wochen wieder. Oder vielleicht auch früher.« Ungeduldig betupfte sie ihre Augen mit einem Papiertaschentuch.

»Ich habe euch ein bisschen Geld überwiesen – wegen der Flüge«, murmelte ich.

»Jo, Liebes …«

»Ihr könnt es mir zurückzahlen, wenn sich herausstellt, dass ihr es nicht braucht.« Anfang Frühjahr ist finanziell gesehen eine extrem schlechte Jahreszeit für alle, die von der Milchproduktion leben. »Ihr solltet lieber losfahren, oder ihr verpasst euren Flieger.« Ich küsste Dads Wange, als er die Fahrertür öffnete. »Bis bald.«

Roeschen.tif

Ein paar Tage später kam ich aus Roses Zimmer, um zu prüfen, ob der für das Abendessen bestimmte Schmortopf gar war. Dort sah ich Matt ans Bufett im Wohnzimmer gelehnt, wo er im dämmrigen Licht, das aus dem Flur hereinschien, irgendetwas las.

»Hey.« Er klappte das Buch hastig zu und richtete sich auf. »Wie sieht’s mit dem Brennholz aus?«

»Wir haben Berge davon.« Ich spähte um ihn herum, um einen Blick auf den verblassten Einband des Buches zu erhaschen. Er trat zur Seite, um mir die Sicht zu versperren.

»So was Neugieriges«, murmelte er, ehe er sich vorbeugte und mich küsste.

Lächelnd erwiderte ich seinen Kuss, dabei ließ ich die Hände unter sein Sweatshirt und über die warme Haut seines Rückens gleiten. Dann griff ich in dem Versuch, eine sexy Undercover-KGB-Agentin aus einem Bond-Film zu imitieren, nach unten und entriss ihm das Buch. »Hah!«, rief ich triumphierend und entwand mich seinem Griff, um es genauer zu betrachten.

»Du bist ein Aas«, teilte Matt mir sachlich mit.

Ich stellte Roses Band mit Kipling-Gedichten an seinen Platz zurück und lehnte sowohl von seinen Worten als auch seinen Taten gerührt die Stirn gegen seine Schulter. »Ich liebe dich.«

»Du bist trotzdem ein Aas.« Er küsste mich seitlich auf den Hals. »Ist Rose wach?«

»Sie will zum Dinner aufstehen. Im Moment hält sie ein Nickerchen.«

Roeschen.tif

Wir teilten uns die Chaiselongue und die Zeitung, als ein Auto den Hügel hochkam.

»Bist du mit dem Sportteil fertig?«, fragte Matt.

»Ich tausche ihn gegen die Nachrichten aus aller Welt.«

»In Libyen herrscht immer noch Chaos, und die französischen Bauern demonstrieren.«

»Warum?« Ich reichte ihm die Rugbyseite.

»Hab mir nicht die Mühe gemacht, so weit zu lesen«, sagte er. »Um die Zeit totzuschlagen, nehme ich an.«

Kim öffnete die Küchentür und kam mit Andy im Schlepptau herein. »Wie geht es Tante Rose?«

»Sie schläft ein bisschen«, sagte ich. »Aber zum Dinner will sie aufstehen.«

Sie nickte. »Cool. Reicht das Essen auch für uns?«

»Es ist genug da. Hi, Andy.« Ich schwang meine Beine über die von Matt und stand auf. »Hat jemand etwas gegen Erbsen und Karotten einzuwenden?«

»Erbsen sind ein so praktisches Gemüse«, bemerkte Kim. »Man holt sie aus der Tiefkühltruhe, wirft sie in einen Topf und kocht sie drei Minuten lang.«

»Du hast den wichtigsten Schritt vergessen«, erinnerte sie ihr Bruder. »Man gibt Butter dazu.«

»Fast alles Essbare kann geschmacklich verbessert werden, wenn man Butter dazutut«, warf ich träumerisch ein. »Oder Zitronensaft oder Zucker. Oder beides.«

Andy schüttelte den Kopf. »Pizza nicht. Und Eis auch nicht.«

»Hast du schon mal die Rückseite einer kalten Pizza mit Butter bestrichen?« Matt tat sein Bestes, um die Zeitung wieder halbwegs ordentlich zusammenzulegen. »Solltest du mal probieren. Jo, was hast du mit dem Fernsehprogramm gemacht?«

