Lehrer und Schüler

Niemals in den vielen langen Jahren hatte Robinson sich auf seiner Insel so wohl gefühlt wie jetzt, da das Schicksal ihm einen Gefährten geschenkt hatte. Freitag war von einer erstaunlichen Gelehrigkeit und fing bald an, sich mühelos mit Robinson zu unterhalten. Er wußte die Namen aller Dinge, mit denen sie beide zu tun hatten, und Robinson konnte ihn an jede Stelle der Insel schicken, denn er kannte die Ortsbezeichnungen so gut wie sein Herr. Robinson war glücklich, daß er nun endlich wieder mit einem Menschen reden konnte.

»Hast du eigentlich gar keine Sehnsucht nach deinen Landsleuten?« fragte er Freitag einmal.

»Nein, ich bin gern bei dir, denn ich gehöre ja hierher.«

Robinson ließ ihn von seiner Heimat berichten und hörte von den Gebräuchen seiner Landsleute, die genauso kannibalisch lebten wie die Wilden, aus deren Hand Robinson ihn errettet hatte. Und mit nicht geringem Entsetzen vernahm Robinson, daß Freitag, der so friedlich neben ihm saß, zu den Wilden gehörte, die mehrfach an der Südspitze seiner Insel gelandet waren, um dort Menschen aufzufressen. Als Robinson gemeinsam mit ihm die grausige Stätte aufsuchte, erkannte Freitag den Platz sogleich wieder.

»Ich war damals mit vielen meines Stammes hier. Wir haben bei jedem Fest zwanzig Männer, zwei Frauen und ein Kind verzehrt«, erklärte er ungerührt. Robinson wandte sich schaudernd ab.

So grausig der Anlaß jener Fahrten war, so riefen sie in Robinson doch wieder den Gedanken wach, der ihn schon in den ersten Tagen auf der Insel bewegt hatte. Es mußte also möglich sein, im Boot zum Festland hinüberzugelangen.

»Sind denn schon mal Kanus bei diesen Überfahrten untergegangen?« fragte er.

Freitag verneinte. Die Fahrten seien fast ganz ohne Gefahr. Nie habe man eines der kleinen Fahrzeuge eingebüßt.

So wuchs in dem seit Jahrzehnten auf der Insel verhannten Robinson von neuem der Wunsch, endlich den Weg in die Freiheit zu finden.

»Wer hat eigentlich dich geschaffen, wer die Erde und das Meer die Berge und die Wälder?«

»Es ist Benamuckee«, erwiderte Freitag ernst. »Er ist uralt und lebt länger als Erde und Meer, Berge und Wälder.« Das war sein Glaube, und nach dem Volksglauben seiner Landsleute kommen alle Menschen nach ihrem Tod zu diesem großen Benamuckee.

Robinson benutzte jede Gelegenheit, den ungebildeten Wilden in der christlichen Religion zu unterweisen. Er sprach von der Schöpferkraft, von der Allmacht Gottes, von Christus und. der Erhörung des Gebets durch Gott und freute sich darüber, daß Freitag ihm aufmerksam zuhörte.

Drei Jahre gingen ungestört dahin. Immer froher wurde Robinson über den Umgang mit dem prächtigen Gefährten, und er hätte sich in seiner Einsamkeit keinen besseren Begleiter wünschen können, so aufgeschlossen und verständnisvoll, gelehrig und strebsam war Freitag. Doch wenn Robinson ihm von seiner europäischen Heimat, von den riesigen Städten und den hohen Häusern, den Straßen und den mächtigen Brücken erzählte, dann schüttelte Freitag ungläubig den Kopf. Solche Dinge gingen über seine Fassungskraft hinaus.

Immer wieder erwog Robinson den Plan, in die Welt zurückzukehren. Von dem hohen Hügel schaute er einmal mit Freitag übers Meer, und bei der klaren Sicht zeichnete sich am fernen Horizont deutlich das Festland ab. »Wie herrlich schön!« rief Freitag und tanzte vor Freude. »Dort sehe ich meine Heimat, mein Vaterland!«

Seine Augen funkelten vor Begierde, und offenbar wäre er in diesem Augenblick lieber gern zu seinen Brüdern zurückgekehrt. Robinson sah diesen Gefühlsausbruch nur ungern, denn es gab keinen Zweifel: alles, was er ihn bisher gelehrt hatte, würde Freitag sicherlich in der heimatlichen Umgebung sogleich wieder vergessen.

