Boten in die Freiheit
Während die beiden Geretteten im Schlaf neue Kräfte fanden, holte Freitag ein Lama und schlachtete es. Mit Gerste und Reis ließen sie das Fleisch langsam kochen und bereiteten so ein kräftiges Gericht. Als das Essen fertig war, trugen sie es in das Zelt und setzten die Schüsseln auf den Tisch. Alle vier nahmen nun Platz, denn der Spanier und Freitags Vater waren inzwischen durch den Schlaf sehr erfrischt und ließen sich nicht vergeblich auffordern, der schmackhaften Speise zuzusprechen. Dabei war Freitag der Dolmetscher für seinen Vater und für Robinson, denn Robinson verstand die Sprache der Wilden nicht. Für Robinson war es wichtig, von Freitags Vater zu hören, was er von den im Kanu entkommenen Wilden halte. »Ist wohl zu befürchten, daß sie mit großer Verstärkung zurückkehren, um uns zu überfallen und den Tod ihrer Stammesgenossen zu rächen?« ließ er durch Freitag fragen.
Der Vater gab eine klare Antwort. »Ich glaube sicher, daß das Boot in dem aufkommenden Sturm untergegangen ist. Aber selbst wenn es dem Unwetter getrotzt hat, so ist es sehr wahrscheinlich, daß es weiter südlich verschlagen werden ist, und dort bei den Menschenfressern verlieren die drei Flüchtlinge ihr Leben ebenso sicher, wie wenn sie ertrunken wären. Sollten sie aber wider alles Erwarten doch glücklich zu den Ihren zurückkommen, so sind sie niemals imstande, den Überfall wirklichkeitsgetreu zu schildern. Denn der Knall und das Feuer der Gewehre hat sie fast um ihren Verstand gebracht. Sie werden ihren Stammesbriidern berichten, ihre Gefährten seien durch Blitz und Donner ums Leben gekommen. Robinson und Freitag sind, so bilden sie sich ein, zwei überirdische Geister.«
Diese Gedanken wußte der einfache Wilde in seiner Sprache klar auszudrücken. Wie die Kamübalen Robinson und seinen Gefährten beurteilten, hatte er während des Gefechts aufgeschnappt. Sie begriffen nicht, daß ein Mensch Feuer schießen und Donner sprechen lassen könne, und, ohne die Hand zu erheben, aus der Ferne andere Menschen zu erschlagen vermöge.
Diese Aussage des Alten leuchtete Robinson ein, und da sich keine Kanus zeigten, beruhigte er sich.
Wieder tauchte für ihn die Frage der Heimkehr auf.
»Wie wäre es«, ließ er den Alten fragen, »wenn wir zum Festland segeln würden?«
Freitags Vater stimmte sogleich zu. »Das ist ohne Gefahr durchführbar«, sagte er, »denn bei unserem Volk werdet ihr freundlich aufgenommen werden. Um meinet- und um Freitags willen wird man euch nur Gutes erweisen.«
Was Robinson bewegte, war das Gefühl der Verpflichtung gegenüber den sechzehn Spaniern, die mit Christianus ans Festland zu den Wilden verschlagen worden waren.
Es war ein Schiff seiner Heimat, berichtete der Spanier, das von Rio de la Plata nach Havanna segelte. Als Ladung führte es Häute und Silber. Unter unsagbaren Strapazen gelangten sie mit zerfetzten Segeln an die Karibische Küste. Jede Möglichkeit zu fliehen, erklärte der Spanier, würden die Leute dankbar ergreifen.
Robinson vernahm dies gern, doch zugleich ergriff ihn Sorge, ein solches Wagnis auf sich zu nehmen. »Was aber«, sagte er, »wenn diese sechzehn Mann rebellisch Werden? Dankbarkeit ist nicht von Dauer auf dieser Welt. Jeder Mensch denkt an seinen Vorteil. Soll ich diesen Männern die Freiheit schenken, um dann hinterher ihr Gefangener zu werden? Ein Engländer, der durch Not oder auch durch Zufall nach Neuspanien kommt, hat sein Leben verspielt. Da will ich lieber«, schloß Robinson, »den Wilden in die Hände fallen und bei lebendigem Leib aufgefressen werden, als mich durch Weiße vor das schreckliche Inquisitionsgeridnt stellen zu lassen.«
Der Spanier schüttelte abwehrend den Kopf.
»Andererseits ergäbe sich mit einer starken Mannschaft natürlich die Möglichkeit, ein seetüchtiges Schiff zu bauen, mit dem man entweder südwärts nach Brasilien oder nordwärts zu den spanischen Inseln gelangen könnte. Kann ich’s aber verantworten« — wieder kamen Robinson Zweifel —, »fremden Menschen Waffen in die Hand zu geben? Wenn sie mich gefangen zu ihrem eigenen Volk bringen, so wäre das ein übler Dank für meine Tat, und es wäre besser, wenn ich hierbliebe, obgleich meine Lage hier nicht gerade beneidenswert ist.«
Der Spanier nickte zustimmend. »Ich verstehe Ihre Einstellung. Aber meine Gefährten befinden sich in einer so erbärmlichen Lebenslage, daß sie für ihre Befreiung auf Knien danken und jeden Verrat mit Entrüstung zurückweisen würden. Ich möchte mit Freitags Vater zum Festland hinüberfahren. Jeder meiner alten Gefährten soll einen feierlichen Treueid schwören, genau wie ich Ihnen Treue gelobe!«
Mit diesem Vorschlag war Robinson einverstanden. »Es sind lauter anständige Kerle«, fuhr Christianus beteuemd fort. »Und außerdem sind alle in größter Not und ohne Hoffnung, ihre Heimat jemals wiederzusehen. Sie werden, davon bin ich überzeugt, sich für ihren Retter voll und ganz einsetzen, genau wie ich es tun werde.«
Da beschloß Robinson, ihn mit Freitags Vater zum Festland hinüberzuschicken. Beide überlegten sich, daß Robinsons Vorräte nicht für alle seine Landsleute, von denen er noch vierzehn am Leben glaubte, ausreichen würden. Auch für die lange Seereise zu einer der Kolonien in Westindien, für die sie dann gemeinsam ein Schiff bau wollten, mußte man die notwendigen Lebensmittel bereitstellen.
»Wir sollten vorher die Felder vergrößern«, erklärte Robinson, »und so viel Getreide anbauen, daß kein Mangel entsteht und keiner hungern muß.«
Sogleich geschah alles, um die Vorräte zu vergrößern. Sie gruben und pflügten so viel Land um, daß sie achtundachtzig Pfund Gerste und sechzehn Krüge Reis benötigten, um die Felder zu bestellen. Eine Unmenge Trauben wurden geerntet, und als bald die Getreideernte begann, brachten die vier Inselbewohner neun Zentner Gerste ein und einhundertsechzehn Krüge Reis.
»Diese Menge«, erklärte Robinson zufrieden, »reicht ohne weiteres aus, uns und die vierzehn Spanier hinreichend mit Proviant zu versorgen.«
Damit gab er dem Spanier die Erlaubnis zur Abfahrt. »Sie bringen aber keinen Mann mit«, schärfte er ihm nochmals ein, »der nicht in Ihrer Gegenwart einen Eid abgelegt hat, mir als dem Befehlshaber dieser Insel unbedingten Gehorsam zu leisten!«
Die beiden bekamen zum Abschied Munition mit, außerdem zu ihrer Verpflegung Brot und Trauben, die für eine Woche reichten.
Bei gutem Wind fuhren sie ab.