19
An diesem Abend besuchte Waikar Re Kratt den Drachenmeister und mich in meiner Stallbox.
Er tauchte unangemeldet auf, flankiert von seiner Leibgarde, deren verschlungene Gesichtsnarben ebenso barbarisch und angsteinflößend wirkten wie die der beiden Cafar Wachen, die auf der Schwelle meiner Stallbox standen. Vor der Hütte der Schüler las der Drachenjünger wie jeden Abend weiter aus seiner Tempelrolle, und seine von der Clackron-Maske verstärkte Stimme dröhnte über den ganzen Hof. Er stockte keine Sekunde bei Kratts Erscheinen.
Der Drachenmeister nahm Haltung an, als Kratt meinen Stall betrat. Ich atmete zischend ein und verschluckte mich an dem Fleischstück, das ich gerade aß. Hustend und keuchend erhob ich mich aus der Hocke, ließ meine kleine Zinndose auf dem Boden stehen. Ich trat mehrere Schritte in den Stall zurück, während mein Puls raste.
Kratt blieb vor dem Drachenmeister stehen. Sein wundervoller indigoblauer Umhang legte sich in schwingenden Falten um seinen Körper. In einer Faust hielt er eine Schriftrolle.
Kratt betrachtete den Drachenmeister eine Weile, als hätte er eine besonders komplizierte Keramikstatue vor sich, die er vollkommen verabscheute. Ein süßlicher, würgender Ambergeruch erfüllte die Luft.
»Sie soll in die Arena«, sagte er schließlich. Seine Stimme klang leise und boshaft.
Verwirrung zeichnete sich auf den Zügen des Drachenmeisters ab. »Das weiß ich.«
»Heute hat der Ashgon die Liste veröffentlicht. Ihr Name befindet sich darauf.«
Der Ashgon: Das nominelle Oberhaupt des malacaritischen Zweigs des Ranon ki Cinai und der Heilige Berater des Imperators.
Jedes Jahr führte die Liste des Ashgon auf, welche Schüler von welcher Brutstätte den Shinchiwouk durchführen sollten. Sie hielt auch die Häufigkeit fest, mit der jeder Schüler die Arena betreten musste, und auch wann welcher Brut-Bulle sich dort zeigen musste, war in dem Dokument festgehalten. Eierkopf hatte uns ausführlich über diese Liste informiert und betont, dass die Namen, die der Drachenmeister einer Brutstätte dem Ashgon zuvor präsentierte, dem Heiligen Berater des Imperators bei der Entscheidung half, wen er in diese heilige Verlautbarung einschließen sollte.
Die Liste, die tausendfach gedruckt im ganzen Land verteilt wurde, half den Zuschauern, ihre Wetten abzuschließen, den Vorstehern der Brutstätten, Allianzen zu schließen und sowohl ihren Wohlstand als auch ihr Ansehen während der acht Tage, welche die Arena dauerte, zu mehren.
Jetzt jedoch war der Drachenmeister sichtlich verwirrt, was ihn wütend machte. »Also steht ihr Name auf der Liste, trotz meiner Warnung. Damit hatten wir gerechnet.«
»Sicher, aber der Ashgon hat der Liste Zähne gegeben, Komikon. Sieh selbst.« Kratt reichte dem Drachenmeister die Liste.
Der Komikon blickte von dem zusammengerollten Pergament zu Kratt und wieder auf die Schriftrolle. Es war einem Fleckbauch verboten, die Künste der Zeichen zu kennen, selbst einem halbblütigen Schecken wie dem Komikon.
Er spitzte die Lippen, traf eine Entscheidung und nahm die Rolle. Dann trat er ein paar Schritte aus meinem Stall hinaus, damit das Licht des aufgehenden Mondes ihm beim Lesen half. Ich hatte ihn unterschätzt, sowohl was seine Fähigkeiten als auch was seinen Mut anging.
»Ganz unten«, meinte Kratt. »Neben dem Siegel des Ashgon.«
Der Drachenmeister rollte das Pergament ganz auf und las mit finsterer Miene.
