Kapitel 31

AM MITTWOCHNACHMITTAG wuchtete Cheryl, die ihr blaues Waimanu-Physiotherapie-Hemd trug, um zwei Uhr neunundzwanzig einen riesigen, üppig verchromten Geländebuggy durch die Vordertür. »Hallo, Mädels«, sagte sie.

»Hi.« Amber kam hinter ihrem Schreibtisch hervor, um einen Blick auf das Baby zu werfen. »Hi, Max. Kann ich ihn spazieren fahren?«

»Aber gern«, erwiderte Cheryl. »Nur lackier ihm nicht wieder die Zehennägel – Ians Mutter hat fast einen Herzinfarkt bekommen. Jo, kannst du dir mal kurz meinen Rücken ansehen, bevor du gehst? Amber sagt, du kannst mich dazwischennehmen.« Sie ging vor mir her ins Behandlungszimmer und knöpfte ihr Hemd auf, ohne einen Gedanken an die offene Tür zu verschwenden. »T6, denke ich«, sagte sie über ihre Schulter hinweg. »Blockade des sechsten Brustwirbels.«

Ich folgte ihr in den Raum und schloss die Tür. »Du musst auf deinen Rücken achten, wenn du Max ins oder aus dem Auto hebst«, dozierte ich in bester professioneller Manier. »Setz die Knie ein und pass auf, dass du seine Babyschale erst mit der einen Seite und dann mit der anderen hineinschiebst.«

»Vielen herzlichen Dank. Da wäre ich von selbst nie draufgekommen.«

»Ein Glück, dass ich es dir sage. Hände auf die entgegengesetzte Schulter, bitte, und nach links kreisen lassen.« Cheryl gehorchte. »Links, nicht rechts!«

»Sei still, oder ich kürze dir das Gehalt. So rum geht es.«

»Stimmt. Jetzt andersherum. Himmel, da bewegt sich aber nicht viel.«

»Weswegen ich hier bin.«

»Ruhe. Beug dich vor.«

»Wie geht es Rose heute?«, fragte sie, als sie sich vornüberbeugte.

»Nicht sehr gut. Gestern war es etwas besser. Sie schrumpft zusammen, bis nichts mehr von ihr übrig ist, und wir können nichts tun, um ihr zu helfen – jetzt nach hinten.«

»Das tut mir so leid«, teilte Cheryl der Decke mit. »Wenn du mehr Zeit für ihre Pflege brauchst, werden wir uns etwas überlegen.«

»Danke«, sagte ich. »Du bist ein Schatz. Okay, leg dich auf den Rücken, und wir schauen, ob wir den kleinen Bastard freibekommen.«

»Ich führe solche Behandlungen normalerweise durch, wenn die Patienten auf dem Bauch liegen«, murrte sie.

»Ich nicht. Leg dich hin und hör auf, mit mir zu streiten.«

»Dein Umgang mit Kranken gibt mir zu denken«, knurrte sie, legte sich aber hin und verschränkte die Arme.

Ich stellte mich neben ihren Kopf, schob einen Arm unter sie und legte ihr den anderen quer über die Schultern. »Mecker nicht – du befindest dich in einer sehr verwundbaren Position. Einatmen … und wieder ausatmen.« Ich presste ihren Rücken auf den Tisch und vernahm ein überaus befriedigendes Knirschen. Patienten lieben befriedigende knirschende Geräusche; sie denken, sie bekommen tatsächlich etwas für ihr Geld. Physiotherapeuten aller Länder werden von Leuten geplagt, die glauben, Rückenbehandlungen wären das sofortige Allheilmittel für chronische Beschwerden und Kräftigungsübungen und eine verbesserte Haltung nur etwas für Verlierer.

»Das hätten wir«, stellte Cheryl zufrieden fest. »Gut, was muss ich über die nachmittägliche Kundschaft wissen?«

»Ich glaube, die Krankenakten sind alle auf dem neuesten Stand«, erwiderte ich. »Ich weiß nicht, ob du Paul Moss’ Knöchel verbinden solltest – er hat ihn sich vor ein paar Monaten böse verstaucht, und er ist gut geheilt, aber heute Morgen hat er angerufen und gesagt, er wäre schon wieder umgeknickt. Und wenn du es schaffst, Keith Taylor eine solche Höllenangst einzujagen, dass er seine Schulter endlich mehr schont, dann bist du besser als ich.«

»Ich versuche es«, sagte Cheryl, »aber ich habe das furchtbare Gefühl, dass ich seit der Geburt des Babys alles vergessen habe, was ich je wusste.« Sie setzte sich auf und hob versuchsweise die Schultern. »Na ja, wir werden ja sehen. Ab mit dir.«