»Den Teil hattest du«, gab ich zurück. »Also such es.«

Kim schnaubte. »Mann, seid ihr nervig. Ihr seid erst eine Woche zusammen und benehmt euch schon, als wärt ihr zwanzig Jahre verheiratet.«

Ich ging zur Gefriertruhe, um nach Erbsen zu suchen. »Du vergisst, Kimmy, dass in unserem Alter Leidenschaft in Sekundenschnelle in Kameradschaft umschlägt.«

Während Matt das Fernsehprogramm studierte, presste er die Lippen fest aufeinander und bot so das ziemlich überzeugende Bild eines Mannes, dem es im Traum nicht einfallen würde, seine Freundin auf dem Weg von der Wäscheleine zum Haus in den Holzschuppen zu ziehen, um es dort an einen Holzstapel gelehnt mit ihr zu treiben. War sicher mit Splittern verbunden, aber durchaus reizvoll.

»Soll ich ein paar Karotten schneiden?«, erbot sich Andy.

»Das wäre nicht schlecht.« Ich öffnete die Ofentür und stach mit einer Gabel in eine gebackene Kartoffel, um zu prüfen, wie weich sie war. Roses Glocke läutete, und ich richtete mich hastig wieder auf, aber Kim stürmte schon den Flur hinunter.

Andy förderte aus den Tiefen des Kühlschranks eine Tüte Karotten zutage und legte sie auf den Tisch. »Wo ist das Schneidebrett?«

Matt gab es ihm und begann gemächlich den Tisch zu decken. »Hast du gestern Abend was geschossen?«, fragte er. Andy hatte Kim zum Erstaunen aller, die sie kannten, davon überzeugt, dass es durchaus Spaß machte, den Dienstagabend damit zu verbringen, mit einem Punktscheinwerfer und einem Gewehr in der feuchten Dunkelheit herumzuschleichen.

»Ein Kaninchen und vier Opossums«, erwiderte Andy. »Die Opossums waren alle an dem Teich unterhalb des Kuhstalls und haben die neuen Weidenschösslinge gefressen.«

»Wie viele hast du gesehen?«

Andy lächelte, als er anfing, die Karotten zu köpfen. »Ein Kaninchen und vier Opossums«, wiederholte er mit sichtlicher Befriedigung. »Das ist übrigens ein hübscher kleiner Teich – jagt ihr auch Wildenten?«

»Scotty und ich gehen manchmal in den frühen Morgenstunden dahin«, sagte Matt. »Aber wir nehmen die Entenjagd nicht sehr ernst.«

»Ernsthaft betriebene Entenjagd hat auch ein paar ernsthafte Nachteile«, bemerkte ich.

»Zum Beispiel, dass man die Enten essen muss?«

»Zum einen. Und man muss sie rupfen.« Truthähne waren natürlich noch schlimmer; sie waren nicht nur hässlich wie die Sünde, sondern wimmelten meist auch noch von Läusen. Und sie waren größer als Enten, und das hieß, dass man mehr davon essen musste.

»Ich mag Ente«, sagte Andy freundlich.

»Komm doch nächstes Jahr mit, wenn du Lust hast«, bot Matt an.

Andy lächelte; wahrscheinlich fühlte er sich geschmeichelt, dass Matt ihm zutraute, im nächsten Mai noch im Gespräch zu sein. »Cool«, sagte er.

Roeschen.tif

Es war nach acht, und Andy war schon gegangen, als Hazel die Küchentür aufriss und in den Raum stürzte, ohne sich die Mühe zu machen, die Schuhe auszuziehen. »Ist Kim hier?«, fragte sie mit einer für sie ganz untypischen Schroffheit.

»Sie und Matt sind in Tante Roses Zimmer.« Ich wischte den Tisch ein letztes Mal mit einem Lappen ab und ging dann zum Wasserhahn, um ihn auszuspülen.

Hazel marschierte entschlossen durch die Küche. An der Tür zum Flur blieb sie stehen und drehte sich noch einmal um. »Josie, meine Liebe, meinst du wirklich, du solltest diesen Hund die Essensreste von einem guten Porzellanteller fressen lassen?«

Das sollte ich vermutlich nicht, aber er hatte mich mit großen braunen Augen so hoffnungsvoll angesehen, dass ich weich geworden war. Ich hängte mein Geschirrtuch auf und unterließ es bewusst, Hazels schlammige Fußabdrücke aufzuwischen, in der Hoffnung, sie würde sie auf dem Rückweg bemerken und sich schämen. Dann folgte ich ihr durch den Flur.

