Kapitel 14

Die Nacht, bevor Matt nach Schottland ging

Vom Schlafzimmer am Ende des Flurs aus hörte ich jemanden an die Tür hämmern, gefolgt von der nörgelnden Stimme meines Mitbewohners Neil: »Ich komm ja schon, mach nicht so einen Aufstand!« Dann: »Jo! Besuch für dich!«

Ich markierte die Stelle in Pathologie des Rückgrats, wo ich aufgehört hatte zu lesen, mit einem Kugelschreiber und wälzte mich von meinem Bett.

Neil hatte das Interesse an dem Gast verloren und ließ ihn einfach im Flur stehen. Ein riesiger Seesack lehnte neben ihm an der Wand.

»Matt!«, rief ich.

»Hey, Jose.« Er grinste mich an. »Ich fliege morgen früh – kannst du mich heute Nacht hier unterbringen?«

»Na klar.« Ich schlang ihm die Arme um den Hals und drückte ihn an mich. »Mann, hast du Muckis bekommen!«

»Danke für das Kompliment.« Er löste sich von mir und hievte sich seinen Seesack auf die Schultern. Sein Glück, dass er Muskeln entwickelt hatte, wenn er das schwere Ding mehr als ein paar Meter weit schleppen wollte.

Ich führte ihn den Flur hinunter. »Du kannst dein Gepäck in meinem Zimmer lassen. Wo willst du denn morgen hin?«

»Nach Schottland.«

»Waaas?«

»Ich habe ein Stipendium für ein landwirtschaftliches Austauschprogramm bekommen. Sechs Monate auf einer Schaffarm in Schottland, dann kommt Scotty rüber, und anschließend wollen wir noch eine Weile durch Europa und den Nahen Osten reisen.« Er ließ den Seesack direkt hinter meiner Schlafzimmertür zu Boden plumpsen.

»Du machst mit Scotty Europa unsicher«, sagte ich. »Ich glaub, mich laust der Affe. Möchtest du was Kaltes zu trinken?«

»Keine schlechte Idee«, gab Matt zurück.

Ich holte uns beiden ein Bier, und wir tranken es draußen im fahlen Wintersonnenschein. »Nicht auf den«, warnte ich, als er einen schmuddeligen Klappstuhl heranzog. »Da hat letztes Wochenende irgendjemand draufgepinkelt.«

»Warum wäscht du ihn nicht ab?«

Ich zuckte die Achseln. »Irgendwann regnet es schon mal wieder. Hier.« Ich schob einen unbesudelten Stuhl in seine Richtung, bevor ich mich aufs Verandageländer setzte.

»Deine Reinlichkeitsmaßstäbe sind gesunken«, bemerkte er.

»Ich wohne mit drei Chaoten zusammen. Also musste ich mich entscheiden, ob ich ständig hinter ihnen herputze und dabei verbittert und verschroben werde oder ob ich mich selber in eine Chaotin verwandle und mir meine gute Laune bewahre, also habe ich die Kombination schlampig und fröhlich gewählt.«

»Ein weiser Entschluss«, lobte Matt.

Ich schielte wiederholt über meine Bierflasche hinweg zu ihm hinüber und stellte fest, dass er beunruhigend attraktiv geworden war.

Es war Freitag, und ein paar von Neils Freunden veranstalteten an diesem Abend eine Wohnungseinweihungsparty. Als die Sonne hinter dem hohen Holzzaun des Nachbarhauses unterging, zogen wir von der Veranda in das unordentliche Wohnzimmer um, bestellten etwas Thailändisches zum Abendessen und schlenderten dann die Straße zu dem Haus hinunter, in dem die Party stattfand.

Soweit ich mich erinnere, war es keine besonders unterhaltsame Party. Eine Clique aus Journalistikstudenten in Wildledermänteln und handbemalten Doc Martens hatte das Wohnzimmer mit Beschlag belegt, und eine weitere Runde kippte auf dem hinteren Rasenstück einen Drink nach dem anderen. Zuzuschauen, wie jemand sich in sein Glas übergibt und dann versucht, weiterzutrinken, ist ein zweifelhaftes Vergnügen, und die Journalistikstudenten ließen auf der Stereoanlage sehr laute indonesische Musik laufen.

