Kapitel 11

AMBER.« ICH TRAT hinter meine Sprechstundenhilfe und schlug meinen besten Strenge-Chefin-Tonfall an. »Du musst morgen Craig von Waikato Medical Supplies anrufen und dich vergewissern, dass er das Ultraschallgerät per Kurier zurückgeschickt hat.« Es war Montagabend, und ich würde am Dienstag nicht in der Praxis sein.

»Okay«, sagte Amber. »Ich erledige das gleich als Erstes.«

»Und mach bitte im Empfangsbereich ein bisschen sauber – putz die Fenster und so. Es sieht etwas schmuddelig aus.« Sie drehte sich um und sah mich mit leerem Blick an. Es war, als starre man einem toten Fisch in die Augen. »Cheryl hat versprochen, am Vormittag mit Max auf einen Tee vorbeizukommen, und es wäre doch schön, ihr zu zeigen, dass wir den Laden im Griff haben.«

»Mach ich, wenn ich Zeit habe«, erwiderte sie.

»Wenn ich am Mittwoch komme und feststelle, dass nichts passiert ist, weiß ich, dass du den ganzen Tag im Internet gesurft hast, und dann blüht dir was, was du dir überhaupt nicht vorstellen kannst. Ich hab in Melbourne nämlich Kickboxen gelernt.«

Auf diese finstere Drohung reagierte Amber mit einem Kichern. »Okay.« Sie wischte sich die Nase zur Abwechslung an der Schulter ihrer Bluse ab. »Ich wünsch dir morgen einen schönen Tag.«

»Ich dir auch.« Ich unterdrückte einen Seufzer. Mit jemandem wie Amber hatte ich noch nie zusammengearbeitet. In der Vergangenheit hatte ich Studenten bisweilen scharf zurechtgewiesen und einmal auch eine Krankenschwester, die am Telefon keinerlei Manieren hatte –
ich hasste solche Maßregelungen, wenn es allerdings sein musste, hielt ich mich nicht zurück. Aber Amber war mir wohl als Strafe für die Sünde des Stolzes auf meine Managerqualitäten gesandt worden. Sie schwebte durch ihre eigene glückliche (wenn auch ständig verschnupfte) Welt, und Tadel, Drohungen oder die Enttäuschung anderer prallten gleichermaßen wirkungslos an ihr ab. Zum Glück war sie wenigstens nicht nachtragend. Wahrscheinlich war in ihrem Kopf gar kein Platz dafür.

Roeschen.tif

Rose empfing mich am nächsten Morgen mit einem grünen Recycling-Einkaufsbeutel in der Hand an der Küchentür. Als sie in mein Auto stieg, beobachteten Percy und die Hunde sie betrübt; sie fürchteten, ihre Göttin könnte nicht wiederkommen.

»Wie schön, so geliebt zu werden«, bemerkte ich, als ich die bekümmerten Tiergesichter im Rückspiegel betrachtete.

»Ist es auch. Zu Weihnachten bekommst du von mir ein Ferkel.«

Ich grinste. »Sara würde einen hysterischen Anfall bekommen. Wie geht es dir heute?«

»Och«, sagte Rose. »Du weißt schon. Total beschissen.« Sie sah mich von der Seite an. »Der Ausdruck ist bei mir hängengeblieben – er geht so schön leicht über die Lippen. Vielen Dank, Josephine.«

»Keine Ursache. Ich kenne bei Bedarf noch mehr nützliche Ausdrücke. Ich hab sogar eine ganze Liste davon für Männer, die fremdgehen, erstellt.«

»Als da wären?«

»Mein persönlicher Favorit«, erwiderte ich, während ich einigen Schlaglöchern auswich, »ist ›mieser, schwanzgesteuerter Dreckskerl‹. Stammt allerdings nicht von mir, sondern von meinem Freund Stu.« Ich bog nach Norden auf die Hauptstraße ab.

»Sehr gut. Und wie nennst du das Mädchen, mit dem er seine Freundin betrügt?«

»Entweder ›fiese Schlampe‹ oder ›elendes kleines Luder‹.«

»Verstehe.« Rose kramte in ihrer Tasche unten auf dem Boden und holte eine große Schüssel heraus. »Keine Angst, Josephine, nur für den Fall der Fälle.« Sie lehnte sich im Sitz zurück und schloss die Augen.