Roeschen.tif

An diesem Abend nahm Matt Die Lady und der Pirat vom Nachttisch seiner Tante und betrachtete das Cover. »Dieses Kleid widerspricht allen Gesetzen der Physik.«

Ich blickte über seine Schulter hinweg auf das Bild eines unglaublich vollbusigen Mädchens, das halb über einem Mann lag, der seiner weißen Bluse und des Papageis auf seiner Schulter nach zu urteilen wohl der Pirat sein sollte. »Das Kleid ist das geringste ihrer Probleme. Sieh dir ihre Brüste an.«

»Das tue ich ja. Ich finde, sie sehen gut aus. Sehr … ansprechend.«

»Aber sie sitzen an der falschen Stelle«, wandte ich ein. »Wird in der Geschichte erwähnt, dass sie missgebildet ist, Tante Rose?«

»Seltsamerweise nein.« Sie verlagerte ihren Kopf auf dem Kissen.

»Tabletten?«, fragte ich. Die zusätzlichen Schmerztabletten, die sie nahm, wenn ihr Morphium seinen Zweck nicht erfüllte, machten sie extrem müde, daher machte sie nach Möglichkeit keinen Gebrauch davon.

Sie seufzte. »Das wäre wahrscheinlich besser. Heute Abend kann ich irgendwie überhaupt nicht bequem liegen.« Was hieß, dass die Schmerzen nahezu unerträglich waren. Diese gottverfluchte Krankheit!

Ich richtete sie auf, damit sie ihre Tabletten schlucken konnte, und Matt schüttelte das Kissen auf, bevor sie sich wieder zurücksinken ließ. »Soll ich dir etwas vorlesen?«, fragte er. Er zog The Oxford Book of English Verse über die Bettdecke zu sich heran.

Tante Roses Mundwinkel zuckten. »Wie wäre es mit ein paar Seiten aus dem Piratenbuch?«, schlug sie vor. »Ich bin sicher, es gefällt dir.«

Matt griff danach und hielt es auf Armeslänge von sich ab, als würde es einen üblen Geruch verbreiten. »Muss das sein?«, fragte er flehend.

Rose sah ihn streng an. »Betrachte es als Buße.« Sie hatte mir schon ausführlich auseinandergesetzt, was sie von anmaßenden jungen Leuten hielt, die sich von ihrer Arbeit freimachten und die Krankenbetreuung eigenmächtig umorganisierten, ohne die Patientin überhaupt zu fragen.

Ich rollte mich in dem Sessel am Fuß des Bettes zusammen und lauschte voller Vergnügen dem Gurgeln der Ölheizung und Matts Vortrag von Die Lady und der Pirat. (Die Frau als Lady zu bezeichnen, obwohl sie scheinbar die Moral einer Straßenkatze und den Sexualtrieb eines jungen Stiers hatte, kam mir etwas fehl am Platze vor, aber andererseits hörte sich Das Flittchen und der Pirat nicht annähernd so gut an.)

»›Mit vor Verlangen brennenden Augen‹«, las Matt mit wachsender Qual, »›fegte MacAdam mit einem Hieb seines starken rechten Arms die Becher vom Tisch, fasste das Mädchen um die schmale Taille und zog sie an sich. Ihrer Kehle entrang sich ein leises, halb aus Furcht, halb aus Begierde geborenes Schluchzen, als er den Kopf senkte und die Lippen um einen entblößten Nippel schloss …‹« Er legte das Buch weg und sah seine Tante bittend an. »Zwing mich nicht, weiterzulesen. Ich bin noch nicht alt genug dazu.«

Ich hörte auf, in ein Kissen zu kichern, und blickte auf. »Aber wir müssen herausfinden, was als Nächstes geschieht«, beschwerte ich mich. »Du kannst jetzt nicht einfach aufhören.«

»Oh doch, ich kann.«

Ich lachte. »Feigling.«

»Ich denke, du hast genug gelitten«, sagte Rose schläfrig. »Du darfst aufhören.«

»Danke.« Er legte das Buch verkehrt herum aufs Bett. »Seiner Tante diese Art Schund vorzulesen ist einfach nicht richtig.«

»Ungefähr so, als würde man mit seinen Großeltern Pornos gucken?«, schlug ich vor.

»Wie kommt es, dass jede Generation sich einbildet, diejenige zu sein, die den Sex erfunden hat?«, murmelte Rose. »Und jetzt geht und lasst mich schlafen.«

Ich rückte das Wasserglas und die Tischglocke in ihre Reichweite. »Du klingelst, wenn etwas ist, ja?«

»Sicher«, flüsterte sie. »Geh jetzt, Josephine – der Junge braucht seinen Schlaf, und er wird nicht nach Hause fahren, bevor du ihm einen Gutenachtkuss gegeben hast.«

Als ich in die Küche kam, lag er auf der Chaiselongue und blickte mit hinter dem Kopf verschränkten Armen zu dem Greif auf. »Hey.« Er lächelte mich schläfrig an.