Kurz darauf blickte er hoch. »Hier steht, dass eine Brutstätte für acht Jahre das Recht verwirkt, beim Abbasin Shinchiwouk zu erscheinen, wenn ein Schüler, der auf der Liste steht, nicht auftaucht.«
»Ja, Komikon«, erwiderte Kratt gedehnt. »Genau das steht da.«
»Seit wann ist das Gesetz?«
»Seit der Ranreeb den Ashgon darüber informiert hat, dass ich von einer gewissen versteckten Tempelfeste im Dschungel weiß, denke ich. Seit ich zwei der Frauen entführt habe, die an diesem geheimen Ort gefangen gehalten wurden.«
Der Drachenmeister schüttelte die Liste ärgerlich, und über seinem linken Auge zuckte ein Muskel. »Schüler werden krank, verletzen sich. Ein Fünftel derer auf dieser Liste werden nicht in der Arena erscheinen, entweder weil sie erkrankt oder weggelaufen sind! So war es immer.«
»Und man hat für sie Ersatz gefunden.«
Der Drachenmeister starrte Kratt an, bevor sein Blick sich auf mich richtete.
»Für sie wird man keinen Ersatz finden können, heho! Denn der Ranreeb weiß, wie sie aussieht, und ihre Augen künden von jahrelanger Erfahrung mit dem Gift. Keine Rishi hat solche Augen!«
»Kluger Mann«, murmelte Kratt bissig.
»Der Ranreeb erwartet, dass sein Meuchelmörder Erfolg hat. Er will nicht nur, dass die Dirwalan Babu hier ermordet wird, in dieser Domäne, sondern er hat vor, Euch dabei auch noch zu ruinieren.«
»Weil ich der Ausgeburt erlaubt habe, meine Stallungen zu betreten, ja.« Kratt sprach noch leiser, und sein Blick heftete sich auf mich. Mir blieb fast das Herz stehen. »Weil ich von dem Ritus weiß und erraten habe, welches Wissen ich von den Frauen erlangen kann, die diesen Ritus durchführen.«
»Ihr werdet folglich noch mehr Wachen hier stationieren.« Die Worte des Drachenmeisters waren keine Aufforderung, sondern eine schichte Feststellung.
»Ja.« Kratts blaue Augen schienen mich immer noch zu durchbohren. Schweiß tropfte aus meinen Achselhöhlen. »Mehr Wachen, und das nicht nur, um sie zu schützen, sondern um jeden einzelnen Schüler innerhalb dieser Mauen zu beschützen. Würden wir acht Jahre die Arena nicht betreten können, wäre ich ruiniert, Komikon. Keine Brutstätte kann das überstehen.«
Der Drachenmeister fluchte und spie aus.
»Aber ich muss natürlich keine Angst haben, dass sie hier in meinen Stallungen stirbt, nicht wahr?«, murmelte Kratt. Sein prüfender Blick glitt von mir zum Drachenmeister. Und in seiner Stimme schwang blanker Stahl mit. »Weil sie die Dirwalan Babu ist. Das ist doch so, Komikon? Die Tochter des Himmelswächters?«
»Ihr wisst es selbst«, gab der Drachenmeister barsch zurück. »Ihr habt selbst gesehen, wie der Vogel zweimal zu ihrer Verteidigung aufgetaucht ist.«
»Aber er hat sie nicht aus dieser Festung gerettet.«
»In ihrem Zustand konnte sie ihn nicht rufen! Es gibt Grenzen, Beschränkungen; auch die außerweltliche Macht des Himmlischen Reiches unterliegt gewissen Gesetzen.«
»Tut sie das, ja?«
»Glaubt Ihr, das Himmlische Reich wäre eine unerschöpfliche Erzader, die jeder nach Belieben ausbeuten könnte?«
»Vielleicht«, konterte Kratt gedehnt und sah mich wieder an, »ist dieser Vogel aber auch gar kein Himmelswächter. Möglicherweise ist diese Ausgeburt nur ein getarnter Dämon. Wie dieser fromme Drachenjünger da draußen unaufhörlich andeutet.«
Die Stimme des fraglichen Drachenjüngers dröhnte über den Hof wie das ferne Donnern eines Gewitters, das sich rasch näherte.
»Vielleicht haben gewisse Ratgeber in der Cafar Re ja recht: Diese Frau wurde nicht vom Himmel gesandt, sondern ist eine Ausgeburt der Kwano.«
»Sie ist die Dirwalan Babu, sage ich Euch«, knurrte der Drachenmeister.