»Hier steckst du also, Kim«, sagte Hazel, als sie Roses Tür erreicht hatte. »Komm, wir fahren nach Hause. Hallo, Matthew, Liebling.«

Kim lag zusammengerollt neben ihrer Tante auf dem Bett und hatte ihr gerade laut vorgelesen. Sie legte das Buch verkehrt herum auf die pfauenblaue Tagesdecke und musterte ihre Mutter stirnrunzelnd. »Es ist alles okay. Ich habe meine Englischarbeit heute eingereicht.«

»Ich will nicht mit dir diskutieren; ich wünsche, dass du tust, was dir gesagt wird. Sag deiner Tante gute Nacht.«

»Was zum Henker ist dein Problem?«, fragte Kim beißend.

Matt, der sich in dem Sessel am Fuß des Bettes rekelte, zuckte zusammen.

»Dein Ton gefällt mir nicht, junge Dame. Wenn ich dir etwas sage, erwarte ich, dass du gehorchst.«

»Was ist denn los, Hazel?«, erkundigte sich Rose erschöpft.

Hazel richtete sich zu ihrer vollen Größe von einem Meter sechzig auf und griff in ihre Handtasche. »Das ist los«, fauchte sie, dabei schwenkte sie vor unseren verblüfften Augen eine Packung Kondome.

»Mum!«, rief Kim empört.

»Was hast du dazu zu sagen?«

Kim öffnete und schloss den Mund eine Weile, ohne einen Ton herauszubringen, dann krächzte sie aufgebracht: »Wie kannst du es wagen, in meinen Schubladen herumzuschnüffeln?«

»Du lebst unter meinem Dach, also geht mich der Inhalt deiner Schubladen sehr wohl etwas an.«

»Das stimmt«, warf Matt unverhofft ein. Seine Schwester starrte ihn fassungslos an, woraufhin er fortfuhr: »Schubladen sind für jeden Schnüffler erste Wahl. Ich kann nicht glauben, dass dir kein besseres Versteck eingefallen ist.«

»Matthew, sei still«, schnappte seine Mutter. »Kim, ich bin sehr enttäuscht von dir. Jetzt steh auf und komm mit!«

»Nein«, sagte Kim – nicht trotzig, sondern mit einer ruhigen Entschlossenheit, die in ihrer Mutter den Wunsch auslösen musste, sie zu ohrfeigen.

»Du hörst mir jetzt gut zu, junge Dame …«, begann Hazel.

»Mum, beruhige dich«, sagte Matt. »Ich habe sie ihr gegeben.«

»Du hast …« Sie brach ab und ließ verzweifelt die Schultern hängen. »Also wirklich, Matthew – dein armer Vater würde sich im Grab umdrehen!«

»Wohl eher in seiner Urne«, murmelte Kim und goss so Öl in die Flammen des Zorns ihrer Mutter. »Ein niedlicher kleiner Aschewirbelsturm.«

Rose runzelte die Stirn, und Kim hatte den Anstand, beschämt den Kopf zu senken.

»Ich bezweifle, dass er sich überhaupt rührt«, vermutete Matt. »Er hat mir damals auch eine Schachtel gegeben, also dachte ich, ich setze die Tradition fort.«

»Das war doch etwas ganz anderes!«, schrillte Hazel. »Du bist ein Mann, von dir erwartet man …« Sie verstummte abrupt.

»Dass er sich die Hörner abstößt?«, entfuhr es mir wider besseres Wissen.

Kim kicherte, und Rose sah jetzt mich stirnrunzelnd an.

»Lasst uns eine Tasse Tee trinken«, schlug sie vor. »Kim, da du scheinbar in Ungnade gefallen bist, kannst du ihn kochen.«

Hazel sank auf einen Stuhl. »Was soll ich nur mit diesem Kind anfangen?«, stöhnte sie. »Sie vertraut mir nichts an, und sie hört auf nichts, was ich sage …«

»Natürlich nicht«, sagte Rose. »Du bist ja nur ihre Mutter.« Und da sie Tante Rose war, fügte sie nicht hinzu, dass man ein Mädchen schwerlich dazu bringt, bei seiner Mutter Rat in Beziehungsfragen zu suchen, indem man in ein Krankenzimmer stürmt und mit einer Packung Kondome herumfuchtelt.