Ich setzte mich neben ihn und beugte mich vor, um ihn zu küssen. »Du solltest nach Hause fahren und dich ins Bett legen.«

»Es ist erst halb neun. Um neun sehe ich noch einmal nach den Kühen.« Er rollte sich auf die Seite, hakte den Zeigefinger seiner freien Hand in den Bund meiner Jeans und zog ihn ein paar Zentimeter hinunter.

»Was machst du da?«, erkundigte ich mich.

»Nur nachsehen, ob du den pinkfarbenen Spitzenslip trägst.« Er spähte nach unten. »Nö. Schade.«

»Den hatte ich gestern an.«

»Ist mir gar nicht aufgefallen.«

»Freut mich«, sagte ich, und dann: »Schatz, wie wäre es, wenn du das unterlässt?«

Er grinste, als er den zweiten Knopf meiner Jeans öffnete. »Du magst es.«

»Es wäre mir lieber, wenn uns deine kleine Schwester nicht dabei überrascht, wie du mir die Jeans ausziehst.«

»Ach ja.« Er knöpfte meine Hose wieder zu, streckte sich auf der Chaiselongue aus und zog mich an sich.

Ich schmiegte mich eng an ihn und benutzte seinen Arm als Kissen. »Stu hat behauptet, du hättest interessiert ausgesehen, als er den pinkfarbenen Slip erwähnt hat, aber ich habe ihm nicht geglaubt«, bemerkte ich.

»Er hatte recht.« Matt streichelte mit der freien Hand leicht meinen Arm.

»In seinen E-Mails bezeichnet er dich als ›den göttlichen Matthew‹.«

»Ich weiß nicht recht, wie ich das verstehen soll.«

»Du solltest dich geschmeichelt fühlen. Stu fühlt sich nur zu gutaussehenden Männern hingezogen. Er ist furchtbar oberflächlich.«

Eine schläfrige Stille trat ein. Ich lag in seinen Armen und war rundum zufrieden. Die Scheite im Ofen knackten, und Spuds Rute klopfte ein oder zwei Mal auf den Boden, wenn er sich rührte und dann wieder einschlief. Ich spürte, wie Matts Brust sich hob und senkte, und seine rechte Hand ruhte warm auf meinem Bauch.

»Haben dich alle in Australien JD genannt?«, fragte er plötzlich.

»Eigentlich nur Stu«, erwiderte ich. »Und Graeme manchmal, wenn er besonders zufrieden mit mir war. Was nicht oft vorkam, wenn ich so darüber nachdenke.«

»Was hatte er denn an dir auszusetzen?«

Ich seufzte. »Kindischer Humor, das Brotmesser benutzen, um Käse zu schneiden, Nägel kauen, Jeans mit Löchern tragen, Angst davor haben, sich Ohrlöcher stechen zu lassen – solche Sachen eben.«

»Das Leben mit ihm muss ja ein Heidenspaß gewesen sein.«

»Ich übertreibe«, räumte ich ein. »Aber die letzten paar Monate waren alles andere als lustig.« In gewisser Weise war es eine Erleichterung gewesen, Graeme und Chrissie in flagranti zu ertappen. Es ist furchtbar, zu wissen, dass man dem Menschen auf die Nerven geht, der einen eigentlich lieben sollte, und keine Ahnung zu haben, warum sich alles geändert hatte oder wie man es wieder in Ordnung bringen könnte. Zumindest hatte das alles erklärt.

Matt sagte nichts, aber sein Arm schlang sich fester um meine Taille.

Ich wollte ihm erklären, dass das alles nicht wichtig war – dass Graeme und mich selbst zu unserer besten Zeit nicht die Art von Liebe verbunden hatte, von der die Dichter träumen; dass es außer Stu und Schuhgeschäften in Melbourne nichts gab, was ich vermisste. Aber er atmete tief aus, und sein Griff lockerte sich, als er in den Schlaf hinüberglitt. Wenn man mit einem Milchfarmer im August eine Unterhaltung führen will, empfiehlt es sich, nicht länger als dreißig Sekunden Schweigen aufkommen zu lassen. Außerdem wusste er all diese Dinge ohnehin schon. Ich verflocht meine Finger mit den seinen und schloss ebenfalls die Augen.

Roeschen.tif

»Matthew Patrick!«, schrillte Hazel.

Ich schaltete augenblicklich von tief schlafend auf wacher als je zuvor in meinem Leben und sprang auf. Das erwies sich als Fehler; aufgrund des abrupten Wechsels von Horizontaler zu Vertikaler wurde mir schwarz vor Augen, und ich musste mich gegen den Tisch lehnen und den Kopf mit den Händen umfassen.