»Warum versteht sie dann die Drachensprache nicht besser als jede gewöhnliche Frau, hm?« Kratts Worte klangen wie Stein. »Warum gibt Caranku Bri von Lirehs Yenvia, wenn auch zögernd, zu, dass sie gewisse Halluzinationen durch die Drachenzunge erlebt hat, als sie in der Festung des Ranreeb eingekerkert war?«
»Jotan Bri!«, stieß ich hervor. Ich hatte mich die ganze Zeit gefragt, was aus Misutvia geworden war, ohne eine Möglichkeit zu sehen, eine Antwort darauf zu erhalten. Jetzt, da ich die Antwort erfuhr, gefiel sie mir überhaupt nicht.
Die Perle am Ende des Kinnbartes des Drachenmeisters zitterte wie eine ergrimmte Hornisse. »Ich habe selbst gehört, wie viele Jungen Unsinn geplappert haben, wenn sie in den Klauen des Gifts waren. Es hat nichts zu bedeuten.«
»Versteht deine Dirwalan Babu die Drachensprache etwa besser als sie? Sag mir, Komikon: Wie oft hat sie seit ihrer Rückkehr bei deiner Drachenkuh gelegen? Wie viel hast du von dieser Ausgeburt über das Schlüpfen von Drachenbullen erfahren?«
»Ich habe sie den Ritus nicht vollziehen lassen; sie muss ihre Kraft für ihren Auftritt in der Arena aufsparen! Nach dem Abbasin Shinchiwouk kann sie Tag und Nacht bei der Drachenkuh liegen, bis wir das Rätsel der Drachen gelöst haben!«
»Verstehe.« In Kratts Stimme und seinen geröteten Wangen zeigte sich seine kaum unterdrückte Wut. »Du glaubst also nicht, dass sie die Dirwalan Babu ist, alter Mann, stimmt’s? Denn wenn sie es wäre, würdest du nicht ihren Tod in der Arena fürchten, ganz gleich, wie entkräftet sie wäre!«
»Ich sagte bereits, dass auch die Macht der Außerwelt gewissen Gesetzen gehorchen muss!«
»Gesetzen, die offenbar nur du kennst, wie es scheint.« Kratt deutete mit einem Finger auf mich. »Bring sie noch heute Nacht mit deiner Drachenkuh zusammen. Ich werde dich verstoßen, wenn sie stirbt, ohne mir die Antwort auf das Rätsel zu geben. Der Tempel wird deinen Kopf auf eine Pike spießen!«
»Aber …«
»Tu es«, befahl Kratt in einem Ton, der keinerlei Widerspruch duldete. »Ich kann meine Beziehung zum Ranreeb noch retten. Ich bin nicht so weit gegangen, dass ich seinen Zorn nicht beschwichtigen könnte, indem ich ihm einen Sündenbock für meinen kurzzeitigen Wahnsinn liefere, diese Drachenhure in meinen Stallungen geduldet zu haben.«
»Ich lasse mich von Euch nicht opfern!«, schrie der Drachenmeister. »Wir werden eine Antwort bekommen, das sage ich Euch. Sie ist die Dirwalan Babu; Ihr habt den Himmelswächter selbst gesehen!«
Kratt hob die Hand, gebot dem Drachenmeister zu schweigen. »Sieh zu, dass du die Geheimnisse der Drachen in Erfahrung bringst, alter Mann.«
Sein Umhang wirbelte und bauschte sich hinter ihm in der Luft, als er wütend aus der Stallbox stürmte.
Mehrere Herzschläge lang starrten der Drachenmeister und ich uns an; wir atmeten schwer, flach. Ich zuckte zusammen, als er unsere Erstarrung brach und auf mich zutrat.
Seine Finger bohrten sich schmerzhaft in meinen Oberarm, seine rissigen Nägel gruben sich in meine Haut.
»Bleib hier!«, zischte er mich an. »Ich komme um Mitternacht zurück.«
»Ihr bringt mich zu Eurem Reittier, wie Kratt es befohlen hat?« Die kaum verhüllte Gier in meiner Stimme widerte mich an. Und ich zuckte zusammen, als das Bild von Ingalis vor mir auftauchte.
»Hure!«, spie der Drachenmeister aus, ließ mich los, drehte sich auf dem Absatz herum und verließ meine Box.
Ich hockte mich hin und schlang die Arme um meinen Körper, um mein heftiges Zittern zu unterbinden.