Als ich irgendwann um Mitternacht herum in die Küche kam, stieß ich dort auf Matt; er lehnte am Kühlschrank und versuchte, sich ein sturzbetrunkenes Mädchen in einem knallgrünen Polyesterkleid und braunen Strumpfhosen vom Hals zu halten. Sie sah aus wie ein wandelnder Baum.

»Jo«, sagte er mit nur einem leisen Anflug von Verzweiflung in der Stimme. »Bier?«

»Ich hatte eigentlich vor, nach Hause zu gehen«, erwiderte ich.

»Ich komme mit. Nett, dich kennengelernt zu haben.« Er stellte seine Dose Rheineck beiseite (bei weitem das Beste, was man mit einer warmen Dose Rheineck tun kann) und floh mit mir zur Vordertür hinaus.

»Wolltest du wirklich mitgehen, oder hast du nur die Flucht ergriffen?«, fragte ich.

»Ich wollte gehen. Und außerdem solltest du nachts nicht allein durch Auckland laufen.«

Die Luft war kühl, und wir beschleunigten unsere Schritte. »Hier draußen ist es viel schöner«, sagte ich, dabei vergrub ich die Hände zum Warmhalten in den Taschen meiner Jeans.

»Mhmm«, stimmte er geistesabwesend zu. »Deine Mitbewohner sind in Ordnung, Jose.«

»Ja, das finde ich auch.«

»Dieser Neil scheint ein netter Kerl zu sein.«

»Yeah«, nickte ich. »Das ist er wirklich.« Und nur für den Fall, dass er auf den Gedanken kommen könnte, ich hätte privates Interesse an Neil, fügte ich beiläufig hinzu: »Seine Freundin ist auch sehr nett. Sie ist über das Wochenende zu ihren Eltern in den Norden hochgefahren.«

Matt erwiderte nichts darauf, und wir gingen schweigend weiter. Als wir die Verandastufen zur Hintertür hochstiegen, kramte ich in meiner Hosentasche nach dem Schlüssel und sagte, als ich ihn ins Schloss schob, in einem ziemlich kläglichen Versuch, lässig zu wirken: »Du kannst auf der Couch schlafen oder meine andere Betthälfte belegen – ganz wie du willst.«

»Dann hätte ich gern die Betthälfte.«

Als ich nach der Türklinke griff, nahm er meine freie Hand und hielt sie fest. Er hatte große, raue Hände voller Schwielen, die von der letzten Woche stammten, als er neue Tore eingehängt hatte. Patrick King stellte für die Zeit der Semesterferien gern Listen kleinerer Arbeiten für seinen Sohn auf, mit deren Erledigung Matt ungefähr fünf Minuten nach seiner Ankunft zu Hause beginnen musste.

Bleib cool, ermahnte ich mich energisch. Er ist dein Freund, sonst nichts. »Möchtest du vielleicht einen Kaffee oder sonst etwas?«

»Nein, danke.« Er schloss die Tür hinter uns. Und in dem schwachen orangefarbenen Schein einer Straßenlaterne, der durch die Fenster im Flur fiel, nahm er mein Gesicht zwischen seine Hände und küsste mich.

Gott sei Dank, dachte ich. Es ist also doch nicht einseitig. Ich schlang die Arme um ihn und erwiderte seinen Kuss.

Mit einundzwanzig beschränkten sich meine romantischen Erfahrungen darauf, mit sechzehn auf dem Parkplatz der Waimanu Highschool Tane Jones geküsst zu haben (direkt danach hatte ich mich über seine Schuhe übergeben, weil ich eine Unmenge widerlichen Wodkas, gemixt mit noch ekelhafterem Orangensaft, in mich hineingeschüttet hatte), und einen schrecklichen Monat lang mit Marcus, einem sehr netten Jungen aus meiner Klasse, an dem mir nicht das Geringste lag, ausgegangen zu sein. Nachdem ich die Beziehungen und Liebschaften meiner Mitbewohner und Freunde scharf beobachtet hatte, war ich zu dem Schluss gekommen, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte. Da ich nicht aus moralischen Gründen auf Sex verzichtete, hätte ich doch sicher welchen haben müssen. Ich ging zweimal pro Woche aus und traf Scharen von Jungen meines Alters, und wenn ich trotzdem niemanden fand, mit dem ich ins Bett gehen wollte, war ich wohl auf dem besten Weg, eine einsame, exzentrische alte Jungfer zu werden.