Matt bewies weitaus stärkere Nerven und litt überdies unter größerem Schlafmangel – er sprang nirgendwo hin, sondern runzelte nur die Stirn, öffnete ein Auge einen Spaltbreit und fragte: »Was ist?«

»Was tust du da?«, kreischte seine Mutter.

»Schlafen«, murmelte er und schlug das andere Auge auf. »Hi.«

»Und was würde Cilla wohl denken, wenn sie das sähe?«

»Oh, um Himmels willen«, stöhnte Matt. Er setzte sich auf, fuhr sich mit beiden Händen von hinten nach vorn durchs Haar und sah nun aus wie der exzentrische Professor aus Zurück in die Zukunft. »Ich habe Cilla seit Wochen nicht mehr gesehen.«

»Oh, Matthew«, jammerte seine Mutter. »Dieses entzückende Mädchen.« Und dann legte die Frau ihr schickes schwarzes Täschchen auf den Tisch neben mir und rang doch tatsächlich die Hände.

Ich kämpfte gegen einen äußerst unangemessenen Lachreiz an und musste mir fest auf die Unterlippe beißen. Matt wechselte über den Kopf seiner Mutter hinweg einen Blick mit mir und sagte betont ernst: »Keine Angst, Mutter. Diese hier ist auch entzückend.«

»Ja, natürlich«, erwiderte Hazel mechanisch, sank aber auf einen Stuhl, als könne sie sich unter der Wucht dieses Schlages nicht mehr auf den Beinen halten. »Ach, Matthew, ich wünschte, du würdest eine Familie gründen und sesshaft werden, anstatt von Mädchen zu Mädchen zu flattern.«

»Wie ein Schmetterling von Blume zu Blume?«, warf ich hilfsbereit ein.

»Pass auf, was du sagst«, befahl die Liebe meines Lebens und funkelte mich in einem wenig erfolgreichen Versuch, nicht zu lachen, finster an. »Keine Sorge, meine Flatterzeiten sind vorbei.«

»Du darfst nicht vergessen, dass du jetzt das einzige männliche Vorbild bist, das deine Schwester noch h … hat.« Bei diesem Hinweis auf ihren verstorbenen Mann zitterte ihre Stimme wirkungsvoll. »Es ist nicht gut für sie, mit anzusehen, dass du Mädchen aufsammelst und wieder wegwirfst wie …« Sie brach ab, um nach einem passenden Vergleich zu suchen, und ich widerstand dem Drang, ihr dabei auf die Sprünge zu helfen. Avocados vielleicht; man musste jede einzelne prüfend betasten, um eine im perfekten Reifezustand zu ergattern. Oder Jeans – das richtige Paar zu kaufen ist ein heikles Unterfangen, und der erfahrene Käufer rechnet damit, eine ganze Reihe anprobieren zu müssen, bevor er eine gut sitzende findet.

»Mach mal halblang, Mum«, sagte Matt. »Wer dich so hört, muss ja denken, ich hätte die letzten zehn Jahre damit verbracht, jede Frau im Distrikt zu verführen.«

»Und? Hast du?«, fragte ich interessiert.

Er bedachte mich mit einem vernichtenden Blick.

»Natürlich warst du nur vier davon zu Hause«, murmelte ich.

»Stimmt.« Matt stand auf und reckte sich. »So, und jetzt gehe ich besser und sehe nach meinen Kühen. Gute Nacht.«

»Du brauchst nicht davonzulaufen, Matthew«, rügte ihn Hazel.

»Das tue ich auch gar nicht«, erwiderte er knapp. »Ich sehe nach den Kühen und gehe dann schlafen.« Er küsste seine Mutter auf die Wange und dann mich auf den Mund, ein kurzer, harter Kuss, nur dazu gedacht, ein Zeichen zu setzen. »Bis morgen.«

»Gute Nacht«, sagte ich, als er die Hintertür öffnete.

»Nacht«, sagte er zu mir. »Nacht, Mum.«

»Gute Nacht, mein Lieber.« Sie sah zu, wie er die Tür hinter sich schloss, dann wandte sie sich mit einem leisen, traurigen Lächeln an mich. »Sollen wir jetzt nach Rosie schauen?«

»Es geht erst seit ein oder zwei Tagen so«, erklärte ich aus einem Impuls heraus. »Wir haben nichts hinter deinem Rücken getan.«

Ihr Lächeln wurde noch trauriger. »Danke, Liebes«, sagte sie, und ich kam mir prompt wie ein elender Wurm vor. Das ist das Bemerkenswerte an Hazel: Man konnte sie für die dümmste Frau auf Gottes Erdboden halten, aber sie kann trotzdem auf ihren Mitmenschen spielen wie auf einem Instrument. Es ist eine echte Gabe.