Roeschen.tif

Wenn es einen Ort auf der Welt gibt, der gesunden Menschen vor Augen führt, wie gut es ihnen geht, dann ist es die Krebsstation eines Krankenhauses. Während Rose eine weitere intravenöse Chemo verabreicht wurde, nach der es ihr noch schlechter ging als ohnehin schon, kam ich mit der Frau im Nachbarzimmer ins Gespräch. Sie war wohl ungefähr in meinem Alter, doch das ließ sich schlecht schätzen, da sie sich einen Schal um den kahlen Schädel gewunden und tiefe, dunkle Ringe unter den Augen hatte. Sie erzählte mir, sie habe zwei kleine Kinder und ihr Mann sei vor einer Woche ausgezogen, weil er ›seinen Freiraum brauche‹. Was für ein reizender Zeitgenosse.

Kurz nach fünf waren wir wieder zu Hause, und Rose ging direkt zu Bett. Ich fütterte die Hunde und Percy (er bekam zusätzlich zu seiner Apfel-Walnuss-Diät noch drei Kekse, die er vorsichtig in der Schnauze davontrug, um sie unter seinem Lieblingsbusch zu verspeisen). Dann leerte und spülte ich die Schüssel aus und brachte Rose eine Tasse Tee, aber sie konnte ihn nicht bei sich behalten.

Matt und Kim kamen gegen halb acht und zankten sich, als sie die Küche betraten, über Kims Fahrkünste.

»Wo ist Tante Rose?«, fragte Kim.

Ich hatte gerade den Boden geschrubbt – teils, weil es nötig war, vor allem aber, weil diese grässliche Arbeit zu diesem ganzen grässlichen Tag passte – und richtete mich auf, um das Schmutzwasser wegzukippen. »Im Bett. Ich hoffe, sie schläft.«

»Ich sehe mal nach«, sagte Kim.

»Weck sie nicht auf!«, mahnte Matt.

»Himmel, Matt, ich bin doch nicht blöd!« Sie rauschte davon.

»Wie geht es ihr?«, erkundigte sich Matt.

»Schlecht.«

Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

»Ich bleibe über Nacht«, erbot ich mich.

»Danke.«

»Könnte nicht deine Mum hier schlafen, bis sie die Chemo hinter sich hat?«, fragte ich.

»Mum fliegt morgen mit Nan Gregory nach Thailand«, erwiderte Matt gepresst. »Sie will drei Wochen dort bleiben.«

»Oh.«

»Sie sagt, sie braucht ein bisschen Abstand.«

»Wovon denn?«, entfuhr es mir. Manchmal vergesse ich, das Gehirn einzuschalten, bevor ich den Mund aufmache. Ich zuckte zusammen. »Tut mir leid.«

»Nein, das ist eine berechtigte Frage. Ich kapier das auch nicht, verdammt noch mal.« Ich sah ihn an. Die Empörung in seiner Stimme überraschte mich. Matt wird nur selten fuchsteufelswild, das ist nicht sein Stil.

»Vielleicht sollte ich meine Mum anrufen«, überlegte ich. »Die Ziegen geben jetzt keine Milch mehr – wahrscheinlich könnte sie für eine oder zwei Wochen herkommen.«

»Das wäre wirklich eine gute Idee«, erwiderte er. »Ich biete Rose ja auch immer an, hierzubleiben, aber sie will nichts davon hören.«

»Sie will dir einfach nicht noch mehr Arbeit aufbürden, als du ohnehin schon hast.«

Rose war der Meinung, ein Mann solle sich mit seiner Zeitung in den Sessel setzen und nicht etwa Brechschüsseln auswaschen, wenn er von der Arbeit kam. Gleichzeitig war es für sie allerdings eine Selbstverständlichkeit, dass eine Frau mit einem Ganztagsjob trotzdem noch imstande sein sollte, für ihre Familie zu kochen und zu putzen – und das, obwohl sie sich ohne rot zu werden als Feministin bezeichnen würde.

Kim kam in die Küche zurück. »Sie schläft«, berichtete sie. »Können wir noch was trinken, Matt, oder musst du sofort nach Hause und Cilla anrufen?«

»Wir können schon noch Kaffee trinken, wenn Jo welchen macht«, erwiderte er. »Pass auf, was du sagst, Kröte, oder du schläfst im Stall.«

Kim grinste ihn an. »Das wäre kein großer Unterschied zu deinem Gästezimmer. In seinem Haus sieht es einfach schrecklich aus, Josie. Ich hol mir dort sicher noch irgendeine scheußliche Krankheit.«

»Ich spiele den Babysitter, während Mum weg ist«, erklärte Matt mit spürbarem Mangel an Begeisterung. »Und bei mir im Haus ist alles in Ordnung. Verglichen mit deinem Schlafzimmer herrscht dort geradezu sterile Sauberkeit.«

»Ich höre euch beiden immer ganz begeistert zu«, bemerkte ich. »Da bin ich jedes Mal dankbar dafür, ein Einzelkind zu sein.«