Mich erschütterte nicht nur die Erwartung, erneut die Gnade der Drachengesänge erfahren zu können. Sondern es war die geballte Gewalt der Mächte, die sich gegen mich verschworen, die sich zu einer riesigen, schäumenden Woge aufzutürmen schienen, die mich mit Furcht erfüllte.
Die Wut des Tempels. Die Abneigung und die Feindseligkeit der anderen Schüler. Kratts rücksichtslose Entschlossenheit, das Geheimnis der Drachen zu lüften. Die Pläne des Drachenmeisters, die Djimbi zu befreien. Das Abbasin Shinchiwouk, das immer näher rückte. Mein immer noch geschwächter Körper. Meine hartnäckige Entschlossenheit, niemals einen anderen Schüler niederzuschlagen, um mich selbst zu retten.
Und dann schien ein großes Schiff, das ein Drache als Galionsfigur zierte, auf dieser Woge zu reiten, als ich begriff, dass ich meine Rache an Kratt vollziehen konnte. Ich vermochte ihn zu ruinieren, wie ich es einst geschworen hatte. Trotz der ungeheuren Macht der Kräfte, die sich gegen mich sammelten und wie eine Gewitterwolke über mir schwebten, sah ich eine Möglichkeit, wie ich meine lange gehegten Pläne umsetzen konnte. Und zwar sofort.
Kratt selbst hatte mir unbeabsichtigt verraten, wie ich ihn vernichten konnte.
Ich musste einfach nur verschwinden.
Das neue Gesetz, das der Ashgon in die Liste eingeflochten hatte, gab mir das Werkzeug an die Hand, mit dem ich meinen Racheschwur gegen Kratt erfüllen konnte. Würden wir acht Jahre die Arena nicht betreten können, wäre ich ruiniert, Komikon. Keine Brutstätte kann das überstehen.
Wenn ich nicht in der Arena auftauchte, wenn ich an meinen Wachen vorbeikam und für immer aus der Domäne der Stallungen floh, würde der Ashgon Kratt acht Jahre lang die Erlaubnis verweigern, die Arena zu betreten. Wenn in Brutstätte Re nur unbefruchtete Eier gelegt würden, würden Kratts Drachenbestände sehr rasch schrumpfen. Er wäre finanziell ruiniert. Seine politischen Allianzen würden zerbröckeln.
Warum also durchströmte mich kein Triumphgefühl? Warum zermarterte ich mir das Hirn, wie ich in diesen Stallungen bleiben konnte, statt meine Flucht zu planen? War ich wahrhaftig so sehr dem Gift verfallen? War es nur die Sehnsucht nach der göttlichen Vereinigung mit einem Drachen, die mich zum Bleiben drängte?
Nein.
Ich konnte es damals nicht in Worte fassen, warum ich bleiben wollte, aber heute vermag ich es.
Heimat.
Ich wollte ein Zuhause.
Ich war eine Waise, eine Ausgestoßene, eine Gejagte, und sehnte mich nach einem Gefühl der Zugehörigkeit. Ich gierte nach Liebe und Akzeptanz. Das neunjährige Mädchen, das zugesehen hatte, wie ihr Vater ermordet wurde, das aus seinem Clan verstoßen worden war und das von seiner Mutter wegen einer wahnsinnigen Besessenheit verlassen worden war, weinte jetzt vor Sehnsucht nach einem gütigen Herzen.
Während also die Dunkelheit sich herabsenkte, die Sterne am Himmel funkelten, so hart und kalt wie Quartz, und der Drachenjünger die Stallungen verließ, um am nächsten Morgen zurückzukehren, zerbrach ich mir den Kopf über eine Möglichkeit, wie ich in den Stallungen bleiben, wie ich erneut die – wenn auch mürrische – Anerkennung meiner Altersgenossen erringen konnte, wie ich mir einen Platz sichern konnte, den ich Zuhause nennen durfte.
Ich war so versunken in meine verzweifelten Gedanken, dass ich die Musik erst hörte, als sie meinen Verstand wie eine fein gesponnene Wolke aus rauer Seide verdunkelte. Etwas durchströmte mich pulsierend, etwas Grünes, ein raues, fruchtbares Gefühl, das von Blüten kündete, von Säen, Tau und Jugend. Je stärker diese Empfindung wurde, desto mehr veränderte sie sich; ich wurde von Freude erfüllt, von Überlegenheit, schien einer höheren Welt anzugehören. Ich wurde von dieser süßen Melodie verführt, verlockt, von einem Klang, der sowohl anregte als auch tröstete.