»Möchtest du wirklich fort von hier?« fragte Robinson ihn unvermittelt. »Willst du wieder bei deinem Volk sein?«

Freitag bejahte lebhaft. Doch als Robinson weiterforschte, ob Freitag dann wieder Menschenfleisch essen und seinen früheren Lebenswandel fortsetzen würde, zeigte er sich sehr bekümmert: »Nein«, sagte er. »Freitag will seinen Brüdern zeigen, wie sie gute Menschen werden können. Sie sollen beten lernen, Milch trinken, Tierfleisch und Brot aus Getreide essen, aber nicht das von Menschen.«

»Hättest du also Lust, zu deinen Leuten hinüberzugehen?«

»Natürlich«, lächelte Freitag. »Aber leider kann ich ja nicht so weit schwimmen.«

»Ich werde dir ein Boot machen.«

»Gut, dann kehren wir heim, du und ich.«

»Mich werden sie auffressen.«

»Ich werde dafür sorgen, daß das nicht geschieht. Sie werden dich gern aufnehmen, wenn sie hören, wie du mich aus der Gewalt der Feinde befreit und mir das Leben gerettet hast. Das wird genügen, daß sie dich schätzen.«

Von nun an war Robinson von dem Wunsch erfüllt, endlich zu weißen Menschen zu kommen, zu denen er gehörte.

Er zeigte Freitag den Baumstamm, an dem er selbst seit Jahren gearbeitet hatte. Freitag blickte auf den Stamm. Noch nicht der dritte Teil war ausgehöhlt. Als Freitag hörte, wieviel Zeit Robinson darauf verwendet hatte, sagte er lächelnd: »Diese Arbeit wäre nicht nötig gewesen. Man kann einen solchen Stamm viel leichter und in kürzerer Zeit mit Feuer aushöhlen!«

Diese Worte machten auf Robinson einen tiefen Eindruck. In Gedanken sah er schon den Kahn vollendet, sah sich das Meer überqueren und nach glücklicher Fahrt an der Küste Europas landen.

Gleich am folgenden Tag wollte er nach Freitags Anweisungen an die Arbeit gehen.

Doch gerade jetzt setzte die Regenperiode ein, die ungefähr zwei Monate dauerte. In dieser Zeit war es ganz umnöglich, Arbeiten im Freien vorzunehmen. Robinson wurde die Zeit nicht lang, weil er nun einen Gefährten, einen Freund besaß, mit dem er vertraut sprechen konnte. Früher waren die Abende, die er in der Dunkelheit, allein, ohne Beschäftigung und oft sogar frierend hatte verbringen müssen, unendlich traurig gewesen. Nun saß er mit Freitag im Schein der Lampe am wärmenden Feuer, plauderte bei der Arbeit und verspürte keine Langeweile, die oft so bedrückend gewesen war. Beide ergänzten sich wunderbar, denn er war nicht nur der Lehrer des Wilden, sondern er konnte von Freitag auch mancherlei lernen, womit die Eingeborenen ihr Dasein erleichtern. So besaß Freitag große Fertigkeit im Flechten von Matten aus Baumbast. Sie waren so fein und so dicht, daß man sie gut als Kleidungsstücke verwenden konnte. Eifrig ließRobinson sich unterweisen, und beide fertigten eine größere Menge, die für zwei Anzüge reichte. Robinson hatte das Gefühl wunderbarer Erleichterung, als er endlich die steifen, ungegerbten Felle ablegte, die ihm als Kleidung dienten.

Auch die Kunst, Fischnetze herzustellen, brachte Freitag seinem weißen Herrn bei. Aus Kokosfasern drehte er Zwirne und Stricke, die viel fester waren als diejenigen, die Robinson bisher zustande gebracht hatte. Gemeinsam knüpften sie Netze daraus, und diese Arbeit half ihnen in angenehmster Weise, die Abende zu verkürzen, während draußen vor der Höhle der Wintersturm tobte.

Immer wieder fragte Freitag nach der Lehre des Christentums, und Robinson wurde nicht müde, ihn in der Religion zu unterrichten. So verstrich die Regenzeit, und mit dem Nachlassen der schweren Stürme verzogen sich auch die dunklen Regenwolken, die so lange über ihnen gestanden hatten. Mit frischem Mut und neuer Kraft gingen die beiden Männer nun wieder an die Arbeit, die die Regenzeit unterbrochen hatte.