Während wir noch am Küchentisch Kaffee tranken, rief meine Mutter an und sagte: »Natürlich komme ich. Auf die Idee hätte ich selber kommen sollen. Ich such mir im Internet einen Flug heraus und rufe dich zurück.« Was sie sieben Minuten später auch tat. »Passt es, wenn ich morgen um zwei in Hamilton lande?«

»Kannst du keinen späteren Flug nehmen?«, erkundigte ich mich. »Dann könnte ich dich nach der Arbeit vom Flughafen abholen.«

»Ich nehme den Bus«, wehrte Mum ab. »Das ist für alle viel einfacher.«

»Du bist wunderbar. Kannst du es dir denn leisten, so kurzfristig herzufliegen?«

»Natürlich«, erwiderte sie. »Dafür gibt es schließlich Kreditkarten. Wir sehen uns morgen.«

Die King-Geschwister verabschiedeten sich kurz darauf. »Danke, Jo.« Matt verlagerte seinen verletzten Arm behutsam in der Schlinge, als er aufstand.

»Soll ich mir die Schulter mal ansehen?«, fragte ich.

»Was? Oh, ja, der Arzt sagt, ich brauche eine Physiotherapie. Ich mache einen Termin.«

»Ich kann sie mir auch jetzt kurz ansehen.«

Er schüttelte den Kopf. »Wir gehen dann besser mal und treffen uns morgen – du kommst doch rüber, um deine Mum zu sehen, oder?«

»Klar«, nickte ich.

»Komm schon«, rief Kim von der Türschwelle her. »Sonst rastet Cilla aus.«

»Wie kommst du denn darauf?«, wollte Matt wissen.

»Weil sie der Typ dafür ist«, entgegnete Kim finster.

Matt verdrehte die Augen. »Schluss jetzt, Kröte«, sagte er und folgte ihr zur Tür hinaus.

Roeschen.tif

Als ich am nächsten Morgen zur Arbeit kam, stellte ich fest, dass Amber tatsächlich den lobenswerten Versuch unternommen hatte, die Fenster zu putzen. Ob sie jetzt allerdings besser aussahen, war Ansichtssache – statt Staub und Fliegendreck wiesen sie jetzt schmierige Streifen auf, als hätte Amber sie mit der Zunge abgewischt. Voller Neugier nahm ich mir zwanzig Sekunden Zeit, um das Rätsel zu lösen. »Womit hast du die Fenster geputzt?«

»Mit Wasser und Seife«, entgegnete Amber.

»Nicht mit Glasreiniger?«

»Wir haben keinen.«

»Wie wäre es, wenn du fünf Dollar aus der Kasse nimmst und in der Mittagspause eine Flasche kaufst?«, schlug ich ihr vor.

»Oh«, machte Amber. »Na schön, wenn du meinst.«

»Ich meine es«, sagte ich. »Mr Hopu, kommen Sie gleich mit.«

Roeschen.tif

Ich fuhr nach der Arbeit direkt zu Rose. Mum kam aus dem Haus, um mich zu begrüßen, als ich mir einen Weg durch das Empfangskomitee der Hunde bahnte. Sie trug ein Paar verwaschene Jeans, dazu eines von Dads alten Buschhemden und hatte ihr helles Haar, das allmählich grau wurde, am Hinterkopf hochgesteckt. Meine Mutter ist ausgesprochen hübsch, fühlt sich aber am wohlsten, wenn sie sich wie eine Obdachlose kleiden kann. »Josie, Schatz«, sagte sie liebevoll.

Ich warf mich in ihre Arme, mit derselben Erleichterung wie ein kleines vierjähriges Mädchen, das sich im Kaufhaus verlaufen hat und von der Mutter wiedergefunden wird. Mum würde wissen, was hier zu tun war. »Ich freue mich so, dich zu sehen«, flüsterte ich an ihrer tröstlichen Schulter.

Sie tätschelte mir den Rücken. »Deine neue Frisur gefällt mir richtig gut, Liebes. Und Dad schickt dir liebe Grüße.«

»Ach ja?«, fragte ich skeptisch. Mein Dad ist zwar ein großartiger Mann, gehört aber zu den Menschen, die ihre Zuneigung mit einem Schulterklopfen zum Ausdruck bringen und der knappen Bemerkung: »Ist ja gut, Jo.«

»Er hat mir aufgetragen, dafür zu sorgen, dass du nicht zu schwer arbeitest und so viel Geld wie möglich aus diesem Mistkerl Graeme herauspresst.«