Als ich mit verschleiertem Blick auf die Pflastersteine starrte, kribbelte meine Haut unter einer Erinnerung. Das Gefühl war dem gleich, das man hat, wenn das Blut, nachdem man zu lange in einer Haltung sitzen geblieben ist, nach dem Aufstehen schmerzhaft in die betäubten Gliedmaßen zurückströmt.
Djimbi-Gesänge. Ich hörte Djimbi-Gesänge.
In dem Moment fühlte ich einen scharfen Stich in meinem Schoß. Hitze, die sich ausbreitete und verführte. Ein Verlangen, das sich urplötzlich wie ein Lauffeuer ausbreitete.
Drachenjünger Gen beugte sich über mich.
Sofort erlosch die Verzauberung, und ich kehrte mit einem Ruck in die Gegenwart zurück.
Hinter Gen standen meine beiden Cafar Wachen schwankend auf der Schwelle meiner Stallbox und stöhnten, während sie unter ihren Kettenhemden und Lederpanzern Hand an sich legten. Die Augen hatten sie geschlossen, ihre Münder waren schlaff.
Drachenjünger Gen zuckte mit den Schultern. »Der beste Djimbizauber, den ich kenne, was-was? Er wird genügen, wird genügen.«
»Was wollt Ihr hier?«, stieß ich hervor.
Seine Miene verfinsterte sich. »Ich bin gekommen, um dich hier wegzuschaffen. Es gefällt mir nicht, wie die Dinge sich entwickeln, es gefällt mir überhaupt nicht.« Er schlug einen Moskito von meiner Schulter. »Etwas stimmt nicht; ich kann kein klares Bild erkennen.«
»Etwas stimmt nicht?«, krächzte ich. Mein Herz hämmerte so heftig wie bei Kratts plötzlichem Auftauchen.
»Die Weissagungen, Blut-Blut«, erwiderte Drachenjünger Gen. »Ich dachte, dass sie dein Auftreten in der Arena verkündet hätte: Zafinar waskatan, bar i’shem efru ikral mildron safa dir palfrent. Die Dirwalan Babu ist am Tag des Efru-Mildron-Kampfes gegenwärtig, auf dem Feld, das schon bald von Krallen und Blut gezeichnet sein wird. Aber jetzt glaube ich, dass meine Interpretation dieser Worte vielleicht falsch ist.«
Efru Mildron: die von großer Stärke, Intellekt und Bedeutung. Efru Mildron: die Kolossalen. Ich hatte diese Worte schon einmal von Djimbi gehört, während meines Aufenthalts im Konvent von Tieron, als wir Onai unerlaubterweise mit einem vorüberziehenden Stamm gehandelt hatten. Die Fleckbäuche hatten die Worte beleidigend gemeint, sie sowohl auf die altersschwachen Bullen in unserer Pflege gemünzt als auch auf die nicht anwesenden Tempelhüter, die das Leben in Tieron bestimmten.
»Werden in der Prophezeiung die Schüler des Drachenmeisters so genannt?«, erkundigte ich mich, während ich versuchte, seinen Worten zu folgen. »Efru Mildron?«
»Ich hatte angenommen, dass es sich auf die kämpfenden Bullen bezöge.«
»Aber die Bullen kämpfen in der Arena nicht. Jedenfalls nicht gegeneinander.«
»Nein, das tun sie nicht.« Sein Blick verfinsterte sich. »Wie du selbst begreifen kannst, ist meine Interpretation dieses Abschnitts unklar. Deshalb kommst du jetzt mit mir; hier bist du nicht mehr sicher. Der Komikon hat mich darüber informiert, dass Kratt daran zweifelt, dass du die Dirwalan Babu bist, und der Tempel will deinen Tod.«
Ich fühlte, wie sich Schweißperlen auf meiner Oberlippe bildeten.
»Also, Babu, wir verschwinden. Du und dein Himmelswächter werden den Tempel nicht in der Arena aus der Hand des Imperators winden, sondern an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit, an einem Tag, der noch kommen wird.«
Ich schluckte.
»Nein.«
Seine Augen wurden so groß wie Pflaumen. »Was?«
Ich schüttelte den Kopf, weil ich meiner Stimme nicht traute. »Ich bleibe hier.«
Hinter Drachenjünger Gen stieß jemand einen erstickten Schrei aus.