Matt zu küssen ließ sich nicht im Entferntesten damit vergleichen, dasselbe mit dem netten, aber wenig begehrenswerten Marcus zu tun. Er schmeckte schwach nach Bier, war kräftig und muskulös, und sein Mund presste sich heiß auf den meinen.

»Jo«, stieß er nach einer Weile hervor, nachdem er seine Lippen von meinen gelöst hatte.

»J… ja?«

»Das wollte ich schon den ganzen Abend lang tun.«

»Dann hör nicht auf damit«, erwiderte ich atemlos und zog ihn den Flur entlang zu meinem Zimmer.

»Okay.« Und dann etwas später: »Hey …«

Ich zog meine Hand von der harten Wölbung seiner Jeans weg und errötete im Halbdunkel. »Sorry.«

»Ich mag das«, murmelte er. »Wirklich. Aber ich muss morgen nach Schottland.«

»Sorry«, wiederholte ich verlegen. »Du brauchst noch ein bisschen Schlaf.«

Er nahm mich bei den Schultern und schüttelte mich sanft. »Schlaf ist das Letzte, was mich jetzt interessiert. Aber wir sehen uns vielleicht ein paar Jahre lang nicht wieder.«

»Warum hast du mich dann geküsst?«, fragte ich. Der Konsum von sechs Flaschen Bier hatte mich mutig gemacht.

»Ich konnte nichts dagegen tun.«

»Das freut mich.« Ich reckte mich und küsste ihn erneut.

»Gott, Josie, bist du schön«, sagte er zittrig. Dann verlor er den kurzen Kampf mit seiner edelmütigen Zurückhaltung und schob seine großen, warmen Hände unter mein enges Top.

Dieses Gefühl ließ sich absolut nicht mit dem Gefummel des netten Jungen an meinen Brüsten und seinem Grunzen an meinem Hals vergleichen, das ich während einiger, barmherzigerweise kurzen, Begegnungen erlebt hatte. Diese waren eher peinlich gewesen, und ich hatte nie gewusst, ob ich versuchen sollte, zu keuchen und mich zu winden, oder besser liegenbleiben und abwarten sollte. Meistens entschied ich mich für ein Mittelding aus beidem und fühlte mich am Ende entmutigt und wie eine Betrügerin.

Matt spielte in einer ganz anderen Liga. Er drückte mich sacht aufs Bett, legte sich zu mir, streifte mir zwischen Küssen die Kleider ab und ließ eine Hand zwischen meine Beine gleiten.

»Matt …«, flüsterte ich, als ich mich ihm entgegenhob.

»Okay?«

»Ja – komm her.« Ich kämpfte mit seinem Gürtel.

»Lass mal«, murmelte er, die Lippen auf meinen Mund gepresst. »Ich mach das schon.« Dann: »Jose, wenn du nicht damit aufhörst, kann ich für nichts garantieren.«

»Das war die Idee dabei.«

Er lachte, nahm meine Hände zwischen die seinen und hielt sie fest, dann legte er den Mund über meine rechte Brust.

»Matt!«

»Gefällt dir das nicht?«

»Himmel, doch! Hast du Kondome dabei?«

Er gab mich frei, zog sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche seiner Jeans und entledigte sich mit annähernder Lichtgeschwindigkeit seiner restlichen Sachen. Ich setzte mich auf, nahm ihm das Kondom aus der Hand und riss die Folie auf. Er nahm es mir lachend wieder ab und streifte es sich über. Ich zog ihn zu mir herunter, schlang die Beine um seine Hüften und nahm mir den Bruchteil einer Sekunde Zeit, meinem Schöpfer zu danken, dass ich sie mir an diesem Morgen rasiert hatte. »Mach langsam«, flüsterte er.