Ich lächelte. »Übt er immer noch ›Rhinestone Cowboy‹?«

»Nein, Gott sei Dank nicht. Er hat die Gitarre seit Wochen nicht angerührt; jetzt trainiert er mit Maurice von nebenan für ein Langstreckenradrennen.« Wir gingen den gepflasterten Weg zum Kücheneingang hoch. »Es ist herrlich. Seine Cholesterinwerte sind gesunken, er passt wieder in seine Lieblingshose, und ich muss das gottverdammte Geklampfe nicht mehr ertragen.«

»Dann ist ja alles gut«, sagte ich. »Wie geht es Rose heute?«

»Besser, behauptet sie«, erwiderte Mum. »Vermutlich lügt sie, aber du kennst ja Rose.«

Tante Rose war heute angezogen und hantierte in der Küche. Als Mum und ich wieder hereinkamen, fragte sie tief in den alten Kühlschrank gebeugt: »Josephine, bleibst du zum Dinner?«

»Was gibt es denn?«, fragte ich argwöhnisch.

»Ich mache eine Quiche.«

»Woraus?«

»Edith, es ist eine Schande, dass du es nie geschafft hast, deiner Tochter Manieren beizubringen.« Rose tauchte mit einem Stück Käse in der einen und einem halben Kohlkopf in der anderen Hand aus dem Kühlschrank auf.

»Ich denke dabei nur gerade an dein Marmite-Omelett«, verteidigte ich mich.

Roeschen.tif

Es wurde eine harmonische Mahlzeit. Wir tranken mit Rücksicht auf Rose alle Ginger Ale (Alkohol und Chemo vertrugen sich nicht, und sie sagte, abends auf Wein zu verzichten sei noch schlimmer, als die Übelkeit zu ertragen), und ich tauschte die Rolle der besorgten Pflegerin erleichtert gegen die eines Kindes ein, das aufbleiben und mit den Erwachsenen zu Abend essen darf. Nach der Quiche, die zum Glück nicht mit Marmite oder Oliven oder anderen seltsamen Zutaten zubereitet war, die Rose so gern in ihre Gerichte mischte, wusch ich ab, während die beiden anderen am Küchentisch saßen und den neuesten Klatsch austauschten.

Matt kam kurz vor dem Kaffee.

»Matthew«, rief meine Mutter in herzlichem Ton. »Ich könnte schwören, dass du noch ein Stück gewachsen bist. Komm her und gib mir einen Kuss.«

Er gehorchte. »Danke, dass du gekommen bist, Tante Edith.«

»Was höchst überflüssig war.« Rose hielt ihm die Wange hin, um sich ebenfalls küssen zu lassen. »Obwohl ich mich natürlich freue, dich zu sehen, Edie.«

»Du findest es vielleicht überflüssig«, gab Matt zurück, »aber es beruhigt Jo und mich, also musst du dich wohl damit abfinden.« Er kam zu mir zum Spülbecken und griff nach einem Geschirrtuch. »Hey, Jose.«

»Hey, Matt«, sagte ich. »Wo ist die Kröte?«

»Zu Hause. Schickt irgendeinem pickligen Jüngling eine SMS nach der anderen.«

»Aha.« Bei Rose gab es keinen Handyempfang. »Aaron – oder einem anderen pickligen Jüngling?«

»Der aktuelle heißt Jonno. Er arbeitet in der Mühle und hat ein Auto mit tiefergelegten Sitzen. Aaron gehört der Vergangenheit an.«

»Ein Arbeiter mit eigenem Auto«, sagte Mum gedehnt. »Das klingt gefährlich.«

»Nicht wahr?«, bestätigte Matt grimmig, dann sagte er zu mir gewandt: »Worüber amüsierst du dich denn klammheimlich?«

»Über dich. Matthew King, der gestrenge große Bruder. Dass ich nicht lache.«

»Erzähl, Kindchen«, bat Rose. »Ich hab schon lang vermutet, dass Matthew nicht immer das aufrechte, achtbare Mitglied der Gesellschaft war, das wir heute vor uns sehen.«

Das aufrechte, achtbare Mitglied der Gesellschaft warf mir einen drohenden Blick zu.

»Das geht nicht«, sagte ich. »Er würde mir alle Knochen brechen.«

Er grinste. »Pass bloß auf, was du sagst. Ich könnte da auch ein paar Geschichten erzählen …«

»Bitte nicht«, wehrte Mum hastig ab. »Ich möchte gar nicht wissen, was ihr in eurer wilden Jugend so alles getrieben habt.«

»Nichts Schlimmes«, versicherte ich ihr und stellte den letzten Topf aufs Abtropfbrett. »Ich war ziemlich langweilig, weißt du nicht mehr? Matt, wenn du dich hinsetzt, sehe ich mir mal deine Schulter an.«