Ich zuckte erschreckt zusammen; der Drachenmeister stand auf der Schwelle meiner Stallbox und schlug klatschend beide Hände auf seinen kahlen Schädel. »Sie ist verrückt geworden! Jetzt ist alles verloren!«
»Was sagst du da, Babu?«, erkundigte sich Drachenjünger Gen ruhig, während sich sein Blick in meinen bohrte.
»Ich will in die Arena gehen.«
»Wieso?«
Ich holte bebend Luft und stieß sie dann mit einer Flut von Worten aus. »Ich will, dass Ihr eine Wette auf die Arena abschließt, eine hohe Wette, eine sehr hohe Wette. Mit Brutstätte Xxamer-Zu. Meine Chancen werden nur sehr gering eingeschätzt werden, dass heißt, die Wetten stehen hoch gegen mich, und wenn ich gegen alle Erwartung überlebe, wird Brut Xxamer-Zu niemals in der Lage sein, seine Schulden zu begleichen. Der Roshu dieses Drachensitzes ist für seine leichtsinnigen Wetten berüchtigt; ich will ihn dazu zwingen, dass er seinen ganzen Besitz gegen mich einsetzt und an mich verliert.«
»Wahnsinn!«, stammelte der Drachenmeister, der vor Wut fast tanzte. »Diese hirnrissige Närrin!«
»Nein«, flüsterte ich und fühlte, wie eine Träne meine Wange hinunterlief. Ich zitterte mittlerweile am ganzen Körper, bekam kaum noch Luft. »Kratt hat Misutvia in seiner Gewalt; wir wissen aus seinem eigenen Mund, dass er sie in Cafar Re festhält. Einer von Euch muss zum Caranku Bri von Lireh eilen, dem Clan der Händlergilde in der Hauptstadt an der Küste. Findet Malabran Bri, und sagt ihm, dass Ihr wisst, wo seine Schwester Jotan zu finden ist. Sagt ihm, dass Ihr ihm diese Information nur geben werdet, wenn er Eure Wette mit Xxamer-Zu als Zeuge unterschreibt.«
Drachenjünger Gen starrte mich an. »Und dann?«
Ich wischte mir mit der Hand über die Augen. »Sobald die Vereinbarung unterschrieben ist, sagt ihm, dass Jotan in Cafar Re festgehalten wird. Aber er muss unangekündigt und mit anderen erscheinen, sonst wird Kratt sie eher töten als freilassen.«
»Falls sie überhaupt noch lebt«, murmelte Gen.
»Sie lebt noch«, widersprach ich überzeugt. »Sein Wunsch, das Geheimnis, wie man Bullen in Gefangenschaft züchten kann, zu lüften, ist größer als sein Vergnügen an irgendwelchen Spielen mit Misutvia. Sie lebt, und es geht ihr gut.«
Drachenjünger Gen dachte über meine Worte nach, verzog das Gesicht und nickte.
»Also ist es wahr?«, fragte ich ihn. Meine Stimme bebte. »Jede Frau, die bei einem Drachen liegt, kann die Drachengesänge hören?«
»Ja, schon, aber nur die Dirwalan Babu vermag das Hohelied der Drachen zu verstehen!«, warf der Drachenmeister ein und verdrehte die Augen. »Das sagt die Prophezeiung.«
Drachenjünger Gen nickte erneut, aber er sah mich nachdenklich an.
»Nashe. Freiheit. Befreiung aus der Sklaverei. Nur die Dirwalan Babu wird das Rätsel lösen können, das dazu führt«, murmelte er, richtete sich auf und sah mich finster an. »Du musst in dem Moment aus der Arena verschwinden, in dem du den Shinchiwouk vollzogen hast.«
Ich nickte, und mir klapperten die Zähne, als mich die Erkenntnis schüttelte, dass er meinem verzweifelten Plan zustimmte.
»Könnt Ihr das arrangieren?«, fragte ich kläglich.
Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Vielleicht. Du gehst ein gewaltiges Risiko ein, Babu. Ein ungeheueres Risiko.«
»Und wofür?«, zischte der Drachenmeister. Er stürmte auf mich zu, als wollte er mich vor Wut zu Boden schleudern. »Sieh dich doch an, Mädchen! Du bist noch geschwächt von deiner Einkerkerung; du hast nicht einmal die Hälfte deiner früheren Kraft und Geschicklichkeit erlangt! Du hast keine Verbündeten unter den Schülern; der Tempel hat sie alle gegen dich aufgehetzt! Und bilde dir ja nichts ein: Dono wird neben dir in die Arena treten! Seine einzige Absicht ist es, dich zu töten!«
»Das sind schlechte Aussichten, Babu«, sagte Drachenjünger Gen gewichtig. »Dein Himmelswächter wird sich Mühe geben müssen, dir rechtzeitig zu Hilfe zu eilen.«
Ich erschauerte, fühlte eine zweite Träne über meine Wange laufen.
»›Fortschritte‹«, flüsterte ich, »›werden von jenen gemacht, die sich etwas zutrauen, auch wenn ihre Zuversicht ein wenig unvernünftig sein mag.‹«
Der Satz war berühmt und wurde Zarq Car Mano zugeschrieben, meinem Namensvetter.
Der Drachenmeister riss sich vor Frustration fast seinen Ziegenbart vom Kinn. »Warum sollten wir dieses verrückte Risiko eingehen? Warum?«
»Ich will meine eigene Brutstätte.«
Der Drachenmeister schnaubte und warf die Hände in die Höhe. »Sie ist verrückt geworden, vollkommen verrückt!«
Drachenjünger Gen grollte tief in seiner Kehle, wie eine Katze. »Selbst wenn ich diese Wette platzieren könnte, selbst wenn Roshu Xxamer-Zu seinen Besitz verliert, schreiben die Statuten dennoch vor, dass nur ein vom Tempel akzeptierter Krieger oder Kriegerfürst eine Brutstätte besitzen darf. Falls dir das entgangen sein sollte, Babu, ich bin keins von beidem. Der Ranreeb wird mir die Brutstätte noch in dem Moment aus den Händen reißen, in dem ich sie gewinne.«
»Nein«, flüsterte ich, »das wird er nicht.«
»Er wird das ganz bestimmt!«, kreischte der Drachenmeister. »Du hirnrissige Närrin, nach all meinen Plänen endet es jetzt an diesem Punkt, in dieser Idiotie …«
»Lass das Kind sprechen, Mann«, brummte Drachenjünger Gen. »Es liegt Überlegung hinter ihrem Risiko, heho!«
»Du bestärkst diesen Wahnsinn auch noch? Du lässt zu, dass sie diesen nutzlosen Selbstmord begeht?«
»Ich besitze Glauben!« Unter dem Gebrüll des Drachenjüngers löste sich eine Staubschicht von einem der mit Spinnweben überzogenen Dachbalken des Stalls. »Ich sehe in diesem Mädchen einen Samen, der tief in der Erde ruht; ich warte darauf, dass er sich den Weg bahnt. Vergiss niemals, dass der Glaube die feine Kette ist, welche uns an den Beschwingten Unendlichen bindet; ich werde kein einziges Glied dieser Kette versehren, bis ich sicher bin, dass ich eine bessere an seiner Stelle schmieden kann, Blut-Blut!«
Die beiden Männer beäugten sich. Die Leidenschaft vereinte und trennte sie gleichzeitig.
Schließlich wandte sich Drachenjünger Gen wieder an mich.
»Sprich, Babu«, sagte er. »Sprich.«
»Wir müssen Folgendes tun«, begann ich bedächtig. Ich konnte mein Erschauern nicht unterdrücken; mir war kalt, so kalt. »Wir suchen uns einen Adligen einer Brutstätte, der für uns Brut Xxamer-Zu lenkt. Einen, der über alle Zweifel des Tempels erhaben ist, einen, der bereits vollkommen geeignet ist, eine Brutstätte erben zu können. Einer, dessen Stolz schwer gekränkt wurde, weil er selbst keine Brutstätte besitzt, obwohl er eigentlich eine besitzen sollte; einen, der sich nicht dagegen sperren wird, eine Brutstätte zu lenken, deren eigentlicher Besitzer Ihr seid.«
Der Drachenmeister zuckte wie eine Puppe, die von einem Hund im Maul hin und her geschüttelt wird. »Und wo im Namen des Reinen Einen sollen wir einen Bayen finden, der diese Bedingungen erfüllt, heho? Wo?«
Ich holte tief Luft.
»Hier, in Brutstätte Re«, erwiderte ich. »In Person von Kratts Halbbruder, Rutkar Re Ghepp.«