»Kann ich nicht. Ich meine, will ich nicht.«

»Kann ich dir nicht verdenken«, brummte er und schlang die Arme fest um mich. »Ich auch nicht.«

Danach lag ich flach auf dem Rücken, betrachtete den zickzackförmigen Riss in der Decke und versuchte, meinen Atem zu beruhigen.

Matthew setzte sich auf und sah auf mich herunter. »Wollen wir unter die Decke kriechen?«, schlug er vor.

»Würde ich ja gern, aber ich glaube, ich kann mich nicht von der Stelle rühren.«

»Ist das gut oder schlecht?«

»Gut.« Ich stützte mich mit einiger Mühe auf den Ellbogen, und er beugte sich zu mir und küsste mich sanft. »Matt?«

»Ja?«

»Danke.«

Er küsste mich noch einmal. »Gern geschehen.« Dann seufzte er. »So ein Mist, dass ich nach Schottland muss.«

»Wann musst du los?«

Er warf einen Blick auf meinen kleinen Wecker. »In ungefähr sieben Stunden.« Er zog an der Ecke des Deckbetts, und ich rollte mich zur Seite, damit er es unter mir wegziehen konnte. Wir kuschelten uns darunter, und ich lehnte die Stirn gegen seine Schulter.

»Wir haben uns den denkbar schlechtesten Zeitpunkt ausgesucht«, stellte ich betrübt fest.

Er legte den Arm fester um mich. »Wir haben noch sieben Stunden«, widersprach er.

Wir verbrachten sie damit, zu reden, kurz einzunicken und die restlichen drei Kondome in seinem Portemonnaie aufzubrauchen. Dann standen wir auf, ich fuhr ihn zum Flughafen, setzte ihn am Abflugterminal für internationale Flüge ab (»Komm nicht mit rein, Jose, das macht alles nur noch schlimmer«) und machte mich dann wieder auf den Heimweg. Ich musste von der Autobahn abfahren, in einer Seitenstraße parken und mir eine halbe Stunde lang die Augen ausweinen, um mich oder die anderen Verkehrsteilnehmer nicht in Gefahr zu bringen. Und ich erinnere mich dunkel, dass ich in einer Straße gelandet war, in der ein ununterbrochener Strom von Fußgängern direkt an meinem Auto vorbeiflutete. Allerdings war ich zu sehr mit mir und meinem Elend beschäftigt, als dass ich mich daran gestört hätte.

Roeschen.tif

Matt verbrachte fast fünf Jahre im Ausland. Meine Quellen (soll heißen: Clare, deren Bruder sich zur selben Zeit in London aufhielt) informierten mich, dass er ständig Partys feierte und eine Freundin nach der anderen verschliss. Nach einem oder zwei Jahren entschied er, lieber etwas mehr von Europa zu sehen als ein paar Kneipen. Er ging auf Reisen – fuhr in Frankreich Traktoren über die Felder, bediente in der Schweiz Skilifte, und letztendlich verschlug es ihn sogar nach Korfu, wo er ein Jahr lang ein Hotel leitete.

Ich war nicht annähernd so abenteuerlustig. Ich hatte vor, ein Jahr oder zwei zu arbeiten und dann die Welt zu erkunden und dabei eine Art Selbstfindungsprozess zu durchlaufen, aber dazu kam es nie. Ich machte mein Physiotherapeutendiplom und absolvierte dann ein Jahr lang ein Praktikum im Middlemore Hospital in Auckland. Dort verliebte ich mich heftig in einen rotblonden Anästhesisten und brachte es schließlich nur zu einer Privatpraxis in Greenlane.

Matt und ich telefonierten gelegentlich miteinander, aber ich sah ihn erst bei der Beerdigung seines Vaters wieder. Anschließend blieb er zu Hause und übernahm die Farm, und ich zog einen Monat später mit meinem Freund Nummer zwei nach Melbourne.

In all den Jahren hatten wir nie über diese Nacht gesprochen; vermutlich hatte sie Matt so wenig bedeutet, dass er sie vergessen hatte. Was auf mich ganz und gar nicht zutraf.